Benutzer:Wiesenthal/Germanische Schicksalsvorstellungen

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Die Nornen. Unbekannter Künstler, 1832.

Über die germanischen Schicksalsvorstellungen ist nur wenig bekannt. Fast alle Quellen, die darüber Auskunft geben, stammen aus christlicher Zeit. In ihnen ist christliches, antikes und germanisches Gedankengut auf eine Weise miteinander vermischt, dass man die jeweiligen Anteile nicht mehr voneinander unterscheiden kann.

Quellen

Vorgeschichtliche Zeit und Antike

 
Bild von Emil Doepler, um 1905.

Die antiken Autoren berichten nichts über das Schicksalsverständnis der Germanen. Sie belegen aber, wie sehr die Germanen an Vorzeichen und Lose glaubten. Nach Meinung des römischen Schriftsteller Tacitus sogar mehr als alle anderen Völker.[1] Auf diese Weise versuchten die Germanen herauszufinden, ob ihnen für eine bestimmte Angelegenheit ein günstiges Geschick beschieden sei oder nicht. Vorzeichen konnten zum Beispiel darüber entscheiden, ob die Germanen eine Schlacht schlugen, wie Caesar im 1. Jahrhundert vor Christus bezeugt:

„Quod apud Germanos ea consuetudo esset,
ut matres familiae eorum sortibus vaticinationibusque declararent,
utrum proelium committi ex usu esset necne;
eas ita dicere: non esse fas Germanos superare,
si ante novam lunam proelio contendissent.“
– Caesar, Der Gallische Krieg, I 50
„Bei den Germanen herrsche der Brauch,
dass ihre Ehefrauen durch Losorakel klärten,
ob es ratsam sei, eine Schlacht zu liefern oder nicht;
diese hätten behauptet, das Schicksal versage den Germanen den Sieg,
wenn sie sich vor Neumond auf einen Kampf einließen.“
Übersetzung von Otto Schönberger

Über die Vorstellung der Germanen, welche Macht oder welcher Wille sich in diesen Zeichen äußerte, ist nichts überliefert. Man kann darin einen Beleg von Schicksalsvorstellungen sehen, wenn man davon ausgeht, dass die Germanen die Zeichen befragten, weil sie an ein im voraus bestimmtes Schicksal glaubten.[2] Doch ist das nicht zwingend, weil man darin auch den Versuch sehen kann, den Willen der Götter oder eines Gottes zu ermitteln.[3] Es ist dabei aber auch fraglich, ob die Germanen in diesen Angelegenheiten überhaupt eine scharfe Trennung vornahmen

Die einzigen Quellen, die ansonsten noch Auskunft über die heidnisch-germanischen Schicksalvorstellungen in vorgeschichtlicher Zeit geben könnten, sind einige germanische Wörter mit der Bedeutung „Schicksal“, die die Sprachwissenschaft erschlossen hat. Durch sie versuchte man mit Hilfe der Etymologie zu germanischen Schicksalskonzepten vorzudringen, doch erwiesen sich die darauf aufgetürmten Ideengebäude als haltlos. Aus diesen Begriffen kann man nicht mehr herauslesen, als dass die Germanen eine Vielzahl an Schicksalswörtern besaßen, deren Nebenbedeutungen erkennen lassen, dass man unter Schicksal offenbar ein einschneidendes, (meist) negatives Ereignis verstand. Zu Bedeutung und Wortgeschichte dieser Schicksalsbegriffe → siehe Abschnitt: Etymologie germanischer Schicksalsbegriffe.

Heidenmission

Die ältesten Auseinandersetzungen mit germanischen Schicksalsvorstellungen stammen von christlichen Missionaren des Frühmittelalters, die noch gegen lebendiges germanisches Heidentum kämpften. Ihre Darstellungen sind naturgemäß nicht daran interessiert, heidnische Vorstellungen für die Nachwelt zu bewahren, sondern sie sollten die Überlegenheit des Christentums verdeutlichen.

Im 8. Jahrhundert verglich beispielsweise der angelsächsische Mönch Beda Venerabilis im Rahmen vom Wissen über das Jenseits das Leben eines Menschen mit der Dauer, die ein Spatz an einem kalten Wintertag braucht, um durch einen beheizten Saal zu fliegen.[4] Mit Hilfe dieses Vergleichs stellte er im weiteren Zusammenhang die heidnische Auffassung über die Zeit nach dem Tod in ein kaltes, trostloses Licht, während der Christ auf die Heilsgewissheit Gottes vertrauen könne.

Eine weitere Berührungsfläche der Christen mit germanischen Schicksalsvorstellungen zeigt sich durch die Thematisierung des Schicksals in christlichen Kontexten, wofür sie den heidnischen Schicksalswortschatz übernahmen. Es lag daher für die ältere Forschung die Annahme nahe, dass auf diese Weise auch heidnisches Gedankengut übernommen wurde. Insbesondere dort, wo die alten Schicksalswörter häufig gebraucht wurden, wie zum Beispiel in der altsächsischen Evangelienharmonie Heliand oder in der Prädestinationslehre des sächsischen Mönchs Gottschalk von Orbais im 9. Jahrhundert. Doch nach eingehender Untersuchung der Kontexte und Intentionen der Verfasser stellte sich genau das Gegenteil heraus.

Die heidnisch-germanische Schicksalslehre war offenbar nicht so ausgeformt gewesen, dass sie als ernsthafte Gefahr des christlichen Gottesbilds eingestuft wurde. Auf diese Weise konnten die heidnisch-germanischen Schicksalsbegriffe wie einige andere sakrale Wörter der Germanen wie „Gott“ oder „weihen“ übernommn werden, um den Heiden den Übergang vom Heiden- zum Christentum zu erleichtern.[5] Bei der Übernahme der alten Schicksalswörter entleerten die Christen die Begriffe jedoch ihres heidnischen Inhalts und füllten sie mit christlichen Ideen neu auf, im Falle des angelsächsischen Schicksalsbegriffs wyrd sogar mit gelehrten Vorstellungen der heidnisch-antiken Fortuna. Der Heliand vermittelt dementsprechend kein heidnisches Gedankengut, Schicksal hat darin keinen religiösen Eigenwert. Gott ersetzt im Heliand keine heidnische Schicksalsmacht und stellt sich damit nicht auf ihre Stufe. Schicksal wird nicht als die Wirkebene der Macht Gottes beschrieben, sondern es ist nur eine Auswirkung für den Einzelfall. Es bleibt im Heliand stets in der natürlichen Ordnung der Dinge und ist somit begrenzt, während Gott dagegen übernatürlich und unbegrenzt ist. Deutlich wird das zum Beispiel in der Totenerweckung des Jünglings zu Naïn.[6] Die Lehre Gottschalks hingegen beruhte lediglich auf einer konsequenten Weiterentwicklung der augustinischen Prädestinationslehre.[7]

Für die Heiden könnte der Christengott sogar genau deswegen attraktiv gewesen sein, eben weil er über dem Schicksal stand.[8] Er hatte die metudaes maecti, die „Schicksalsmacht“, die Macht das Schicksal zuzuweisen, wie es ein altenglischer Hymnus im 7. Jahrhundert ausdrückt. Als Herr über das Schicksal hatte er eine Macht in seiner Gewalt, gegen die sich nach heidnischer Auffassung (siehe ...) nichts ausrichten ließ.

Heldendichtung

Tiefere Einblicke in die Schicksalsvorstellungen westgermanischer Völker erlaubt erst die frühmittelalterliche Heldendichtung, zum Beispiel im angelsächsischen Epos Beowulf (8. Jahrhundert) oder im althochdeutschen Hildebrandlied (9. Jahrhundert). Obwohl diese Sagenstoffe sich bereits in heidnischer Zeit formten, haben sie zur Zeit ihrer Niederschrift schon christliche und antike Vorstellungen aufgenommen und verarbeitet. Zwar werden auch hier die heidnischen Schicksalsbegriffe verwendet, doch die einzelnen Kontexte, in denen das Schicksal eine Rolle spielt, können auch aus antiken oder christlichen Traditionen stammen. Da man nicht weiß, welche Schicksalskonzepte die Germanen hatten, lässt sich deswegen nicht mehr feststellen, welche Schicksalsvorstellungen in der Heldendichtung auf heidnisch-germanischen Vorstellungen beruhen und welche nicht. Dass dem Helden beispielsweise ein Schicksal geweissagt ist, das sich erfüllt, ganz gleich was immer dagegen unternommen wird, lässt sich christlich durch göttliche Vorsehung erklären oder antik aus der Aeneas-Tradition.[9] Niemand kommt aber deswegen auf den Gedanken, zu sagen, dass in der Heldendichtung gar keine heidnischen Schicksalsvorstellungen mehr enthalten sind.

Das Schicksal in der Heldendichtung entwickelt sich aus dem Gegenspiel der äußeren Anlässe und der inneren Natur des Helden. Es hat dadurch zwei Gesichter, von denen je nach Gewichtung das eine oder das andere mehr hervortritt. Zum einen kann der Schicksalsbegriff bei unglaublichen Glücksfällen oder erschütternden Fährnissen transzendieren, so dass das Schicksal, wie der Eingriff einer höheren Macht erscheint, womit das Schicksal personifiziert wird. Zum anderen kann der Schicksalbegriff auch immanenter werden, so dass das Schicksal aus der persönlichen Eigenart einer Person oder ihrer Sippe entsteht, zum Beispiel durch ein ihr angeborenes Glück oder Heil. Schicksal folgt somit aus den starken Banden der Sippengemeinschaft, da sie als Schicksalsgemeinschaft in Sieg und Niederlage, in Glück und Unglück unbedingte Solidarität fordert. Das heißt, was einem Sippenmitglied geschieht, ist allen anderen geschehen. Kollideren dabei Sippengefühl und persönliches Ehrgefühl eines Helden miteinander, kommt es zu einem tragischen Konflikt, der ein furchtbares und nicht mehr abwendbares Schicksal in Gang setzt.[10] Motor der Schicksalsverwirklichung sind somit in der Heldendichtung Leid und Ehre.[11] Es ist dabei ein wesentliches Merkmal, dass ein Angriff auf die Ehre als schicksalshafter Eingriff aufgefasst wird, gegen den es kein Ausweichen gibt.[12]

Ein Beispiel hierfür findet sich im Hildebrandlied. Hildebrand trifft darin auf seinen Sohn Hadubrand, der den Vater seit vielen Jahren nicht mehr gesehen hat und überzeugt von dessen Tod ist. Hildebrand erkennt seinen Sohn und will ihn von einem Zweikampf mit ihm abhalten, doch Hadubrand will nicht glauben, seinem Vater gegenüberzustehen und verhöhnt den Vater. Der Angriff auf die Ehre des Vaters macht den Kampf zwischen beiden unvermeidlich. Hildebrand stellt dazu fest:

„Welaga nu, waltant got, quad Hiltibrant, – wewurt skihit!
ih wallota sumaro enti wintro – sehstic ur lante,
dar man mih eo scerita – in folc sceotantero.
so man mir at burc ęnigeru – banun ni gifasta.
nu scal mih suasat chind – suertu hauwan,
breton mit sinu billiu, – eddo ih imo ti banin werdan.“
– Hildebrandlied
„Wohlan, nun walte Gott, sagte Hildebrand, Unheil [wörtlich: Weh-Schicksal] geschieht:
Ich wanderte sechzig Sommer und Winter außer Landes;
wo man mich immer in das Heer der Kämpfer einordnete.
Wenn man mir an jedweder Burg den Tod nicht beibringen konnte:
Nun soll mich das eigene Kind mit dem Schwerte schlagen,
niederschmettern mit der Klinge, oder aber ich werde ihm zum Töter.“
Übersetzung von Arnd Großmann

Der christliche Einfluss ist hier unschwer durch die Anrufung Gottes zu erkennen, wobei diese formaler Natur bleibt, da Gott nichts gegen das Schicksal ausrichtet. Wichtig für den Vollzug des Schicksals ist, dass der Held, hier Hildebrand, das Einsetzen des Verhängnisses erkennt und bestätigt.[12]

Die heidnischen Schicksalswörter kommen im deutschen Sprachraum schon in althochdeutscher, spätestens in mittelhochdeutscher Zeit außer Gebrauch und treten danach nicht wieder in Erscheinung.[13] Andere Begriffe, wie gelücke „Glück“, die in mittelhochdeutscher Zeit Träger von Schicksalsideen sein können, verkörpern keine heidnischen Ideen mehr, sondern nur noch christliche. In den hochmittelalterlichen Heldendichtungen des Nibelungenlieds oder der Gudrunsage spielt der heidnische Schicksalsbegriff keine Rolle mehr.[14]

Edda

 
Die drei Jungfrauen an der Quelle des Schicksals. Zeichnung von Ludwig Pietsch, 1865.

Die einzige heidnische Quelle, die Auskunft über germanische Schicksalsvorstellungen gibt, sind die Lieder der Lieder-Edda, soweit sie noch aus der heidnischen Spätzeit Islands stammen. Hier ragt insbesondere das Schöpfungsgedicht, die Völuspá, heraus, das wohl kurz vor dem Übertritt Islands zum Christentum entstand, und noch überwiegend von heidnischen Vorstellungen geprägt ist.

Dabei nimmt der Schicksalsbegriff in der Völuspá großen Raum ein. Es heißt dort, dass die beiden ersten Menschen, Ask und Embla, vor ihrer Menschwerdung noch schicksalslos (ørlǫglausa) waren.[15] Zwar schufen sie dann die Götter als Menschen, doch ihr Schicksal teilten ihnen die Nornen zu (siehe weiter unten). Ihnen war aufgetragen, das Schicksal (ørlög) der Menschen bei Geburt zu bestimmen.[16] Aber nicht nur die Menschen haben ein unabwendbares Schicksal, sondern auch die Götter. Baldurs Tod ist vorherbestimmt (ørlög), kann aber nicht verhindert werden.[17] Das selbe gilt für den Untergang der Götter in den Ragnarök.[18] Ragnarǫk, das bedeutet übersetzt ‚das Schicksal der Götter‘.[19] Mit Anbruch dieser Zeit nimmt das zugemessene Schicksal (mjǫtuðr kyndisk) seinen Lauf.[20]

Schon in der älteren Forschung zu Zeiten Jacob Grimms erkannte man, dass die Göttermacht offenbar einer Schicksalsmacht unterworfen war, da die Götter wie die Menschen nicht in der Lage sind, ihr Schicksal zu ändern (siehe germanischer Schicksalsglaube).[21][7][22][23][24]

Isländersagas

Heidnisch-nordische Schicksalsvorstellungen enthalten auch die isländischen Sagas, die ab dem 12. Jahrhundert niedergeschrieben wurden.

Die Gísla saga berichtet beispielsweise von Gisli, der mit seinem Bruder und seinen beiden Schwägern den Blutsbund schließen will, aber eine böse Vorahnung hat, dass der Bund nicht zustande kommen werde. Die vier fallen sodann auf die Knie und rufen die Götter zu Zeugen ihres Bundes an, doch unversehens weigert sich im letzten Augenblick einer der beiden Schwäger, mit dem anderen den Blutsbund einzugehen. Da zieht auch Gisli seine Hand zurück und spricht: „Nun ist es verlaufen, wie mir ahnte, und mir scheint, hier hat das Schicksal sein Hand im Spiele.“[25]

Entgegen früherer Annahmen stellte der in den Isländer Sagas oft beschriebene Glaube des Helden an seine eigene Macht und Stärke, meist ausgedrückt durch die Formel trua á mátt sinn ok megin, keine Quelle heidnischer Schicksalsauffassungen dar, sondern diente den christlichen Autoren Islands ab dem 13. Jahrhundert dazu, ihren heidnischen Helden (die ja Teil ihrer eigenen Familien- oder lokalen Geschichte waren) eine Brücke vom Heidentum zum Christentum zu schlagen.[26] Zum Beispiel erklärt der Norweger Arnljot seinem König Olaf lapidar: „Ich glaube an meine eigene Macht und Kraft.“[25] Man vertraut dabei nur sich selbst und nicht auf die alten Götter oder andere übermenschliche Kräfte, die ja dem Christentum unterlegen waren. In dieser Haltung ist zwar der Fatalismus ein Wesenszug, doch durch die Abgrenzung zur vorchristlichen Vergangenheit entwickelt sich daraus ein eigener Mythos über den Schicksalsglauben der heidnischen Vorfahren.[7]

Die Schicksalsmacht

Das menschliche Denken setzt voraus, dass es eine höhere Macht geben muss, die das Schicksal bestimmt (Schicksalsmacht). Diese Macht kann man personifizieren, in dem man ihr eine Wesensnatur verleiht oder man erkennt darin das Wirken einer unpersönlichen Macht, die sich als Naturgesetz wie zum Beispiel das indische Karma manifestiert. Wie sich die Germanen die Schicksalsmacht vorstellten, kann nur in Ansätzen nachvollzogen werden. Wahrscheinlich veränderten sich diese Vorstellungen im Laufe der Zeit und es gibt auch Hinweise, dass die Germanen sich die Schicksalsmacht nicht einheitlich vorstellten. Die Idee, dass es noch eine Macht über den Göttern gibt, scheint jedoch schon auf die Indogermanen zurückzugehen.

Indogermanischer Vergleich

Mehrere Völker, die aus den Indogermanen hervorgingen, stellten sich eine Macht vor, die das Schicksal ausübte. Hierin sind sich die Vorstellungen einig, doch war diese Macht je nach Volk personifiziert oder nicht personifiziert. Häufig wird jedoch wie in der nordischen Mythologie die Schicksalsmaht als mächtiger beschrieben als die Macht der Götter. Vergleichbares kennt man auch aus vielen anderen Kulturen.[8][27] Aus dem Weltbild dieser Kulturen ist das auch nicht ungewöhnlich, da die polytheistischen Götter (und damit auch die germanischen Götter) nicht über Welt stehen, sondern ein Teil der Welt sind und die bestehende Weltordnung repräsentieren. Als Teil der Welt sind sie demzufolge wie alle anderen Teile der Welt dem Weltgesetz unterworfen.

Tabelle: Mächte über der Götterwelt bei indogermanischen Völkern
Volk Begriff Wörtliche Bedeutung Macht Beschreibung Älteste Nachweise
Inder rta(m) unpersönlich Die rechte Ordnung.
karma Wirken, Tat unpersönlich Universales Gesetz, wonach jede Tat eine der Tat entsprechende Folge hat. 6. Jh. v. Chr.
samsara beständiges Wandern unpersönlich Kreislauf der Wiedergeburten. 6. Jh. v. Chr.
Iraner Zurvan Zeit personifiziert Schöpfergott im Zurvanismus. Vater Ahura Mazdas und Angra Mainyus. Personifikation von Zeit und Ewigkeit: bestimmt alles, verordnet alles, ordnet alles im Voraus. 4. Jh. v. Chr.
Griechen Moira Anteil, der jedem zugeteilt ist personifiziert Bei Homer sind die Götter gegenüber den Moiren ohne Macht. 9. Jh. v. Chr.
Römer Fatum Spruch des Schicksals unpersönlich Unausweichlich, alles regierend.

Götter als Schicksalmacht

Für die Menschen, die sich mit ihren Anliegen an die Götter wenden, sind schon die Götter so mächtig wie eine Schicksalsmacht. Für den Menschen macht der Gott Odin Schicksal, aber auch Odin hat ein Schicksal.[28]

Die drei Schicksalsfrauen

 
Altarnachbildung der Aufanischen Matronen, Bonner Freizeitpark Rheinaue

Historisch am greifbarsten ist noch eine urgermanische Vorstellung, wonach die Schicksalsmacht durch eine Frauendreiheit personifiziert wurde. In späterer Zeit wies man den Frauen eigene Namen zu, ursprünglich trugen sie offenbar aber keine Eigennamen. Diese heidnische Vorstellung war so tief verwurzelt, dass sie die Christianisierung überlebte und bis in heutige Zeit in der Sagenwelt und in den Legenden und Kulten christlicher Volksheiliger fortwirkt.

In der nordischen Mythologie nennt man diese drei Frauen Nornen. In der Völuspá heißen sie Urðr ‚Schicksal, wörtlich: geworden‘, Verdandi ‚Werdend‘ und Skuld ‚Gesollt‘. Ihre Namen stehen vereinfacht für die drei Zeitformen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.[29] Dieses Namenskonzept stammt jedoch nicht aus heidnischer Zeit, sondern erst aus dem Hochmittelalter und wurde von den griechischen Moiren und den römischen Parzen entlehnt.[29][30][31] Die Übernahme ging aber nicht soweit, dass auch alle Inhalte übertragen wurden. Beispielsweise wird das Schicksal von den Nornen im Gegensatz zu den Moiren und Parzen weder gesponnen noch gewoben.[29]

Auf Entlehnung der Namen deutet, dass Verdandi in der nordischen Mythologie ansonsten nicht erwähnt wird[32] und Skuld nur als Name einer Walküre überliefert ist.[33] Selbst der Name der Urd, von dem man lange Zeit glaubte, er sei bereits gemeingermanisch, scheint ebenso nur eine Schöpfung des Hochmittelalters zu sein. Da altnordisch urd und angelsächsisch wyrd beide auf germanisch *wurdiz zurückgehen und beide Wörter zur Personifizierung einer Schicksalsmacht gebraucht wurden, hatte man in der Forschung eine gemeingermanische Schicksalsgöttin postuliert, der man eine wesentliche Rolle im heidnischen Schicksalsgedanken übertrug.[34] Nach Durchleuchtung der Textzusammenhänge, in denen wyrd gebraucht wurde, stellte sich heraus, dass das alte heidnische Schicksalswort von den Christen aufgegriffen wurde, aber sein Inhalt mit christlichen Vorstellungen des aus der Antike übernommenen Schicksalskonzepts der Fortuna fatalis neu ausfüllt wurde.[35] Die angelsächsische Personifikation der Wyrd als Schicksalmacht war demnach eine christliche Schöpfung. Hingegen taucht Urðr in der nordischen Literatur meist im Zusammenhang mit der Quelle Urðrbrunnr auf, die man für gewöhnlich nach der Norne als Urdbrunnen bezeichnet. Da aber die Quelle häufiger als die Norne genannt wird, folgt daraus, dass der Name der Quelle auf die Norne überging und nicht umgekehrt. Demnach ist der Quellenname urðrbrunnr nicht als „Brunnen der Urd“, sondern als „Quelle des Schicksals“ zu übersetzen.[29][31][36]

Beschrieben werden die Nornen als drei Mädchen (meyjar), also Jungfrauen, deren Heimat die Quelle des Schicksals (urðar brunni) am Weltenbaum Yggdrasil ist. Ihre wesentliche Aufgabe besteht darin, bei Geburt den Menschen das Schicksal zuzuweisen. Vermutlich sind in den Nornen zwei verschiedene Frauendreiheiten zusammengeflossen, nämlich die Frauen, die bei Geburt das bereits bestimmte Schicksal vorhersagen und Muttergottheiten in ihrer Rolle als Schicksalsfrauen.

Das Konzept einer Dreiheit von Schicksalsfrauen reicht sicher bis in gemeingermanische Zeit zurück. Auch die westgermanischen Matronen, die chthontische Muttergottheiten darstellen, wurden im römerzeitlichen Kult als Dreiheit verehrt und besaßen Züge von Schicksalsfrauen besaßen.[29][37][38][39] Diese Frauentrias überlebte den Untergang des römischen Reiches und die christliche Mission und tritt bis heute im Volksglauben im Vorstellungskomplex der drei heiligen Frauen auf.[40] Bischof Burchard von Worms stellte Frauen im 11. Jahrhundert beispielsweise folgende Beichtfrage: „Hast du geglaubt, was einige zu glauben pflegen, daß jene, die im Volksglauben Parcae [Parzen, also die Schicksalsfrauen] heißen, wirklich bestehen und bei der Geburt eines Menschen ihn zu dem bestimmen können, was sie wollen [...]?“

Der, der das Schicksal zumisst

Die wortwörliche Bedeutung des germanischen Schicksalsbegriffs *metoduz weist darauf hin, dass die Germanen möglicherweise noch eine andere Personifikation der Schicksalsmacht kannten, die allerdings außer der Wortbedeutung und dem daraus folgenden Wortgebrauch keine weiteren Spuren hinterlassen hätte. Es könnte sich dabei um eine alte Vorstellung handeln, zumindest ist der Begriff recht alt.[41]

Germanisch *metoduz leitet man von indogermanisch *med- „messen“[41][42] und ist aus drei germanischen Folgesprachen bekannt, in denen das Wort meist im Sinn von „Schicksal“ gebraucht wurde. Es ist erhalten in altnordisch mjǫtuðr, angelsächsisch meotod und altsächsisch metud. Seine wörtliche Bedeutung hat man früher oft mit „das (Zu)Gemessene“ übersetzt.[43] Die Christen verwendeten das Wort manchmal aber auch im Sinne von „Schicksalsmacht“ und bezeichneten damit Gott oder die Macht Gottes.[41] Zum Beispiel drückt ein christlicher Hymnus im England des 7. Jahrhunderts durch den Begriff metudaes maecti „Gottes Macht“ aus. Daraus folgt, dass Gott der meotod ist, der das Schicksal zuweist.[8] Zudem hat das Wort in allen drei Sprachen ein männliches Geschlecht, auch in der unpersonalen Bedeutung als „Schicksal“. *Metoduz meint offenbar somit eine männliche „Zumesser-Macht“, also den „der, der das Schicksal zumisst“.[41][42][44][45][46]

Natürlich gibt es auch Mutmaßungen darüber, welche mythologische Gestalt sind hinter diesem Schicksalszumesser verbirgt. Vereinzelt ist man in der Forschung der Ansicht, dass es der nordische Riese Mimir gewesen sein könnte, da er eng mit der Weissagung des Schicksals verbunden ist und sein Name auch auf dieselbe indogermanische Wurzel *med- wie *metoduz zurückgeführt werden kann.[47]

Unpersönliche Schicksalsmacht

Es ist aber auch durchaus möglich, dass die Germanen sich die Schicksalsmacht ursprünglich unpersönlich vorstellten. Darauf deuten die hochmittelalterlichen, isländischen Sagas, die eine Tendenz zur Entpersonifizierung der Schicksalsmacht erkennen lassen. Doch gibt es keine Quellen, die Anhaltspunkte dafür geben, dass dies auch schon in heidnischer Zeit so war.[45]

Ein Teil der (zumeist älteren) Forschung findet die Vorstellung von einer unpersönlichen Schicksalsmacht in der Wortbedeutung des germanischen Abstraktums *uzlagam (s) „Schicksal, Geschick“ wieder. Das Wort setzt sich zusammen aus der Vorsilbe *uz „(her)aus“ und dem Hauptwort *lagam „Lage“,[48] das von indogermanisch *legh- „legen“ abstammt. Wortwörtlich bedeutet *uzlagam somit „das Ausgelegte“. Seine Nebenbedeutung war „Krieg“, was im altsächsischen schließlich sogar zur Hauptbedeutung wurde. In manchen indogermanischen Folgesprachen nahmen Wörter um den Wortstamm von *legh- jedoch die Bedeutung „Gesetz“ an, so in lateinisch lex, angelsächsisch lagu (das sich zu englisch law weiterentwickelte), mittelniederdeutsch lach und altnordisch lǫg.[49] Neumann übersetzt das Wort deswegen nahe an dieser Bedeutungsentwicklung als „das Festgelegte, das Festgesetzte“.[50] Einige Forscher interpretierten die Vorsilbe uz „(her)aus“ jedoch im Sinne von „erstes, ursprüngliches“ und deuten *uzlagam als „Urgesetz“ (Kauffmann),[51] „oberstes Gesetz“[52] oder „höchste Bestimmung“ (Gehl).[53] Nach einem anderen Deutungsansatz könnte das Wort die Bedeutung von „Schicksal“ angenommen haben wegen der beim Losen ausgelegten Stäbchen, die Tacitus in der Germania beschreibt (von Kienle).[54] Letztlich ist man sich in der Forschung über die Bedeutung des Worts nochz nicht einig geworden.

Wesen des Schicksals

Wie schon gesagt, kann man auf Grund der Quellenlage nichts Genaues über die heidnisch-germanische Schicksalsidee sagen. Jedoch kann man die Grundzüge der Schicksalsgedanken aus germanischen Ländern der mittelalterlichen Zeit zusammenstellen, eingedenk der Tatsache, dass der christliche Anteil daran nicht herausfilterbar ist, aber wohl kaum die heidnischen Vorstellungen vollständig verdrängt hat.

Unter Schicksal versteht man das Verhängnis eines Menschen, das ihm unabwendbar von einer höheren Macht auferlegt wird und sein Leben entscheidend bestimmt, ohne dass man erkennen könnte, warum ihm das geschieht. Dabei lässt sich die Schicksalsidee durch eine grundsätzliche Formel ausdrücken.

Schicksal ist demzufolge das, was geschieht, weil es geschehen muss.[44]

“Gæð a wyrd swa hio scel.”

„Schicksal geht immer so, wie es muss.“

Beowulf, Vers 455

Der Schicksalbegriff wurd/wurt/wyrd, wörtlich „das Gewordene und noch Werdende“, macht das durch seine Bedeutung sichtbar, weil das was geworden ist, so werden musste, weil es genau so und nicht anders wurde. Dabei geht es nicht um eine rationale Folgerichtigkeit, sondern um eine die emotional so empfunden wird.[12]


Das Schicksal ist jedoch nicht darauf festgelegt, negativ oder positiv zu sein. Es ist nach beiden Seiten offen.

„Die Nornen bestimmen das Gute und das Schlechte,
Mir haben sie großes Leid gebracht.“

Runeninschrift in der Stabkirche von Borgund, Norwegen

Gleichwohl spricht man vor allem in Zusammenhang mit negativen Auswirkungen von Schicksal, wie man schon allein den Nebenbedeutungen der Schicksalsbegriffe urðr/wyrd/wurd oder örlög/orlæg/urlag entnehmen kann, die auch „Tod“ oder „Krieg“ bedeuten konnten.

Man kann nicht verhindern, dass das geschieht, was zu geschehen hat.[55] Der menschliche Wille kann sich somit zwar gegen das Schicksal stemmen,[27] doch sollte er möglichst im Einklang damit sein.[56] Verwirklicht sich das unabwendbare Schicksal, gibt es keinen Zufall.[55]

Jeder hat sein Schicksal von Geburt an.

 
Die Nornen weisen dem Neugeborenen sein Schicksal zu. Johannes Gehrts, 1889.

In dem nordischen Schöpfungsgedicht Völuspá betont der Dichter, dass die ersten beiden Menschen, Ask und Embla, bevor sie zu Menschen wurden, noch ohne Schicksal waren. Die Götter schufen zwar die ersten Menschen, doch das Schicksal der Menschen bestimmten die Nornen.

„þær lög lögðo
þær líf kuro
alda bornom
– Völuspá, Vers 20
„Sie [die Nornen] legten Bestimmungen fest,
sie wählten das Leben
den Menschenkindern.“
Übersetzung von N.N.

Somit bekommt jeder sein eigenes Schicksal bei Geburt zugeteilt.[27] Das bedeutet, dass bereits bei Geburt der Lebensweg festgelegt wird.

Etymologie germanischer Schicksalsbegriffe

Die Germanen besaßen eine auffallende Vielzahl an Begriffen, die alle „Schicksal“ bedeuten konnten. Mangels eindeutiger Quellen, die Auskunft über das heidnische Schicksalskonzept der Germanen gaben, hat die Forschung von Anfang an viel Aufmerksamkeit der Etymologie der Schicksalsbegriffe gewidmet.

Die nachstehende Tabelle listet nur die wichtigsten von ihnen auf. Die Bedeutungsangaben stehen lediglich für das Bedeutungsfeld in dem sich das Wort in den einzelnen Sprachzuständen bewegen konnte. Die drei Hauptbegriffe werden im Anschluss an die Tabelle ausführlich erläutert.

Tabelle: Die wichtigsten überlieferten Schicksalswörter der Germanen
Altnordisch Althochdeutsch Angelsächsisch Altsächsisch Gotisch Germanisch Bedeutung Indogermanische Wurzel
mjǫtuðr Schicksalsbeherrscher, Schicksal, Tod *mezzot? me(o)tod, me(o)tud Schicksal, Gott metod, metud Messer, Ordner, Schicksal miltaþs Maß *metoduz Schicksal, Gott, Zumesser *med- „messen“
ørlǫg urlag, urliugi orlæg, orleg(e) orlag[57] *uzlagaz, uzlagam Schicksal, Gesetz?, Krieg/Kampf *legh- „legen, liegen“
rǫk - - - - *rako[58] Schicksal *reg- „Richtung, Linie, lenken, richten“
skap giscap, giscaf gesceap, gesceaf (gi)skap, giskaft *gaskapam[59] Schicksal, Beschaffenheit *skap- „schneiden, spalten“
urðr wurt wyrd wurd *wurdiz Schicksal, Tod *uert- „drehen, wenden“

wurdiz

Das germanische Abstraktum *wurðiz (w) „Schicksal, Geschick“ setzt sich zusammen aus *wurð und einem i-Suffix und bedeutet wortwörtlich „das soeben Werdende“, womit zugleich „das ewige Werden“ ausgedrückt wird.[42] *Wurð leitet sich ab vom germanischen Verb *werþan „werden“, das wiederum von indogermanisch *uer(t)- „(um)drehen, wenden“ abstammt. Werden bedeutete demnach ursprünglich „(sich) drehen, wenden“, woraus sich die Bedeutung „sich zu etwas wenden, zu etwas werden“ entwickelte. Daraus schließt man, dass in *wurðiz noch die Vorstellung mitschwingt, dass die Zeit in wiederkehrenden Zyklen voranschreitet. Das heißt, dass die Zukunft wieder in die Vergangenheit mündet, vergleichbar der Drehung des Schicksalrads.[60]

Im Angelsächsischen bezeichnete man in heidnischer Zeit mit wyrd unbestimmt die Erfahrung eines folgenschweren Geschehens, das man selbst nicht bewirkt hatte. Gleichzeitig konnte wyrd aber auch ohne negative Wertung genutzt werden, um ein Geschehen oder Ereignis auszudrücken.[61] In christlicher Zeit stand wyrd dann überwiegend für ein Geschehen als Ausdruck des ununterbrochenen Wandlungsprozesses der Schöpfung nach dem göttlichen Heilsplan.[62]

Erst ab mittelalterlicher Zeit wurde angelsächsisch wyrd und altnordisch urðr auch personal verwendet. In der westnordischen Mythologie ist die Norne Urðr (Urd) eine der drei Nornen, die das Schicksal verkörpern (siehe Abschnitt: Schicksalsmacht). In England hingegen bezeichnete Wyrd auch eine Personifikation des Schicksals, es kam aber nicht zu einer Identifikation mit einem Figurentyp der germanischen Mythologie.[63]


Germanischer Schicksalsglaube

Etwa in der Zeit des Dritten Reichs (1933–1945) wurde in der Wissenschaft die Frage heiß diskutiert, ob die Germanen so an das Schicksal geglaubt hatten wie an ihre Götter (germanischer Schicksalsglaube). Überwiegend in Deutschland erschienen hierzu in dieser Zeit eine Reihe von Arbeiten zu diesem Thema (unter anderem Hans Naumann, Walter Baetke, Walther Gehl, Werner Wirth),[64] die nicht alle im Zeichen des Nationalismus standen.

Da aus der Völuspá hervorgeht, dass auch die Götter ein Schicksal haben, das sie nicht abwenden können und gegen das sie wie die Menschen machtlos sind, folgerte man im Umkehrschluss, dass es (zumindest) in der nordischen Mythologie eine Macht gab, die über den Göttern stand. Auf der Suche nach dieser Supermacht stellte man fest, dass die wichtigste der drei Nornen, Urd (altnordisch Urðr) eine Entsprechung in der altenglischen Wyrd hat, die nicht nur sprachlicher, sondern auch inhaltlicher Natur ist. Altnordisch urðr und angelsächsisch wyrd konnten sowohl als Abstrakta für das Schicksal als auch personifiziert für eine weiblich gedachte Schicksalsmacht stehen. Aus diesem Grund schien der Beweis erbracht, dass Urd/Wyrd auf eine Schicksalsgöttin aus urgermanischer Zeit zurückging.

[Schon aus dem christlich geformten Gottesverständnis der Forscher heraus lag es nahe, dass die Germanen an diese Supergottheit auch religiös geglaubt hatten.]

Aus dem vergeblichen Kampf der Götter gegen ihren Untergang (altnordisch ragnarökr) und zahlreichen vergleichbaren Schilderungen aus den Helenepen und isländischen Sagas, leitete Hans Naumann zeitgeistgemäß als germanische Grundhaltung den heroischen Pessimismus ab. Danach ergibt sich der Germane nicht tatenlos dem unabwendbaren Schicksal, sondern stemmt sich mit aller Macht dagegen und geht so heldenhaft in den ihm vorbestimmten Tod.[65] Diese Ideen fanden auch Beifall unter den Nationalsozialisten, die sie für ihre Zwecke gut gebrauchen konnten. Hermann Göring verglich beispielsweise den so schicksalshaften wie heldenhaften Untergang der Burgunden im Nibelungenlied mit dem Untergang der 6. deutschen Armee in der Schlacht von Stalingrad, von dem man noch in 1000 Jahren mit heiligem Schauer sprechen werde.[66]

In den fünfziger und sechziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunders erschienen zwar nur wenige Arbeiten zum Thema, jedoch stellten sie das bisherige Bild der Wissenschaft auf den Kopf (Eduard Neumann, Ladislaus Mittner, Gerd Wolfgang Weber). Nach näherer Untersuchung der christlichen Einflüsse auf die vorhandenen Quellen, stellte sich heraus, dass sie bei den Heldenliedern und Sagas, die tiefere Einblicke in die mittelalterliche Schicksalswelt erlauben, nicht abschätzbar sind.[67] Das heißt, man kann nicht unterscheiden, was darin christlich und was darin germanisch ist. Auch stellte sich zur großen Überraschung heraus, dass es die urgermanische Schicksalsgöttin Urd/Wyrd nicht gegeben hatte. Wyrd erwies sich als eine rein christliche Schöpfung, die vom Verständnis der antiken Fortuna bestimmt war (Gerd Wolfgang Weber).[7][68] Auch stammten die Namen aller drei Nornen erst aus dem Hochmittelalter (siehe unten). Doch haben die drei Nornen eine volkskundliche Entsprechung in drei namenlosen Schicksalsfrauen, die im germanischen Raum weit verbreitet sind. Darüber hinaus zeigen die Edda-Literatur und die Sagas eine Tendenz zu einer religiösen Auffassung des Schicksals.[7] Letztlich lässt sich nach heutigem Stand der Wissenschaft ein germanischer Schicksalsglaube weder belegen noch ausschließen.

Literatur

In der Reihenfolge des Erscheinungsjahrs.

  • Friedrich Kauffmann: Über den Schicksalsglauben der Germanen. In: Zeitschrift für deutsche Philologie, Bd. 50. 1926, S. 361–408.
  • Mathilde von Kienle: Der Schicksalsbegriff im Altdeutschen. In: Wörter und Sachen, 15, 1933, S. 81-111.
  • Hans Naumann: Germanischer Schicksalsglaube. Verlag Eugen Diederichs, Jena 1934.
  • Walter Baetke: Germanischer Schicksalsglaube. In: Neue Jahrbücher für Wissenschaft und Jugendbildung, 10. 1934, S. 226–236.
  • Jan de Vries: Altgermanische Religionsgeschichte, Band 2: Religion der Nordgermanen. Verlag Walter de Gruyter & Co., Berlin, Leipzig 1937.
  • Walther Gehl: Der germanische Schicksalsglaube. Junker und Dünnhaupt Verlag, Berlin 1939.
  • Werner Wirth: Der Schicksalsglaube in den Isländersagas. In: Veröffentlichungen des Orientalischen Seminars der Universität Tübingen, 11. Stuttgart 1940.
  • Eduard Neumann: Das Schicksal in der Edda, Bd. 1: Der Schicksalsbegriff in der Edda. Verlag W. Schmitz, Gießen 1955.
  • Ladislao Mittner: Wurd: Das Sakrale in der altgermanischen Epik. Verlag Francke, Bern 1955.
  • Johannes Rathofer: Der Heliand. Theologischer Sinn als tektonische Form. Vorbereitung und Grundlegung der Interpretation. Böhlau Verlag, Köln–Graz 1962. In: William Foerste (Hrsg.): Niederdeutsche Studien, Bd. 9. Münster/Westf, 1962, S. 129–169 (Schicksalsbegriff im Heliand.) PDF Online.
  • Willy Sanders: Glück. Zur Herkunft und Bedeutungsentwicklung eines mittelalterlichen Schicksalsbegriffs. Böhlau Verlag, Köln–Graz 1965. In: William Foerste (Hrsg.): Niederdeutsche Studien, Bd. 9. Münster/Westf, 1965. PDF Online.
  • Åke Viktor Ström: Scandinavian Belief in Fate In: Fatalistic Beliefs. Stockholm 1967, S. 65–71 (oder 63–88).
  • Gerd Wolfgang Weber: Wyrd – Studien zum Schicksalsbegriff der altenglischen und altnordischen Literatur. Verlag Gehlen, Bad Homburg – Berlin – Zürich 1969.
  • Albrecht Hagenlocher: Schicksal im Heliand. Verwendung und Bedeutung der nominalen Bezeichnungen. Böhlau Verlag, Köln–Wien 1975. In: Jan Goossens (Hrsg.): Niederdeutsche Studien, Bd. 21. Münster/Westf. 1975. PDF Online.
  • Åke Viktor Ström, Haralds Biezais: Germanische und Baltische Religion. Kohlhammer Verlag, Stuttgart 1975, ISBN 978-3-170-01157-1, S. 249–260.
  • Hilda Roderick Ellis-Davidson: Pagan Europe – Early Scandinavian and Celtic Religions. Manchester University Press, 1988, ISBN 978-0-7190-2579-2. In Auszügen Online.
  • Mogens Brönsted: Dichtung und Schicksal. Eine Studie über ästhetische Determination. Verlag des Instituts für Sprachwissenschaft der Universität Innsbruck, Innsbruck 1989, ISBN 978-3-851-24132-7, S. 173–176.
  • Wolfgang Meid: Die germanische Religion im Zeugnis der Sprache. In: Band 5 von Ergänzungsbände zum Reallexikon der germanischen Altertumskunde. 1992, S. 490 f.
  • Rudolf Simek: Schicksalsglaube. In: Heinrich Beck, Dieter Geuenich und Heiko Steuer (Hrsg.): Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Bd. 27. 2. Auflage. Verlag Walter de Gruyter, Berlin – New York 2004, ISBN 978-3-110-18116-6. Online, S. 8–10.
  • Anthony Winterbourne: When the Norns Have Spoken. Fairleigh Dickinson University Press, Madison 2004, ISBN 978-1-611-47296-7.
  • Rudolf Simek: Lexikon der germanischen Mythologie. 3. Auflage. Kröner, Stuttgart 2006, ISBN 978-3-520-36803-4.

Einzelnachweise

  1. Tacitus, Germania, 10
  2. Walter Baetke: Germanischer Schicksalsglaube. In: Neue Jahrbücher für Wissenschaft und Jugendbildung, 10. 1934, S. 226
  3. René L. M. Derolez: De Godsdienst der Germanen. 1959, deutsch: Götter und Mythen der Germanen, übersetzt von Julie von Wattenwyl, Verlag Suchier & Englisch, 1974, S. 218 f.
  4. Beda Venerabilis, Historia ecclesiastica gentis Anglorum, II 13
  5. Vergleiche Gerd Wolfgang Weber: Wyrd, 1969, S. 132 f., der diesen Gedanken für das altenglische wyrd entwickelt: Die Weiterverwendung von wyrd durch christliche Autoren beweist, dass wyrd keine heidnische Schicksalsmacht bezeichnete, sondern ein Begriff ohne konkrete heidnisch-religiöse Vorbelastung war.
  6. Albert Hagenlocher: Schicksal im Heliand. 1975, S. 218–220
  7. a b c d e Rudolf Simek: Schicksalsglaube, RGA 27, S. 9
  8. a b c Hans-Peter Hasenfratz: Die religiöse Welt der Germanen – Ritual, Magie, Kult, Mythus. Verlag Herder, Freiburg i. Br. 1992, ISBN 3-451-04145-6, S. 112
  9. Hermann Reichert: Held, Heldendichtung und Heldensage. In: Heinrich Beck, Dieter Geuenich, Heiko Steuer (Hrsg.): Reallexikon der germanischen Altertumskunde – Bd. 14. 2. Auflage. Verlag Walter de Gruyter, Berlin/New York, 1999, S. 269
  10. Mogens Brönsted: Dichtung und Schicksal. Eine Studie über ästhetische Determination. Verlag des Instituts für Sprachwissenschaft der Universität Innsbruck, Innsbruck 1989, S. 174 f.
  11. Willy Sanders: Glück. 1975, S. 38
  12. a b c Mogens Brönsted: Dichtung und Schicksal. Eine Studie über ästhetische Determination. Verlag des Instituts für Sprachwissenschaft der Universität Innsbruck, Innsbruck 1989, S. 173
  13. Willy Sanders: Glück. 1975, S. 36
  14. Willy Sanders: Glück. 1975, S. 42, 45
  15. Lieder-Edda: Vǫluspá 17
  16. Lieder-Edda: Vǫluspá 20
  17. Lieder-Edda: Völuspá 31 f.
  18. Lieder-Edda: Völuspá 44 f.
  19. Lieder-Edda: Völuspá 44
  20. Lieder-Edda: Völuspá 46
  21. Jacob Grimm: Deutsche Mythologie, 3 Bände. 4. Auflage. 1875–1878. Neuauflage Marix Verlag, Wiesbaden 2007, ISBN 978-3-86539-143-8, S. 636 [alt: Band 1+2, S. 714]
  22. Bernhard Maier: Die Religion der Germanen – Götter, Mythen, Weltbild. Verlag Beck, München 2003, ISBN 978-3-406-50280-4, S. 62 f.
  23. Hans-Peter Hasenfratz: Die religiöse Welt der Germanen – Ritual, Magie, Kult, Mythus. Verlag Herder, Freiburg i. Br. 1992, ISBN 3-451-04145-6, S. 113  f.
  24. Hilda Roderick Ellis-Davidson: Pagan Europe, 1988, S. 163  ff.
  25. a b Walter Baetke: Germanischer Schicksalsglaube. In: Neue Jahrbücher für Wissenschaft und Jugendbildung, 10. 1934, S. 228
  26. Simek, 2006, S. 272
  27. a b c Åke Viktor Ström: Germanische und Baltische Religion, 1975, S. 251
  28. Jan de Vries: Altgermanische Religionsgeschichte, Band 2, 1937, § 145
  29. a b c d e Rudolf Simek: Lexikon der germanischen Mythologie, 2006, S. 307 „Nornen“
  30. Gerd Wolfgang Weber: Wyrd, 1969, S. 150
  31. a b Bernhard Maier: Die Religion der Germanen – Götter, Mythen, Weltbild. Verlag Beck, München 2003, ISBN 978-3-406-50280-4, S. 62
  32. Rudolf Simek: Lexikon der germanischen Mythologie, 2006, S. 465 „Verdandi“
  33. Rudolf Simek: Lexikon der germanischen Mythologie, 2006, S. 387 „Skuld“
  34. So noch beispielsweise Jan de Vries: Altgermanische Religionsgeschichte, Band 2, 1937, § 314.
  35. Gerd Wolfgang Weber: Wyrd, 1969, S. 65 f., 126, 132, 148, 155. Im Ergebnis gleich und sich dabei auf Weber stützend: Rudolf Simek: Lexikon der germanischen Mythologie, 2006, S. 494 „Wyrd“
  36. Gerd Wolfgang Weber: Wyrd, 1969, S. 151 f.
  37. Jan de Vries: Altgermanische Religionsgeschichte, Band 1, 1937, § 132 weist die Matronen auch als Schicksalsgöttinnen aus und vergleicht sie mit den Disir und teilweise mit den Nornen.
  38. Vergleiche auch Rudolf Simek: Schicksalsglaube, 2004, S. 9 der es dort als möglich ansieht, dass die drei Schicksalsgöttinnen älteren Datums sind.
  39. Gerd Wolfgang Weber: Wyrd, 1969, S. 153 spricht sich wegen nordischer? Volkssagen und -glauben eindeutig dafür aus, dass die drei Schicksalsfrauen auf alten Vorstellungen beruhen.
  40. Vergleiche Jan de Vries: Altgermanische Religionsgeschichte, Band 1, 1937, § 132, der ein Fortleben der Matronen in den drei Marien für möglich hält.
  41. a b c d Rudolf Simek: Schicksalsglaube, RGA 27, S. 10
  42. a b c Wolfgang Meid: Die germanische Religion im Zeugnis der Sprache. In: Heinrich Beck, Detlev Ellmers, Kurt Schier (Hrsg.): Germanische Religionsgeschichte – Quellen und Quellenprobleme – Ergänzungsband Nr. 5 zum Reallexikon der germanischen Altertumskunde. 2. Auflage. Verlag Walter de Gruyter, Berlin – New York 1999, ISBN 978-3-110-12872-7, S. 491
  43. Walter Baetke: Germanischer Schicksalsglaube. In: Neue Jahrbücher für Wissenschaft und Jugendbildung, 10. 1934, S. 70. Weitere Beispiele bei Åke Viktor Ström: Germanische und Baltische Religion, 1975, S. 249, FN 6
  44. a b Åke Viktor Ström: Germanische und Baltische Religion, 1975, S. 249
  45. a b Rudolf Simek: Schicksalsglaube, RGA 27, S. 9 f.
  46. Jan de Vries: Altnordisches Etymologisches Wörterbuch. 2. Auflage. Brill Archive, 1957, Bd. 1, S. 390.
  47. Åke Viktor Ström: Germanische und Baltische Religion, 1975, S. 254
  48. Gerhard Köbler: Germanisches Wörterbuch. 3. Auflage. 2003
  49. Vergleichendes Wörterbuch der indogermanischen Sprachen. 1894, Band 3, S. 424 f.
  50. Eduard Neumann: Das Schicksal in der Edda. 1955, Bd. 1, S. 38 f.
  51. Friedrich Kauffmann: Über den Schicksalsglauben der Germanen, 1926, S. 382
  52. Anthony Winterbourne: When the Norns Have Spoken, 2004, S. 90 f.
  53. Walther Gehl: Der germanische Schicksalsglaube, 1939, S. 23. Ihm zustimmend: Åke Viktor Ström: Germanische und Baltische Religion, 1975, S. 249.
  54. Mathilde von Kienle: Der Schicksalsbegriff im Altdeutschen. In: Wörter und Sachen 15, 1933, S. 81-111. – Walther Gehl: Der germanische Schicksalsglaube, 1939, S. 23. – Günter Kellermann: Studien zu den Gottesbezeichnungen der angelsächsischen Dichtung. Dissertation, Münster 1954, S. 232
  55. a b Åke Viktor Ström: Germanische und Baltische Religion, 1975, S. 250
  56. Åke Viktor Ström: Germanische und Baltische Religion, 1975, S. 255
  57. orlag bedeutete im Altsächsischen nicht mehr Schicksal, sondern nur noch Krieg.
  58. rako bedeutete im Germanischen nicht Schicksal.
  59. gaskapam bedeutete im Germanischen noch nicht Schicksal.
  60. Wolfgang Meid: Die germanische Religion im Zeugnis der Sprache. In: Heinrich Beck, Detlev Ellmers, Kurt Schier (Hrsg.): Germanische Religionsgeschichte – Quellen und Quellenprobleme – Ergänzungsband Nr. 5 zum Reallexikon der germanischen Altertumskunde. 2. Auflage. Verlag Walter de Gruyter, Berlin – New York 1999, ISBN 978-3-110-12872-7, S. 490 f.
  61. Gerd Wolfgang Weber: Wyrd, 1969, S. 132 f.
  62. Gerd Wolfgang Weber: Wyrd, 1969, S. 146
  63. Gerd Wolfgang Weber: Wyrd, 1969, S. 145
  64. Übersicht bei Åke Viktor Ström: Germanische und Baltische Religion, 1975, S. 249
  65. Bernhard Maier: Die Religion der Germanen – Götter, Mythen, Weltbild. Verlag Beck, München 2003, ISBN 978-3-406-50280-4, S. 149 – Hans Naumann: Germanischer Schicksalsglaube. Jena 1934.
  66. Bernhard Maier: Die Religion der Germanen, 2003, S. 149 f.
  67. Rudolf Simek: Schicksalsglaube. In: Heinrich Beck, Dieter Geuenich und Heiko Steuer (Hrsg.): Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Bd. 27. 2. Auflage. Verlag Walter de Gruyter, Berlin – New York 2004, ISBN 978-3-110-18116-6, S. 8 f. – Heinrich Reichert: Held, Heldendichtung und Heldensage, § 2-6. In: Heinrich Beck, Dieter Geuenich und Heiko Steuer (Hrsg.): Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Bd. 14. 2. Auflage. Verlag Walter de Gruyter, Berlin – New York 1999, ISBN 978-3-11-016423-7, S. 269
  68. Gerd Wolfgang Weber: Wyrd. Studien zum Schicksalsbegriff der altenglischen und altnordischen Literatur. 1969.