Religionssoziologie
Die Religionssoziologie ist eine spezielle Soziologie. Sie befasst sich mit den sozialen Voraussetzungen von Religion, mit den Sozialformen, die Religion annimmt und dem Einfluss von Religion auf Gesellschaften. Die Religionssoziologie deckt hierbei ein weites Feld ab und reicht von Beiträgen zur Gesellschaftstheorie (die z.B. die Funktion von Religion für die Gesamtgesellschaft beschreiben) bis zu mikrosoziologischen Studien einzelner religiöser Gruppen und religiösen Handelns.
Grundbegriffe
Die Soziologie hat keinen einheitlichen Begriff der Religion ausgebildet, vielmehr gehen unterschiedliche Autoren von unterschiedlichen Religionsbegriffen aus. Unterschieden werden substantiale und funktionale Definitionen der Religion:
- Substantiale Definitionen versuchen das Besondere der Religion zu bestimmen, die diese inhaltlich von anderen Phänomenen unterscheidet, beispielsweise die Erfahrung von Gott oder dem Heiligen.
- Funktionale Definitionen hingegen versuchen Religion über ihre Funktionen für einzelne Gesellschaftsmitglieder bzw. die Gesellschaft an sich zu bestimmen, Funktionen der Religion sind zum Beispiel die Erklärung unerklärbarer Phänomene oder die Legitimation von Herrschaft.
Darüber hinaus gibt es Mischdefinitionen, die sowohl substantiale als auch funktionale Elemente umfassen. Da funktionalistische Theorien in der internationalen Soziologie lange Zeit eine vorrangige Stellung hatten, sind in der Soziologie vor allem funktionale Definitionen im Gebrauch. Für eine funktionale Bestimmung von Religion spricht auch die Begriffsgeschichte: Der Begriff der Religion stammt aus der christlich-abendländischen Tradition und ist daher nicht ohne weiteres auf Gesellschaften außerhalb dieses Kulturkreises anwendbar. (siehe hierzu ausführlicher: Religion)
Der Prozess der Säkularisierung beschreibt die zunehmende Trennung von Religion und gesellschaftlichen Prozessen und Einrichtungen, die früher religiös geprägt waren. Säkularisierung geht damit weiter als die bloße Aufhebung geistlicher Herrschaften. War das Mittelalter von einem tiefgreifenden religiösen Einfluss auf alle Bereiche menschlichen Lebens gekennzeichnet, so wird Religion im Säkularisierungsprozess ein System neben anderen. So sind zum Beispiel heute Krankenhäuser nicht mehr im Rahmen einer christlichen Barmherzigkeit organisiert, sondern staatlich finanziert und durch professionelle Berufe gekennzeichnet. Wenngleich zweifelsohne mit Säkularisierung ein Verlust des Einflusses organisierter Religiosität (insbesondere kirchlich organisierter Religiosität) auf viele Lebensbereiche verbunden ist, ist es strittig, ob der Säkularisierungsprozess ein Verschwinden von Religion als solcher beinhaltet oder nicht vielmehr einen Strukturwandel der Religion beschreibt, sich also an der Religiosität der Menschen nur die Form ändert. Thomas Luckmann spricht in diesem Zusammenhang von einer „Entkirchlichung“.
Religion äußert sich nicht nur in der religiösen Praxis von Ritualen, sondern auch in religiösen Organisationen, die sich durch Aufbau, Hierarchie und Mitgliedschaftsvoraussetzungen unterscheiden. Schon Max Weber traf eine Unterscheidung zwischen Sekten einerseits und Kirchen andererseits. Der Begriff der Sekte ist im außerwissenschaftlichen Kontext in der Regel eindeutig negativ belegt (vgl. Hierzu ausführlicher Sekte). Neben der kategorialen Unterscheidung bestimmter Organisationsformen wie Kirche und Sekte richtet die Religionssoziologie ihr Interesse auch auf die Entstehung solcher Organisationsformen und den Übergang von einer Organisationsform in andere.
Religiöse Rollen
Mit der Ausbildung organisierter Religiosität in Ritualen und Organisationen einher geht die Entstehung bestimmter sozialer Rollen wie dem Priester und dem Propheten.
Theoriegeschichte
Grundlegend für die Entwicklung der Religionssoziologie sind vor allem die Schriften von Max Weber ("Die protestantische Ethik und der 'Geist' des Kapitalismus", "Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen") und Émile Durkheim ("Die elementaren Formen des religiösen Lebens"). Ein früher Vorläufer in Deutschland war der Göttinger Orientalist Johann David Michaelis ("Mosaisches Recht").
Auguste Comte verstand Soziologie als Naturwissenschaft, die sich im Folge der Aufklärung als Steuerungsinstrument einer rationalen Gesellschaft etablieren sollte, soziale Physik. Im Vorfeld einer Soziologie der Religion steht daher das Erbe der Religionskritik, die neben philosophischen und psychologischen Argumenten immer auch mit soziologischen Argumenten betrieben wurde.
Zentral für eine Religionskritik aus soziologischer Perspektive ist Karl Marx. Dieser geht in seiner Gesellschaftstheorie davon aus, dass im Zuge der Entfremdung des Arbeiters durch den Zwangsverkauf der Arbeitskraft in der kapitalistischen Gesellschaft der Religion die Funktion zufalle, diese Entfremdung durch religiösen Trost und Jenseitsorientierung zu überdecken. Daher sieht Marx die Religion als "Opium des Volkes" und, daraus folgend, die Kritik der Religion als Anfang aller Kritik an.
In seinem religionssoziologischen Hauptwerk "Die elementaren Formern des religiösen Lebens" entwickelt Durkheim die grundsätzliche Unterscheidung zwischen "sakral" und "profan".
Max Webers berühmtester Beitrag zur Religionssoziologie ist seine sog. Protestantismusthese, die er in seiner Schrift "Die protestantische Ethik und der 'Geist' des Kapitalismus" entwickelte. Weber versucht die Frage zu beantworten, weshalb sich ausgerechnet im Abendland (genauer: in den angelsächsischen Ländern) der moderne (= rationale) Kapitalismus entwickelte. Weber erklärt dies durch den Protestantismus, insbesondere die Prädestinationslehre. Dieser führte einerseits zu einer innerweltlichen Askese (und dazu zur nötigen Kapitalakkumulation), andererseits zu einer Lebenspraxis, die wirtschaftlichen Erfolg als Zeichen göttlicher Auserwähltheit als anstrebenswert erachtete. Auch wenn sich die religiöse Basis im Laufe der Zeit änderte, so blieb doch diese Lebenspraxis. Andere Religionen untersuchte Weber in der Aufsatzsammlung "Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen". Neben der Protestantismusthese hat Weber in seinem Hauptwerk „Wirtschaft und Gesellschaft“ systematisch Grundbegriffe der Religionssoziologie wie z.B. Sekte abgehandelt. Sein vor allem in Kontext der von ihm definitierten Herrschaftstypen bekanntgewordener Begriff des Charismas wird seit den 1990ern gewinnbringend in der Religionssoziologie angewandt.
Aus Sicht der strukturfunktionalen Systemtheorie Talcott Parsons ist die Religion ein wesentliches Element für die Begründung von Werten und Grundmustern sozialer Systeme.
siehe dort
In der Systemtheorie Luhmanns wird Religion als eigenes Subsystem der Gesellschaft funktional bestimmt. Im Zuge der funktionalen Differenzierung moderner Gesellschaften bildet sich ein eigenes Religionssystem heraus.
Mit ihrer grundlegenden Studie A Theory of Religion bringen diese beiden amerikanischen Soziologen (neben einigen anderen) die Theorie der rationalen Entscheidung (rational choice theory, auch ökonomische Handlungstheorie) in die Religionssoziologie ein. Sie bestreiten die Aussage der Säkularisierungsthese, wonach mit fortschreitender Modernisierung Religion und Religosität an Bedeutung verlieren. Vielmehr gehen sie davon aus, dass sich die religiösen Bedürfnisse der Menschen trotz allgemeiner Rationalisierung der Lebensweisen nicht verändert hätten, und richten ihr Augenmerk stattdessen auf die Angebotsseite der Religion: auf die Religionsgemeinschaften und Kirchen. Ob es zu einer Säkularisierung in der Gesellschaft komme oder nicht, hänge demnach vielmehr von der Beschaffenheit des "Marktes der Religionen" ab. Das Vorhandensein einer Vielzahl von Religionsgemeinschaften innerhalb einer Gesellschaft nämlich zwinge die religiösen Anbieter dazu, ihre "Ware" möglichst attraktiv zu gestalten, und führe damit zu einem Aufblühen der Religiosität insgesamt. Hingegen würde die Dominanz einer einzigen Religion (etwa einer Staats- oder subventionierten Kirche) Konkurrenz ausschließen, Anreize zur Attraktivitätssteigerung des religiösen Angebots behindern und so zu einem Absterben aktiver Religiosität insgesamt führen.
Das von Ulrich Oevermann in einem Aufsatz von 1995 erstmals vorgelegte und später in weiteren Aufsätzen weiterentwickelte Strukturmodell von Religiosität gilt neben den Ansätzen von Thomas Luckmann und Niklas Luhmann zu den drei einflussreichen religionssoziologischen Paradigmen in Deutschland. Es ist unter diesen drei Ansätzen zugleich das mit Abstand jüngste Paradigma. Oevermann unterscheidet in seinem Modell zwischen der Struktur von Religiosität, die als universell gilt, und ihrem Inhalt, der in Gestalt von Herkunfts- und Bewährungsmythen als je historisch variabel betrachtet wird. Der Säkularisierungsprozess wird vor diesem Hintergrund gefasst als eine Transformation der Inhalte, als Transformation religiöser Glaubensinhalte in säkulare, bei Fortbestehen der grundlegenden Struktur von Religiosität.
Die universelle Struktur von Religiosität hängt in seinem Modell unmittelbar mit den universellen Struktureigenschaften menschlicher Lebenspraxis zusammen. In deren Zentrum steht die sprachliche Bedeutungs- und Prädikationsfunktion, die gattungsgeschichtlich mit dem Übergang von Natur zu Kultur entstanden ist und die einen Dualismus zwischen der zeichenhaft repräsentiernden Welt hypothetischer Möglichkeiten in Vergangenheit und Zukunft einerseits und der repräsentierten Welt der Wirklichkeit im Hier und Jetzt der Gegenwart andererseits zeitigt. Aus diesem Dualismus resultiert nach Oevermann zwingend das Bewußtsein von der Endlichkeit des Lebens, das seinerseits das Problem der nicht still stellbaren Bewährungsdynamik hervorruft.
"Dieselbe sprachlich bedingte Prädikations- und Bedeutungsfunktion bringt es nämlich mit sich, daß dieses biologisch und damit objektiv schon immer endliche Leben nicht nur als solches in dieser seiner Endlichkeit zu Bewußtsein kommt, sondern zugleich auch aufgrund des mit der Sprache eingerichteten Dualismus von im Hier und Jetzt repräsentierter Wirklichkeit und diese repräsentierender Bedeutungswelt, die immer eine hypothetisch geltende, konstruierte ist, als ein grundsätzlich zukunftsoffenes und insofern krisenhaftes zu Bewußtsein kommt. Diese Offenheit der Zukunft ist nicht nur eine der Spielräume, die die naturgesetzliche Determination von Biologie und Evolution, gewissermaßen residual, übrig läßt, sondern vor allem eine, die der sprachlich konstituierten Konstruktion von Bedeutungen und d.h. vor allem, von hypothetischen, möglichen Welten geschuldet ist. Die Zukunft bleibt bis zum Tode offen, ob wir wollen oder nicht. Zukunftsoffenheit und Endlichkeit bezeichnen also die Polarität, in der sich die Nicht-Stillstellbarkeit der Bewährungsdynamik aufspannt. Wer glaubt, dieses Problem innerhalb des Diesseits seines Lebens endgültig gelöst zu haben, hat seine Problembewältigung genau dadurch gründlich verspielt. Und jede Konstruktion eines eine Hoffnung auf Bewältigung verbürgenden Bewährungsmythos, als des zweiten Phasenmomentes der Struktur von Religiosität, muß in irgendeiner Weise Bezug auf dieses Problem der Nicht-Stillstellbarkeit der Bewährungsdynamik nehmen. Das kann von der Verlagerung auf die Gemeinschaft als Ganze bis zur explizit aufrechnenden Zuschrei-bung an das einzelne Leben reichen. Jedenfalls gilt: Je klarer das Bewährungs-problem in einem Bewährungsmythos elaboriert worden ist, um so drängender wird es und um so mehr zieht die Konstruktion des Bewährungsmythos die Nicht-Stillstellbarkeit bzw. Dynamisierung des Problems nach sich, zu dessen Bewältigung er eine Hoffnung verbürgen soll." (Oevermann 2002)
Das Strukturmodell von Religiosität besteht aus drei Struktureigenschaften, die im Sinne eines Phasenmodells auseinanderfolgen: 1. Das Bewährungsproblem aufgrund des Bewußtseins von der Endlichkeit des Lebens, das eine nicht still stellbare Bewährungsdynamik freisetzt. 2. Der Bewährungsmythos, der eine notwendige Hoffnung auf die Bewährtheit verbürgt und 3. die Evidenz des Mythos aufgrund einer vergemeinschafteten Praxis. Das erste Strukturmoment ist kulturell universell, das zweite je kulturspezifisch und das dritte sowohl universell, was die Vergemeinschaftung als Struktur anbetrifft als auch kulturspezi-fisch, was ihre von den jeweiligen Inhalten und den daraus folgenden Riten und Kultformen abhängige soziale Ausformung anbetrifft.
Literatur:
- Oevermann, Ulrich (1995): "Ein Modell der Struktur von Religiosität. Zugleich ein Strukturmodell von Lebenspraxis und von sozialer Zeit." In: Wohlrab-Sahr, Monika (Hg.). Biographie und Religion. Zwischen Ritual und Selbstsuche. Frankfurt am Main: Campus. S. 27-102. — (1996): "Strukturmodell von Religiosität." In: Gabriel, Karl (Hg.). Religiöse Individualisierung oder Säkularisierung: Biographie und Gruppe als Bezugspunkte moderner Religiosität. Gütersloh: Kaiser. S. 29-40. — (2001): "Bewährungsdynamik und Jenseitskonzepte - Konstitutionsbedingungen von Lebenspraxis." In: Schweidler, W. (Hg.). Wiedergeburt und kulturelles Erbe. St. Augustin: Academia. S. 289-338. — (2001): "Die Krise der Arbeitsgesellschaft und das Bewährungsproblem des modernen Subjekts." In: Becker, Roland; Andreas Franzmann; Axel Jansen & Sascha Liebermann (Hg.). Eigeninteresse und Gemeinwohlbindung. Kulturspezifische Ausformungen in den USA und Deutschland. Konstanz: UVK. -(2003): "Strukturelle Religiosität und ihre Ausprägungen unter Bedingungen der vollständigen Säkularisierung des Bewusstseins." In: Gärtner, Christel; Detlef Pollack & Monika Wohlrab-Sahr (Hg.). Atheismus und religiöse Indifferenz. Opladen: Leske+Budrich. S. 339-387. - Oevermann, Ulrich & Manuel Franzmann (2005): "Strukturelle Religiosität auf dem Wege zur religiösen Indifferenz." In: Franzmann, Manuel; Christel Gärtner & Nicole Köck (Hg.). Religiosität in der säkularisierten Welt. Theoretische und empirische Beiträge zur Säkularisierungsdebatte in der Religionssoziologie. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Empirische Religionssoziologie
Im Rahmen von groß angelegten Umfragen wie dem ALLBUS und der Shell-Jugendstudie sind Fragen nach der Religion ein fester Bestandteil.
Themen
Robert N. Bellah hat in seinen Studien über die US-amerikanische Gesellschaft das Konzept der Zivilreligion eingeführt. Dieses bezeichnet religiöse Einstellungen, die in der gesamten Gesellschaft geteilt werden und im politischen Prozess stattfinden und nicht in den eigentlichen religiösen Räumen. Elemente der amerikanischen Zivilreligion sind der häufige Bezug zu Gott in Politikerreden etc. Die Frage nach einer Zivilreligion oder allgemeiner: nach einem gemeinsamen Fundus an Ritualen und religiösen Bildern stellt sich auch in den europäischen Gesellschaften. Die Diskussion um Leitkultur, um einen Gottesbezug in der Europäischen Verfassung und um einen möglichen Beitritt der Türkei zur Europäischen Union sind hier aktuelle Diskussionsfelder in der deutschen Politik.
Siehe auch
Literatur
Übersichtsdarstellungen
- Hubert Knoblauch: Religionssoziologie, 1999, ISBN 3110163470
- Volkhard Krech: Religionssoziologie, 1999, ISBN 3933127076
- Monika Wohlrab-Sahr “Luckmann 1960“ und die Folgen. Neuere Entwicklungen in der deutschsprachigen Religionssoziologie. In: B. Orth, T. Schwietring, J. Weiß: Soziologische Forschung. Stand & Perspektiven. Opladen 2003, S. 427-448.
Klassiker der Religionssoziologie
- Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, zuerst erschienen 1920, ISBN 3825214885 (enthält u.a. die "Protestantische Ethik", zuerst erschienen 1904/05)
- Émile Durkheim: Die elementaren Formen des religiösen Lebens, zuerst erschienen 1912, ISBN 3518287257