Novemberpogrome 1938

vom NS-Regime gelenkte Gewaltmaßnahmen gegen Juden im Deutschen Reich
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Als Reichspogromnacht bzw. Reichskristallnacht wird die Nacht der nationalsozialistischen Pogrome gegen die jüdische Bevölkerung vom 9. auf den 10. November 1938 bezeichnet. Bereits am 8. November hatten im Reichsgebiet jedoch vereinzelte Übergriffe gegen Juden und jüdische Einrichtungen stattgefunden.

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Reichspogromnacht

Der Ursprung der (bis in die 1980er Jahre sowohl umgangssprachlichen als auch lexikalischen) Bezeichnung "Kristallnacht" ist nicht geklärt, vermutlich war dies eine 'volkstümliche' Anspielung auf die zertrümmerten Fensterscheiben; eine NS-'Sprachregelung' war es jedenfalls nicht. Siehe dazu auch den Abschnitt "Reichskristallnacht oder Reichspogromnacht?".

Vorgeschichte und vorgeblicher Anlass

1938 wurde Tausenden polnischen Juden, die seit Jahren in Deutschland lebten, die Staatsangehörigkeit aberkannt. Eines Nachts wurden viele von ihnen auf die polnische Grenze zugetrieben. Manche kamen dabei um, andere irrten lange im Niemandsland zwischen Deutschland und Polen umher, aber der polnische Staat wollte sie nicht aufnehmen. Bei dieser Vertreibung kam auch Herschel Grynszpans Vater um und sein damals 17jähriger Sohn wollte ihn rächen. - Am 7. November wurde der deutsche Diplomat Ernst Eduard vom Rath durch den siebzehnjährigen Juden Herschel Grynszpan in Paris ermordet.

Die Reichsprogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938

Die Pogrome wurden durch eine Hetzrede Joseph Goebbels am Abend eines Treffens der NSDAP-Führer in München ausgelöst. Anlass des Treffens mit alten Kämpfern der NSDAP war der Jahrestag des gescheiterten Hitler-Putsches am 9. November 1923.
In seiner Rede machte Goebbels die Bemerkung, dass die Partei antijüdische Aktionen zwar nicht organisieren, aber dort, wo sie entstünden, auch nicht behindern werde. Die anwesenden Gauleiter verstanden dies als Aufforderung: Nach Goebbels Rede telefonierten sie mit ihren örtlichen SA-Führern. Die wiederum gaben entsprechende Befehle an die Mannschaften weiter. Daraufhin setzten sich Mitglieder der SA in Marsch, verwüsteten jüdische Wohnungen, steckten Synagogen in Brand und zerstörten die Geschäfte von ungefähr 7 000 jüdischen Geschäftsleuten. Andere nutzten auch die Chance zur Plünderung.

Im Verlauf der Pogrome wurden mehr als 90 Menschen getötet, viele Sittlichkeitsverbrechen geschahen und Tausende von jüdischen Geschäften und Privathäusern wurden zerstört oder geplündert. Mehr als 30.000 Menschen wurden verhaftet, misshandelt und in Konzentrationslager verschleppt. Über den Dächern der Städte und Dörfer sah man die lodernden Flammen der brennenden Synagogen.


Von der Pogromnacht zum Holocaust

Auf die eher ungeplanten Judenpogrome des 9. November folgten weitere, diesmal gezieltere Aktionen der Nazionalsozialisten, mit dem Ziel, Deutschland "judenfrei" zu machen.

In den Tagen nach dem 9. November wurden mehr als 30 000 Juden von der Gestapo und der SS inhaftiert und in die Konzentrationslager Buchenwald, Dachau und Sachsenhausen verschleppt. Die meisten kamen erst frei, nach dem sie sich zur Auswanderung bereit erklärt hatten.

Hermann Göring war Koordinator vieler Maßnahmen, die eine konsequente Entfernung aller Juden aus dem deutschen Wirtschafts- und Kulturleben zur Folge hatte. Jüdische Unternehmen wurden geschlossen. Juden wurden enteignet, beziehungsweise zum Verkauf ihres Eigentums gezwungen. Der Besuch von öffentlichen Veranstaltungen war ihnen verboten, vom Besuch von Schulen und Hochschulen waren sie ausgeschlossen. Zudem gab es Beschränkungen des Wohnrechts, in der öffentlichen Fürsorge, Entzug der Verfügungsrechte über Vermögenswerte und weitreichende Berufsverbote, alles mit dem Ziel, Juden jegliche Existenzgrundlage in Deutschland zu nehmen und sie zur Auswanderung zu bewegen.

Bereits am 26. August 1938 war in Wien die "Jüdische Zentralstelle für Auswanderung" unter Adolf Eichmann eingerichtet worden. Am 24. Januar 1939 wurde die "Reichszentrale für jüdische Auswanderung" unter Leitung von Reinhard Heydrich gegründet. Die "Judenfrage" sollte durch "Auswanderung oder Evakuierung" gelöst werden (Befehl Görings).

Mit Ausbruch des 2. Weltkrieg steigerten sich die Repressionen zunehmend und mündeten über die systematische Ghettoisierung und Deportierung der europäischen Juden schließlich im Holocaust.

Dokument: Anweisung von Reinhard Heydrich vom 10. November 1938

Fernschreiben von Reinhard Heydrich, Chef der Sicherheitspolizei, an Dienststellen der Staatspolizei und des SD vom 10. November 1938 mit Weisungen zum Vorgehen der Polizei bei den antijüdischen Pogromen in der Reichspogromnacht :

"Maßnahmen gegen Juden in der heutigen Nacht.

Aufgrund des Attentats gegen den Leg.Sekretär vom Rath in Paris sind im Laufe dieser Nacht -9. auf 10.11.1938 - im ganzen Reich Demonstrationen gegen die Juden zu erwarten. Für die Behandlung dieser Vorgnänge ergehen die folgenden Anordnungen:

  • 1. Die Leiter der Staatspolizeistellen oder ihre Stellvertreter haben sofort nach Eingang dieses Fernschreibens mit den für ihren Bezirk zuständigen politischen Leitungen - Gauleitung oder Kreisleitung - fernmündliche Verbindung aufzunehmen und eine Besprechung über die Druchführung der Demonstrationen zu vereinbaren, zu der der zuständige Inspekteur oder Kommandeur der Ordnungspolizei zuzuziehen ist.

In dieser Besprechung ist der politischen Leitung mitzuteilen, dass die Deutsche Polizei vom Reichsführer SS und Chef der Deutschen Polizei die folgenden Anweisungen erhalten hat, denen die Maßnahmen der politischen Leitungen zweckmäßig anzupassen wäre:

  • a) Es dürfen nur solche Maßnahmen getroffen werden, die keine Gefährdung deutschen Lebens oder Eigentums mit sich bringen(z.B. Synagogenbrände nur, wenn keine Brandgefahr für die Umgebung vorhanden ist)
  • b) Geschäfte und Wohnungen von Juden dürfen nur zerstört, nicht geplündert werden. Die Polizei ist angewiesen, die Durchführung dieser Anordnung zu überwachen und Plünderer festzunehmen.
  • c) In Geschäftsstraßen ist besonders darauf zu achten, dass nicht jüdische Geschäfte unbedingt gegen Schäden gesichert werden.
  • d) Ausländische Staatsangehörige dürfen - auch wenn sie Juden sind - nicht belästigt werden.
  • 2. Unter der Vorsaussetzung, dass die unter 1. angegebenen Richtlinien eingehalten werden, sind die stattfindenen Demonstrationen von der Polizei nicht zu verhindern, sondern nur auf die Einhaltung der Richtlinien zu überwachen.
  • 3. Sofort nach Eingang dieses Fernschreibens ist in allen Synagogen und Geschäftsräumen der jüdischen Kultusgemeinden das vorhandene Archivmaterial polizeilich zu beschlagnahmen, damit es nicht im Zuge der Demonstrationen zerstört wird. Es kommt dabei auf das historisch wertvolle Material an, nicht auf neuere Steuerlisten usw. Das Archivmaterial ist an die zuständigen SD-Deinststellen abzugeben.
  • 4. Die Leitung der sicherheitspolizeilichen Maßnahmen hinsichtlich der Demonstration gegen Juden liegt bei den Staatspolizeistellen, soweit nicht die Inspekteure der Sicherheitspolizei Weisungen erteilen. Zur Durchführung der sicherheitspolizeilichen Maßnahmen können Beamte der Kriminalpolizei sowie Angehörige des SD, der Verfügungstruppe und der allgemeinen SS zugezogen werden.
  • 5. Sobald der Ablauf der Ereignisse dieser Nacht die Verwendung der eingesetzten Beamten hierfür zulässt, sind in allen Bezirken so viele Juden - insbesondere wohlhabende - festzunehemen, als in den vorhandenen Hafträumen untergebracht werden können. Es sind zunächst nur gesunde männliche Juden nicht zu hohen Alters festzunehmen. Nach Durchführung der Festnahme ist unverzüglich mit den zuständigen Konzentrationslagern wegen schnellster Unterbringung der Juden in den Lagern Verbindung aufzunhemen. Es ist besonders darauf zu achten, dass die aufgrund dieser Weisung festgenommenen Juden nicht misshandelt werden.
  • 6. Der Inhalt dieses Befehls ist an die zuständigen Inspekteure und Kommandeure der Ordnungspolizei und an die SD-Oberabschnitte und SD-Unterabschnitte weiterzugeben mit dem Zusatz, dass der Reichsführer SS und Chef der Deutschen Polizei diese polizeiliche Maßnahme angeordnet hat. Der Chef der Ordnungspolizei hat für die Ordnungspolizei einschließlich der Feuerlöschpolizei entsprechende Weisungen erteilt. In der Durchführung der angeordneten Maßnahmen ist engstes Einvernehmen zwischen der Sicherheitspolizei und der Ordnungspolizei zu wahren.

Der Empfang dieses Fernschreibens ist von den Stapoleitern und deren Stellvertretern durch FS an die Geheime Staatspolizei - z.Hd. SS-Standartenführer Müller - zu bestätigen.

Quelle: IMG, Bd. XXXI, S. 516ff., Dok. 3051-PS

Reichskristallnacht oder Reichspogromnacht?

Bis in die späten achtziger Jahre war der Name der Reichskristallnacht unbestritten; in anderen Ländern ist er das heute noch (siehe Einträge in anderen Wikipedias). Selbst in Deutschland ist die Umbenennung alles andere als unumstritten. Hier soll versucht werden, die Argumente beider Seiten zu präsentieren; ob jemand von Reichskristallnacht oder Reichspogromnacht spricht, deutet nicht auf eine politische Überzeugung hin und sollte jedem Einzelnen überlassen werden.

Reichspogromnacht

Von Befürwortern wird angeführt, Reichskristallnacht sei ein Euphemismus aus dem Vokabular der Nazis.

Des weiteren wüßten heutige Generationen nicht mehr ohne Weiteres, was mit dem Namen gemeint ist; hier sei ein beschreibender Titel vonnöten.

Reichskristallnacht

Kritiker sehen die "Sprachbereinigung" als ein Fall von klassischem Neusprech.

Vor allem führen sie an, daß die Reichskristallnacht ein einmaliges, so nie vorher dagewesenes Ereignis gewesen sei, nämlich die Nacht des 9. November 1938. Nimmt man diesem Ereignis den Eigennamen und gibt ihm eine Kategoriebeezeichnung wie Reichspogromnacht, so leugnet man dessen Singularität - im Reich gab es seit den Kreuzzügen viele Pogromnächte, aber keine davon war die Reichskristallnacht.

Die Perversität und Obszönität dieses Ereignisses wird nach Meinung der Kritiker auch durch nichts annähernd so gut beschrieben als den von den Nazis selbst gegebene Titel "Reichskristallnacht". Eine Umbenennung nimmt diese weitere Dimension der Perversität von dem Ereignis; wie man beim Wort Auschwitzlüge schon gesehen hat, können sich Wortschöpfungen auch gegen ihren Schöpfer wenden und Euphemismen können zum Gegenteil, eine Verstärkung, werden; so wird eine Umbenennung in eine farblose "Reichspogromnacht" plötzlich selbst wieder zu einem starken Euphemismus.

Ansonsten wird angeführt, daß es klar ein Versagen der Kultusminister sein wird, wenn zukünftige Generationen nichts mehr von der Reichskristallnacht wissen, und eine Umbenennung daran nichts ändert (sondern im Gegenteil die Wissensfindung der in vielerlei Literatur auch heute noch so benannten Reichskristallnacht erschwert). Da die Umbenennung leicht als Euphemismus gesehen werden kann, existiert auch die Befürchtung, Deutschland könne durch diesen Akt der Vergangenheitsbewältigung versuchen, die Vergangenheit zu verharmlosen und sich aus seiner Verantwortung zu stehlen - vor allem, weil die Umbenennung ausschließlich den deutschen Sprachraum betrifft und von anderen Ländern nicht mitgetragen wird.