Rechtsphilosophie
Die Rechtsphilosophie ist ein Teilgebiet der Philosophie und der Rechtswissenschaft, das sich mit grundlegenden Fragen des Rechts befasst. Rechtsphilosophische Fragestellungen sind beispielsweise:
- "Was ist Recht?" und "Wie entstehen Rechtsnormen?"
- "Was ist der Grund für die Geltung des Rechts?"
- "In welchem Verhältnis stehen Rechtsnormen zu anderen sozialen Normen, insbesondere zur Moral?"
- "Welchen Inhalt sollte das Recht haben?"
Der Artikel führt in die Rechtsphilosophie des westlichen Rechtskreises ein (europäische Rechtsordnungen, angloamerikanisches Recht). Andere Rechtskreise werden nicht berücksichtigt.
Gegenstand der Rechtsphilosophie und Abgrenzung zu anderen rechtswissenschaftlichen Grundlagenfächern
Die Rechtsphilosophie wendet Erkenntnisse und Methoden der allgemeinen Philosophie, insbesondere der Wissenschaftstheorie, der Logik, aber auch der Sprachwissenschft und Semiotik auf das Recht und auf die Rechtswissenschaft an. Ein Beispiel aus neuerer Zeit ist die Anwendung der Diskurstheorie auf die juristische Argumentation durch Jürgen Habermas und Robert Alexy. Dabei spricht man vermehrt seit einiger Zeit auch von Rechtstheorie, deren Verhältnis zur Rechtsphilosophie schwer abzugrenzen ist.
Gegenstand der Rechtsphilosophie sind nicht die Rechtsanwendung selbst (siehe hierzu: Juristische Methodenlehre) oder die Untersuchung der sozialen Praxis des Rechts (siehe hierzu: Rechtssoziologie). Die Rechtsgeschichte untersucht die Entwicklung des Rechts aus historischer Sicht.
Zentrale Themen der Rechtsphilosophie sind vielmehr:
- Der Begriff des Rechts,
- die Bedeutung des Rechts für die Gesellschaft,
- die inhaltliche Kritik des Rechts,
- ob und unter welchen Voraussetzungen Rechtsnormen verbindlich sind (Geltung des Rechts),
- welche Folgen sich an die Verbindlichkeit oder an die Unverbindlichkeit rechtlicher Normen knüpfen.
Dabei fließen insbesondere in die Auseinandersetzungen zum Rechtsbegriff stets auch Argumente und Überlegungen aus den anderen Gebieten und rechtswissenschaftlichen Grundlagenfächern mit ein. Eine scharfe Trennung zur übrigen Philosophie oder zu den Rechts- oder Sozialwissenschaften ist deshalb nicht möglich.
Ein Teilgebiet der Rechtsphilosophie ist die Staatsphilosophie bzw. die Staatstheorie.
Grundlegende Richtungen der Rechtsphilosophie
Im folgenden sollen die wichtigsten Richtungen der Rechtsphilosophie modellhaft dargestellt werden.
Naturrecht
Naturrechtliches Denken hat es quer durch die Jahrhunderte in unterschiedlicher Weise gegeben. Besondere Bedeutung hat es seit dem Beginn der Aufklärung erlangt.
Eine naturrechtliche Argumentation ist stets empirisch abgesichert. Grundlage ist eine Sozialanthropologie, die Aussagen über "das Wesen des Menschen" trifft. Dieses Menschenbild kann man entweder optimistisch (John Locke in: "Two Treatises on Government", dt.: "Zwei Abhandlungen über die Regierung", Jean-Jacques Rousseau in: "Du contrat social", dt.: "Vom Gesellschaftsvertrag" ["Der Mensch ist frei geboren..."]) oder pessimistisch (Charles de Montesquieu) anlegen. Es ist jedenfalls im Naturrecht der Aufklärung nicht gottgewollt oder gottesgleich, sondern empirisch erkannt.
- Im ersten Fall wird man -- optimistisch -- ausgehen von einen Menschen, der als frei und gleich gedacht wird, und einen Grund dafür suchen, wie dieser "natürliche" Zustand gefestigt und gesichert werden kann. Rousseau sah den Geltungsgrund für alle staatliche Ordnung und die Geltung des Rechts im "Gemeinwillen", der von dem Willen der Mehrheit der Staatsbürger zu unterscheiden sei. Das Recht stützt in dieser Vorstellung die Freiheit im Dienste des Gemeinwohls gegen staatliche Willkür. Die Bürger schließen einen Gesellschaftsvertrag, um ihre angeborene, "natürliche" Freiheit zu sichern. Die Abkehr von der Herrschaftsform des Absolutismus ist dann konsequent.
- Im zweiten Fall wird der Mensch -- pessimistisch -- als seinesgleichen feindselig gesehen. Er schadet anderen Menschen von Natur aus. Deshalb muss er vor ihnen geschützt werden. Der Staat und das Recht dienen aus dieser Sicht der Sicherung der Lebensbedingungen in der Gesellschaft, indem sie die Freiheit des bösen Menschen präventiv begrenzen, und zwar -- wie zuvor -- im Dienste der Allgemeinheit, in diesem Fall aber zur Repression des einzelnen, weil nur so seine Freiheit gesichert werden könne. Diese Denkungsart entbehrt mithin nicht einer gewissen Paradoxie, die angesichts der Prämissen aber unvermeidlich ist. Sie ist eine Grundform konservativen Denkens.
Aus der Sozialanthropologie folgt unmittelbar der Grund für die Legitimität der staatlichen Gewalt und damit für die Geltung des Rechts, das die Organe dieses Staates setzen, und weiter für alles staatliche Handeln. Das Recht gilt, weil es die Bedingungen der Gesellschaft und der menschlichen Natur so erfordern. Aus dem empirischen Sein folgt unmittelbar das normative Sollen.
Diese Grundstruktur naturrechtlichen Denkens bleibt im wesentlichen über die Jahrhunderte erhalten. Variabel sind die Menschenbilder, die zugrundegelegt werden. Neben optimistischen und pessimistischen Sichtweisen treten auch Mischformen auf, in denen beide Züge miteinander kombiniert werden (so auch bei Jean-Jacques Rousseau).
Weitere bedeutende Vertreter dieser Richtung sind Christian Thomasius, Christian Wolff und Samuel von Pufendorf. Ernst Bloch hat sich in "Naturrecht und menschliche Würde" aus marxistischer Sicht insbesondere gegen die Auffassung gewandt, der Mensch sei "von Geburt an frei und gleich ... Es gibt keine angeborenen Rechte, sie sind alle erworben oder müssen im Kampf noch erworben werden."
Das Naturrecht tritt im Laufe der Zeit in unterschiedlicher Form auf. Nach dem zweiten Weltkrieg kam es zu einer Renaissance des Naturrechts, einerseits in Form der Radbruchschen Formel, andererseits in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zum Familienrecht. In BGHZ 11, 65 begründet das Gericht ein eher stark konservativ geprägtes Familienbild, das aus den "natürlichen" Unterschieden zwischen Mann und Frau zurückgeführt wird, die "streng in allem Recht zum Ausdruck kommen" müssten (zitiert nach: Uwe Wesel, Juristische Weltkunde, 1984, S. 72).
Kant
Immanuel Kants "Metaphysik der Sitten" unterscheidet sich von den naturrechtlichen Ansätzen der Aufklärung insoweit, als er aus der -- von ihm ebenfalls entwickelten -- Sozialanthropologie keine Folgerungen für Inhalt und Geltung des Rechts herzuleiten vermag.
Aus dem empirischen Sein folgt für ihn aber kein normatives Sollen. Hierin liegt der Unterschied zum Naturrecht. Das Recht ist vielmehr aus der Vernunft heraus zu erkennen. Empirie und Metaphysik sind in seiner Rechtphilosphie streng voneinander getrennt.
Mit dem Naturrecht gemeinsam ist Kant die Ablehnung der (politischen, physischen) Macht als Geltungsgrund für das Recht. Das Recht hat für Kant keinen zufälligen oder -- in diesem Sinne -- politischen Inhalt (so aber der Rechtsrealismus. Nicht jedes Recht ist rechtens, es muss einen bestimmten Inhalt haben. Dieser Inhalt kann nur erkenntnistheoretisch bestimmt werden.
Rechtspositivismus
Der Rechtspositivismus ist die positivistische Auseinandersetzung mit dem Recht. Nach dieser Auffassung zählen zum Recht nur die positiv gesetzten Normen, nicht hingegen metaphysisch begründetes Sollen. Es gibt kein Recht außerhalb des von staatlichen Organen gesetzten Rechts. Rechtsnormen entstehen somit in einem bestimmten Verfahren. Der Rechtspositivismus ist somit dem Naturrecht diametral entgegengesetzt.
Bekannte Vertreter des Rechtspositivismus sind Jeremy Bentham, John Austin, H. L. A. Hart ("The Concept of Law", "Der Begriff des Rechts") oder Hans Kelsen ("Reine Rechtslehre").
Nach Hart gibt es zwei Arten von Rechtsnormen: primäre, die das eigentliche materielle Recht enthalten, und sekundäre, in denen geregelt ist, wie primäre Normen gesetzt werden sollen. Primäre Normen sind nur insoweit gültige Normen, als sie in Übereinstimmung mit den sekundären Normen gesetzt worden sind. Hierdurch entsteht das Problem des Geltungsgrunds der sekundären Normen. Es kommt zu einem Regress der rechtfertigenen Normen. Hans Kelsen hat den letzten Geltungsgrund in der sogenannten Grundnorm gesehen.
Der Rechtspositivismus ist gerade in neuerer Zeit nicht unerheblicher Kritik ausgesetzt gewesen. Er ist vor allem im angelsächsischen Raum vorherrschend. Nachdem schon kurz nach dem zweiten Weltkrieg Gustav Radbruch, ein Neukantianer, den Positivismus für die Verbrechen der Nationalsozialisten verantwortlich gemacht hatte (Radbruchsche Formel; hiergegen: H. L. A. Hart, Positivism and the Seperation of Law and Morals, 71 Harvard Law Review 593 [1958]), ging auch das Grundgesetz nicht von einem rein positivistischen Rechtsbegriff aus. Rechtsprechung und Verwaltung sind demgemäß in Art. 20 Abs. 3 GG "an Gesetz und Recht" gebunden, nicht nur an das Gesetz. Seit den 1970er Jahren hat sich vor allem Ronald Dworkin ("Taking Rights Seriously", dt.: "Bürgerrechte ernst genommen") gegen rein positivistische Ansätze gewandt und die Auffassung vertreten, es gebe neben "rules" auch "rights", auf die sich der Bürger gegenüber dem Staat berufen könne, auch zur Begründung eines Widerstands gegen das staatliche Recht.
Rechtsrealismus
Als Rechtsrealismus bezeichnet man eine Auffassung, die das Recht als Mittel zur Ausübung von politischer Macht ansieht. Das Recht ist deshalb notwendig positiv gesetzt und -- nach Zweckdienlichkeit -- änderbar. Nicht Gerechtigkeit oder "Richtigkeit" ist das Ziel, sondern allein die Eignung des Rechts zur Herbeiführung eines besimmten (politischen) Zwecks.
Typische Vertreter dieser Richtung sind Niccolò Machiavelli ("Der Fürst") und Thomas Hobbes ("Der Leviatan"), die beiden von von einem pessimistischen Menschenbild ausgehen.
- Aus Hobbes' Werk stammt der Satz: "Auctoritas, non veritas facit legem" (das Recht ist Ausdruck von Macht, nicht von Wahrheit). Der -- absolutistische -- Staat müsse alle Macht in sich vereinen, um den Menschen in der Gemeinschaft vor sich selbst zu schützen: "Homo homini lupus est" (der Mensch ist des Menschen Wolf). Nur der Staat bestimmt, welches Recht gelten soll. Neben dem positiven Recht kann es kein weiteres geben.
- Der Mensch sei schlecht. Deshalb, so Machiavelli, müsse -- und: dürfe -- das Recht listig und rücksichtslos sein, um die Macht des Fürsten zu sichern.
Eine neuere Position ist diejenige des amerikanischen Verfassungsrichters Oliver Wendell Holmes, jr., der in dem Aufsatz "The Path of the Law" (zuerst in: 10 Harvard Law Review 457 [1897]) von dem schlechten Menschen ausgeht, der weniger daran interessiert sei, was der Inhalt das Rechts sei, als vielmehr, wie das Gericht die in Rede stehenden Rechtsfragen im Streitfall entscheiden würde. Das ist folgerichtig sein Rechtsbegriff. "The prophecies of what the courts will do in fact, and nothing more pretentious, are what I mean by the law."
Typisch ist, dass Holmes seinen Standpunkt ausdrücklich nicht für zynisch hält, sondern für realistisch. Das Recht sei beliebig, es unterscheide sich je nachdem, in welchem Staat man sich befinde. Deshalb könne man zur Bestimmung des Rechtsbegriffs nur auf die Rechtspraxis abstellen.
Diese Auffassung ist neben dem Rechtspositivismus eine Hauptrichtung der angelsächsischen Rechtsphilosophie (legal realism).
Aktuelle Forschungsrichtungen der Rechtstheorie
Überblick
Ausgehend vom Rechtspositivismus und von der analytischen Philosophie hat sich in neuerer Zeit eine eigenständige Rechtstheorie entwickelt, die so vielfältig ist, dass sie nicht auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden kann. Gemeinsam ist allen rechtstheoretischen Ansätzen, dass sie das Recht grundsätzlich als eigenständiges System von Normen, die in einer bestimmten Weise gesetzt worden sind, und von den gesellschaftlichen Gegebenheiten gelöst, also abstrakt diskutieren und untersuchen. Auch die Diskurstheorie und die Systemtheorie des Rechts zählen deshalb hierzu (s.u.).
Ausgangspunkt ist die Beschäftigung mit Normen und deren Auslegung mit den Mitteln der Sprachphilosophie und der Semantik bzw. der Semiotik. Damit wird ein Zugang zum Recht über die Erkenntnistheorie und über die formale Logik eröffnet. Hans-Joachim Koch und Helmut Rüßmann haben in ihrer "Juristischen Begründungslehre" rechtstheoretische Ansätze für die juristische Methodenlehre erschlossen.
Der Rechtstheorie geht es nicht um Fragen der inhaltlichen Richtigkeit von Recht -- diese könne man nicht erkennen, die Beschäftigung damit sei unwissenschaftlich --, sondern um die Erforschung der logischen Struktur von Rechtsbegriffen und Rechtssätzen, ihrer axiomatischern Ableitbarkeit und systematischen Ordnung. Zu nennen sind Jürgen Rödig, Eike von Savigny, Norbert Hoerster oder Robert Alexy. Hieraus ist auch die Gesetzgebungslehre entstanden.
Damit ist das Fach aber nicht ein für allemal festgelegt. Es ist vielmehr für neue Entwicklungen offen und kann beispielsweise auch Ansätze aus den Naturwissenschaften oder der Medizin, die für das Recht von Bedeutung sind, aufgreifen.
Diskurstheorie des Rechts
Diskurstheorie des Rechts, Jürgen Habermas und Robert Alexy.
Recht als autopoietisches System
Ökonomische Analyse des Rechts
Ronald Coase, Calabresi, Horn, Michael Adams, Law and Economics
Gerechtigkeitstheorien
John Rawls (A Theory of Justice)
Siehe auch
Literatur
- Helmut Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 5. Aufl., 1993.
- A. Kaufmann/W. Hassemer (Hrsg.), Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 4. Aufl. Heidelberg 1985
- Peter Klein, Das Wesen des Rechts. Ein Versuch zur Rehabilitierung der Rechtsphilosophie und ihrer Kritik in: Krisis 24 (2001).
- Hans-Joachim Koch/ Helmut Rüßmann. Juristische Begründungslehre. 1982.
- Wolfgang Naucke, Rechtsphilosophische Grundbegriffe, 4. Aufl. 2000.
- Viktor Winkler, Some Realism about Rationalism: Economic Analysis of Law in Germany, German Law Journal 2005, 1033.