Wahnsinn
Mit Wahnsinn werden bestimmte Verhaltens- oder Denkmuster bezeichnet, die nicht der akzeptierten sozialen Norm entsprechen. Dabei kann der Begriff für bloße Abweichungen von den Konventionen, für geistige Störungen, bei der ein Mensch bei vergleichsweise normaler Verstandesfunktion an krankhaften Einbildungen leidet, bis hin zur Kennzeichnung völlig bizarrer und (selbst-)zerstörerischer Handlungen verwendet werden. Auch die Krankheitssymptome von Epilepsie oder einem Schädel-Hirn-Trauma konnten als Wahnsinn bezeichnet werden. Synonym gebrauchte Begriffe sind „Verrücktheit“ und „Irrsinn“ („Irre-Sein“), eng verwandt sind Besessenheit und Wahn.

Historisch wurde der Begriff auch in der Fachsprache der Psychopathologie verwendet, bis er im 19. Jahrhundert durch den Terminus Geisteskrankheit abgelöst wurde. Obwohl als Krankheitsbezeichnung in den Fachwissenschaften heute ohne Bedeutung, hat der Wahnsinn als äußerst vielgestaltiges Phänomen in der Geschichte der Menschheit von Anfang an eine wichtige Rolle gespielt. Auch in Kunst und Literatur wurde der Wahnsinn thematisiert und dargestellt.
Heute werden die Wörter „Wahnsinn“ und „wahnsinnig“ im allgemeinen Sprachgebrauch neben ihrer alten Bedeutung auch im übertragenenen Sinn sowohl in positiver als auch in negativer Weise zur Bezeichnung außergewöhnlicher, extremer Zustände benutzt. Die modernen nosolgischen Termini können in aller Regel nicht auf die historischen Ausprägungen von Wahnsinn angewendet werden.
Das Wort „Wahnsinn“ ist eine Rückbildung des 18. Jahrhunderts aus dem Adjektiv „wahnsinnig“, welches schon im 15. Jahrhundert nachweisbar ist. Vorbild war das Wort „wahnwitzig“, welches auf das althochdeutsche wanwizzi zurückgeht. Dabei bedeutet im Althochdeutschen wan (ie. *(e)uə-no „leer“) ursprünglich „leer, mangelhaft“ (vgl. engl. waning). „Wahnwitz“ bzw. „Wahnsinn“ bedeuteten also etwa soviel wie „ohne Sinn und Verstand“. Dadurch, dass wan und Wahn (ahd. wân „Hoffnung, Erwartung“) sprachgeschichtlich zusammengefallen sind, haben sich die Bedeutungen gegenseitig beeinflusst: „Wahn“ wurde zur falschen, eingebildeten Hoffnung, der alte Wortbestandteil wan wird heute als das etymologisch nicht verwandte „Wahn“ wahrgenommen.
Das Althochdeutsche kennt drei Substantive, die markante Zustände der Verstandestrübung und des Wahnsinns beschreiben: sinnelōsĭ, tobunga und unsinnigī. Diesen Begriffen ist eventuell noch das pathologische uuotnissa zur Seite zu stellen, es übersetzt das lateinische dementia. Die Bedeutung von „Wahnsinn durch Besessenheit“ hat unuuizzi. All diese Begriffe tragen ihren Ursprung im Lateinischen (dementia, alienatio und insipienta) und sind nur sehr schwer voneinander abzugrenzen.
Im Mittelhochdeutschen gibt es eine ganze Reihe anderer Begriffe, um Wahnsinn zu bezeichnen; zuerst einmal tôr und narre, aber auch ein großes Wortfeld mit Komposita der Stammsilbe sin(n), wie zum Beispiel unsin, unsinheit, unsinne, unsinnec, unsinnecheit, unsinneclîchen und unsinnen. Dazu kommen noch die bereits erwähnten Komposita der Stammsilbe wan wie wanwiz, wanwizze und wanwitzic und Komposita der Stammsilbe toben wie Tobesuht, tobesite, toben, tobesühtig und tobic oder auch töbic. Bei Hartmann von Aue finden sich noch hirnsühte und hirnwüetecheit. Eher umgangsprachlich waren die Worte tumb und tumbheit, die auf Stummheit verweisen, aber für eine Vielzahl psychischer Defekte verwendet wurden.
Da die Formen des Wahnsinns sehr vielfältig sind, können die Symptome sehr unterschiedlich ausfallen. In jedem Fall bewegen sich die Verhaltensweisen und Ausdrucksformen der Wahnsinnigen in bestimmter Form außerhalb der Norm und sind, im buchstäblichen Sinne, verrückt.
Häufig äußert sich Wahnsinn durch einen Kontrollverlust über die Affekte, so dass Gefühle ungehemmt gezeigt und ausgelebt werden. Das Verhalten bewegt sich außerhalb der Vernunft, die Folgen des eigenen Tuns für sich und andere werden nicht mehr bedacht. Hinzu kann der Ausfall einzelner kognitiver Fertigkeiten treten. Der Unterschied zwischen der inneren und der äußeren Wirklichkeit kann gegebenenfalls nicht mehr erkannt werden. Die Wahrnehmung der Realität ist gestört. Beispiele für die katastrophalen Folgen finden sich bereits in der antiken Mythologie: Herkules tötet im Wahnsinn seine Kinder, Ajax metzelt die Schafherde des Odysseus nieder und stürzt sich ins eigene Schwert, der edonische König Lykurg trennt sich selbst die Beine ab, Medea erdolcht ihre Söhne und Melampus kastriert sich mit tödlichem Ausgang selbst.
Die konkreten Ausprägungen des Wahnsinns bewegen sich in einem breiten Spektrum zwischen extrem gesteigerter Aktivität und katatonem Stupor. In ersterem Fall können manisches und agitiertes Handeln bestimmend sein, in letzterem Fall depressives oder teilnahmsloses Dahindämmern.
Bildliche Darstellungen
Literatur und bildende Kunst können einen Eindruck von dem vermitteln, welche symptomatischen Ausprägungen in früheren Zeiten unter "Wahnsinn" verstanden wurden. Natürlich handelt es sich dabei um Quellen, die mit besonderer Vorsicht verwendet werden müssen. Zwar kann eine Ikonographie des Wahnsinns nur auf Grundlage eines Fundus der bereits vorhandenen Vorstellungen seiner Erscheinungsformen entstehen. Die konkreten künstlerischen Darstellungen wirken dann allerdings auch wieder auf die Erwartungen des Publikums zurück, das heißt es ist grundsätzlich eine gegenseitige Bedingtheit stereotyper Modelle zu erwarten. Sowohl das ästhetische, als auch das medizinisch-diagnostische Krankheits-Bild sind oftmals Projektionen, die die Realität verzerrt wiedergeben oder aber sogar formen können.
In den bildlichen Darstellungen manifestiert sich der Wahnsinn durch verzerrte Mimik, eine unnatürliche verdrehte Körperhaltung, widersprüchliche oder sinnlose Gestik, durch absurde Handlungen, Darstellung von Halluzinationen oder einfach nur unter Zuhilfenahme der Physiognomie.
Das Gesicht ist die bevorzugte Körperregion, die zur Kenntlichmachung des Wahnsinns verwendet wird. In erster Linie deuten unharmonische, asymmetrische und verzerrte Gesichtszüge bis hin zu Grimassen und weit aufgerissenen oder verdrehten Augen auf geistige Zustände jenseits der Normalität hin. Der Situation unangemessene Mimik, etwa das Lachen in einer Trauersituation, sind ein starkes Hinweis für Wahnsinn.
Die Gestik der Wahnsinnigen ist häufig widersprüchlich oder undeutbar. Theatralische Verrenkungen und widerstrebende Bewegungsrichtungen verschiedener Körperteile gehören hier ebenso dazu wie ungewöhnliches An- oder Entspanntsein der Muskulatur. Als Extreme sind völlig verkrampfte Haltungen oder erschlafftes Zusammengesunkensein möglich. Bei der Darstellung von Frauen kann eine erotisch-unschamhafte Komponente hinzutreten.
Die medizinischen Illustrationen dürfen aus den bereits genannten Gründen in ihrem Quellenwert nicht weniger kritisch eingeschätzt werden, als die künstlerischen Gestaltungen. Die ersten zu wissenschaftlichen Zwecken angefertigten Bilder sind die Krankenbilder von Théodore Géricault, der in der Salpêtrière zwischen 1821 und 1824 zehn Wahnsinnige im Dienste der Medizin portraitierte. Welche Formen des Wahnsinns die Bilder darstellen wollten, ist nicht mehr bekannt. Bemerkenswert ist der Verzicht auf übertrieben verzerrte oder groteske Elemente. Die Darstellung der Krankheit spiegelt sich nur in der Physiognomie der Dargestellten.
Literarische Darstellungen
Der Abschnitt des Iweins in dem der Wahnsinn, die Flucht und das Waldleben des Löwenritters beschrieben wird, ist ein sehr häufig interpretierten Abschnitt des Werks. Der Löwenritter Iwein versäumt eine von seiner Frau gestellte Frist und verliert damit ihre Gunst. Daraufhin flieht er vom Hof, wird tobsüchtig und fristet als unbekleideter Wahnsinniger sein Leben im Wald:
dô wart sîn riuwe alsô grôz
daz im in daz hirne schôz
ein zorn unde ein tobesuht,
er brach sîne site und sîne zuht
und zarte abe ssen gewant,
daz er wart blôz sam ein hant.
sus lief er über gevilde
nacket nâch der wilde.
- (Hartmann von Aue, Iwein, vv. 3231-3238)
Später wird er durch eine Zaubersalbe der Fee Feimorgan geheilt, und bewältigt seine Identitätskrise, indem er sein bisheriges Leben für einen Traum hält und fortan als Bauer sein Leben fristet. Die Forschung hat im Iwein eine meisterhafte und psychologisch stimmige Darstellung der psychischen Erkrankung des Wahnsinns sehen können. Schon früh sei hier sehr genau die Ätiopathogenese als auch die Symptomatik und die Heilung von Wahnsinn beschrieben. Ähnlich schildert es auch die mittelhochdeutsche Version des Lancelot von Ulrich von Zatzikhoven:
- Er stunt uff zu mitternacht also blutig und sprang zu eim fenster uß in sim sydercleide und in sim hemde, sin swert alber in syner hende, und was das groß wunder das der sichselb da mit nit dödet da er zum fenster uß viel. - Alsus ist Lancelot dobesuchtig hinweg gelauffen,... (Ulrich von Zatzikhoven, Lancelot, I. 596,30-597,1)
Lancelot erlebt hier eine durchaus angenehme Form des Wahnsinns. Im verlornen walt trifft er auf eine Tafelrunde aus Rittern und schönen Damen. Er verfällt der tanzwut und erfährt schließlich eine glückliche Amnesie.
- Er hub an zu singen und mit den fúßen zu schlahen und zu bochen als die andern daten, me wann er ye gethan hett. Und da yne der knecht also stellen sah, hielt er yn vor eyn narren. (Ulrich von Zatzikhoven, Lancelot, II. ,317,19-21)
In der anonymen Märe Der Bussard aus dem 14. Jahrhundert verliert ein Königssohn seine Braut und steigert sich in krankhaften Liebeskummer (amor hereos). Seine Verzweiflung steigert sich durch Weinen und Haareraufen. Dann bricht der Wahnsinn über ihn herein und der Königssohn wird zum Tier. Bis zum Happy End vegetiert er als Waldmensch dahin.
Auf den Aspekt einer häufig anzutreffenden Reduktion der Sprache der Wahnsinnigen auf die Kindersprache (Wiederholungen, Lautmalerei, Reduplikation) wird bereits im Epos Tristan und Isolde von Eilhard von Oberge angespielt:
go go go go go go got
grüeze iuch, vrouvwe, sunder spot;
- (V. 5175)
vriuntel machen, vriuntel machen!
sprach er und begonde lachen:
Nimmer tuon, nimmer tuon!
- (V. 5239-5241)
Eines der eindrücklichstes Werke über den Wahnsinn dürfte Nikolai Wassiljewitsch Gogols Groteske Tagebuch eines Wahnsinnigen sein. Die detaillierte Darstellung der beständigen Realitätsverneinung und Flucht in eine Traumwelt bei gleichzeitigem körperlichem Verfall, stellt eine sehr eindrucks- und reizvolle künstlerische Gestaltung der Mania dar. Das Tagebuch eines Wahnsinnigen beschreibt in der Ich-Perspektive die Geschichte des Amtsschreibers Poprischtschin, der eines Tages auf zwei sprechende Hunde trifft, die von sich auch behaupten in Korrespondenz zu stehen. Poprischtschin ist unglücklich in die Tochter seines Chefs verliebt, die für ihn unerereichbar ist und gibt sich seinen Depressionen hin. Bald kann er die Briefe der Hunde beschlagnahmen und lesen, später erfährt er aus der Zeitung, dass der spanische Thron verwaist ist. Er erkennt sich selbst als den legitimen König von Spanien. In solch hoher Position tritt er vor die geliebte Sophie und prophezeit ihr, dass sie zusammenfinden werden. Poprischtschin wird in die Irrenanstalt eingewiesen, glaubt aber er sei in Madrid, der Oberarzt aber der spanische Inquisitor.
Formen
Wahnsinn
In der Antike konnten dichterische Inspiration und das Sehertum Formen des Wahnsinns darstellen. Im Altgriechischen ist μανία, manía „die Raserei“ verwandt mit dem sehr ähnlichen griech. μαντις, mantis, das ist „der Seher“, „der Prophet“. Auch die Ekstase galt als Wahnsinn, insbesondere die dionysische Raserei.
Platon unterscheidet vier Formen des produktiven Wahnsinns: den mantischen, mystischen, poetischen und erotischen Wahnsinn. Wie Platon im „Timaios“ ausführt, von Übel ist, führt der göttliche Wahnsinn zu wahrem Wissen und ist somit positiv besetzt.
Ähnlich der antiken Auffassung gab es auch im Mittelalter sanktionierten Wahnsinn. Dieser äußerte sich etwa in geistlicher Ekstase, Verzückungen oder Visionen. Zudem konnten Heilige in einen „guten“ Wahnsinn geraten.
Unvernunft
Die in der Neuzeit bestimmende Charakterisierung von Wahnsinn nimmt Immanuel Kant in seiner Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798) vor. Diese wegweisende Einteilung basiert auf der Dichotomie von Vernunft und Unvernunft. Diejenigen, die er als "Verrückte" kategorisiert, teilt er die Krankheitsformen "Wahnsinn", "Wahnwitz" und "Aberwitz" zu. Seine Einschätzung des Wahnsinns als "methodische Verrückung", die sich durch "selbstgemachte Vorstellungen einer falsch dichtenden Einbildungkraft" auszeichnet, wird zur klassischen Definition des Wahnsinns im 18. und 19. Jahrhundert. Wahnwitz ist für Kant hingegen eine systematische, wenngleich nur teilweise Störung der Vernunft, die sich als "positive Unvernunft" äußere, da die Betroffenen andere Vernunftregeln gebrauchen als die Gesunden. Gemein ist allen Formen des Wahnsinns nur der Verlust des Gemeinsinns (sensus communis), der durch einen logischen Eigensinn (sensus privatus) ersetzt wird.
Melancholie
Eine andere Form des „Wahnsinns“ wird zwar schon in der Antike beschrieben, wird aber vor allem bei den Gebildeten seit dem Humanismus als „Modekrankheit“ populär: die Krankheit der Melancholie. Zwar galt der Konstitutionstyp des Melancholikers im Mittelalter als der am wenigsten erstrebenswerteste, da dieser mit dürftigem Körperbau, unattraktivem Erscheinungsbild und unerfreulichen charakterlichen und geistigen Eigenschaften veranlagt war, doch lag in der Melancholie als Krankheit eine bereits bei Aristoteles und Cicero angedeutete Möglichkeit der Selbstgenialisierung verborgen, die im Humanismus nun in einem "Melancholie-Kult" gepflegt wird. Der kreative Künstler und Denker bewegte sich dieser Vorstellung nach stets zwischen Genie und Wahnsinn. Noch Schelling bezieht sich auf diese alte Lehre, wenn er behauptete, dass nur Menschen, die ein wenig wahnsinnig sind, kreativ sein können (nullum magnum ingenium sine quadam dementia). Diese Form der Selbststiliserung wurde erst im 19. Jahrhundert allmählich unpopulär.
Manie
Im Gegensatz zur Melancholie stand immer die Mania. Diese war als Delirium sine febre cum furore et audacia # definiert. In der Abgrenzung zur Melancholie wird hier die größere Wildheit, Aufgeregtheit und Hitzigkeit der Mania betont. Joannes Fernelius schrieb:
- „[Die Mania...] ist in Gedanken, Worten und Werken dem Wahnwitz der melancholischen ähnlich, doch quält und treibt sie die Kranken mit Jähzorn. Streitsucht, Geschrei, entsetzlichem Aussehen, mit weitaus größerem körperlichem Ungestüm und geistiger Verwirrung umher“ (vgl. Kutzer, S. 92).
Sonstige Formen
Zum Wahnsinn wurden bisweilen auch nicht-psychische Krankheiten gezählt, wie die Epilepsie oder die Tollwut (Rabies), aber auch fiktive Phänomene wie die Lykanthropie . Auch substanzinduzierte Bewußtseinstörungen wie Rausch- und Vergiftungszustände (Alkohol, Pflanzengifte) konnten unter Wahnsinn subsumiert werden.
Eine besondere Formen stellt die massive Intelligenzminderung dar. Den Frauen vorbehalten war die Hysterie, von der man annahm, daß diese durch ihre reproduktiven Anlagen verursacht sei. Die Liebeskrankheit (amor hereos / morbus amatoris) ist ein Wahnsinn, der sich bei unerfüllter oder unglücklicher Liebe einstellt.
Im medizinisch-naturwissenschaftlichen Paradigma der Moderne - die auf den Konzepten der Aufklärung basiert - ist Gesundheit der Maßstab des Konzeptes von Normalität. In der Folge wird automatisch alles, was nicht "normal" ist, als krank betrachtet. Dieses muß „geheilt“ und „reintegriert“ werden. Dazu kann alles gehören, was nicht den kulturellen, gesellschaftlichen, moralischen oder juristischen Vorstellungen der Zeit von akzeptablen Verhalten entspricht. Aus Abgrenzungsgründen bildet sich automatisch ein ein Stereotyp des Gesunden aus.
Ursachen/Erklärungsmodelle
Der erste, der den Komplex des Wahnsinnsbegriff behandelte, war Platon in seinem Werk „Phaidros“. Dort unterscheidet er zwei Hauptformen: jenen Wahnsinn, der durch menschliche Krankheit, und jenen, der durch göttliche Gabe verursacht ist. Daran anschließend wird hier nach natürlichen und übernatürlichen Erklärungsversuchen für den Wahnsinn unterschieden.
Übernatürliche Erklärungsmodelle
Magisch-heidnische Vorstellungen
Bei den Babyloniern (ca. 19. Jahrhundert v. Chr. - 6. Jahrhundert v. Chr.) und Sumerern (ca. 2800 v. Chr. bis 2400 v. Chr.) galt Wahnsinn als durch Besessenheit, Zauberei, dämonische Bosheit, den Bösen Blick oder durch das Brechen eines Tabus verursacht. Er war Richtspruch und Strafe zugleich.
Auch im antiken Griechenland ging die volkstümliche Auffassung zumeist von einer „Besessenheit durch böse Geister“ aus. Daneben gab es die Vorstellung, daß Wahnsinn von einer göttlichen Macht geschickt würde. Während die somatisch bedingte Krankheit der Seele, wie Platon im „Timaios“ ausführt, von Übel ist, führte diesem Konzept nach der göttliche Wahnsinn zu wahrem Wissen und war somit durchaus positiv besetzt. In den antiken Mythen führte es allerdings fast immer zur Selbstzerstörung und zur Tötung Unschuldiger - meist von Familienmitglieder - wenn die Götter den Wahnsinn schickten. Wahnsinn galt dort in der Regel als durch Hybris, Stolz oder Ehrgeiz selbst verschuldet.
Im Mittelalter wurde der „gewöhnliche“ Wahnsinn" in der Vorstellung der Menschen allerdings vom Teufel verursacht oder durch Hexen gebracht. Insbesondere unkontrolliertes Handeln und Sprachensprechen (Glossolalie) wurden als teuflisch (lat. maleficum) angesehen.
Christlich-religiöse Vorstellungen
Bereits im Alten Testament ist der Wahnsinn eine Strafe, die auf göttliches Eingreifen zurückzuführen ist. So heißt es etwa in Dtn 28,28: „Der Herr schlägt dich mit Wahnsinn, Blindheit und Irresein“. Eine solche Strafe trifft die Figur des Nebukadnezar aus dem Bericht in Dan 4,1-34. Nebukadnezar ist ein überheblicher Tyrann, der die Juden verfolgt. Durch eine himmlische Stimme wird ihm tiefste Erniedrigung angekündigt. Er verfällt dem Wahnsinn und muß 7 Jahre lang wie ein Tier leben und Gras fressen. Diese Gestalt des Nebukadnezar ist die Vorlage für die mittelalterliche Sichtweise der Ursachen für der Wahnsinn schlechthin. Da er wegen der Erzsünde der Hochmuts erniedrigt wurde, lagen Bezüge zwischen Sünde und Wahnsinn nah: Hugo von Sankt Viktor betonte etwa den pädagogischen Aspekt von Nebukadnezars Wahnsinn.
Wahnsinn wird in der Regel als Besessenheit interpretiert. Der offenkundigste alttestamentarische Fall findet sich bei König Saul (1 Sam 9,2 - 31,13). Saul zieht den Zorn Gottes auf sich, weil er die Amalekiter nicht vollständig ausrottet und wird von einem bösen Geist besessen, der ihn mit Wahnsinn und Raserei quält: „Am folgenden Tag kam über Saul wieder ein böser Gottesgeist, so daß er in seinem Haus in Raserei geriet.“ (1 Sam 18,10). Diese Geschichte von Saul wurde im Mittelalter immer wieder dahingehend verwendet, die Theorie von Besessenheit durch Dämonen und Teufel - vor allem in der Inquisition - zu stützen. Erst Mitte des 17. Jahrhunderts beginnen niederländische Calvinisten, diese Bibelstelle im Sinne der Beschreibung einer Geisteskrankheit auszulegen.
Auch im Neuen Testament finden sich Fälle von Wahnsinn. Das prominenteste Beispiel ist die Heilung des Besessenen von Gerasa durch Jesus (Mt 8,28-34; Mk 5,1-20, Lk 8,26-40). Bei Matthäus heißt es:
- „3Man konnte ihn [den Mann] nicht bändigen, nicht einmal mit Fesseln. 4Schon oft hatte man ihn an Händen und Füßen gefesselt, aber er hatte die Ketten gesprengt und die Fesseln zerrissen; niemand konnte ihn bezwingen. 5Bei Tag und Nacht schrie er unaufhörlich in den Grabhöhlen und auf den Bergen und schlug sich mit Steinen.“
Aber auch die Apostel waren fähig, Wahnsinn zu heilen (zum Beispiel in Apg 5,16).
Im Mittelalter wurde der Wahnsinn in der Regel auf das Einwirken Gottes zurückgeführt.
In der Inquisition verdichtet sich die Auffassung von Wahnsinn als Form der Besessenheit von Dämonen, Teufeln und bösen Geistern. Im Hexenhammer („Malleus maleficarum“) wird en detail erklärt, welche Ursachen eine solche Besessenheit haben kann und wie sie zu heilen ist. Gründe waren zum Beispiel eine schwere persönliche Sünde, manchmal aber aber ein großer Verdienst, der die Aufmerksamkeit Satans erregt hat. Eine weitere Möglichkeit ist die Behexung. Da nach Johannes Cassianus niemand ohne die Zulassung Gottes von Geistern versucht werden kann, und das alles
- „von Gott unserem liebevollsten Vater und gnädigstem Arzte zu unserem Nutzen verhängt wird, und deswegen ist Besessenheit und Wahnsinn dem Menschen als Zuchtmeister zur Demütigung beigegeben, damit sie beim Abscheiden aus dieser Welt Läuterungen zum anderen Leben mitnehmen“ (vgl. Sprenger II Seite 225).
Bedeutung erlangte im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit auch die Vorstellung des Kampfes um die Seele (s.a. Prudentius, „Psychomachie“). Diese besagte, daß die Mächte Gottes und des Teufels um die Seele des Menschen kämpften. Als Folge könne geistige Verwirrtheit eintreten.
Natürliche Erklärungsmodelle
Geistig-moralisch
Im homerischen Epos bedeutete das griech. Μαινεται (mainesthai) „rasen“, „toben“ oder „von Sinnen sein“. Dieses Verhalten außerhalb der Normen war in der Regel durch den Verlust der Affektkontrolle bedingt. Unter "gewöhnlichem" Wahnsinn verstanden die alten Griechen also die Beeinträchtigung oder Ausschaltung des nüchternen Verstandes, zum Beispiel durch Schmerz, Wut, Hass oder Rachegelüste. Auch in der Attischen Tragödie, die existentielle und elementare Konflikte behandelt, wurde der Wahnsinn als Verlust des Selbst gesehen, der katastrophale Folgen für den Betroffenen und die Gemeinschaft haben konnte.
Nach Ende des Mittelalters, das vor allem dem Erklärungsmodell der Besessenheit verhaftet war, veröffentlichte Johann Weyer (1515-1588) im Jahre 1563 die Streitschrift „De praestigiis daemonum“ gegen den Hexenhammer und die Inquisition. Er sah Wahnsinn als eine Krankheit des Geistes und setzte den religiösen Irrungen ein rationales medizinisches Paradigma entgegen. Er bleibt jedoch ein Einzelkämpfer, der sich gegen den Aberglauben und Klerus nicht durchsetzen kann. Dennoch konnte er sich auf Theophrast von Hohenheim (Paracelsus) (1493-1541) und Felix Platter (1536 - 1614) stützen, die wie er Vorkämpfer der medizinischen Psychiatrie waren. Platter behauptete, dass nicht jede Form von Wahnsinn automatisch durch Dämonen verursacht sei. Besonders im „gemeinen Volk“ fänden sich oft „einfache Irre“, nicht jeder Geistesgestörte sei automatisch verflucht.
Seit dem 13. Jahrhundert - so Michel Foucault - begann sich das Verständnis von Wahnsinns allmählich zu wandeln. Er reihte sich allmählich in die Liste der Laster ein, die von Unmoral und Unvernunft des Betroffenen kündeten. Im 15. Jahrhundert stand Wahnsinn dann nicht mehr unbedingt in einem dämonischen Kontext. Stattdessen wurde nun oftmals die individuelle "menschliche Schwäche" der Betroffenen ins Zentrum gerückt: Torheit und Narrheit liegen in der Verantwortung des Einzelnen, der seine Zucht- und Maßlosigkeit nicht zu zügeln vermag. Das falsche Verhalten hat den Wahnsinn zu Konsequenz. Dieser gilt als Gebrechen und Fehlerhaftigkeit seines Trägers und wird in der Folge zum Stigma. Entsprechend wird der Narr, als jemand, der sich an den Grenzen oder außerhalb der Normen bewegt, der Lächerlichkeit preisgegeben.
Das "Zeitalter der Vernunft" bildete die Bedeutung des Wahnsinns als Fehlfunktion einer ursprünglich gesund angelegten Vernunft aus. Wahnsinn wird als der defekte Modus einer natürlichen Vernünftigkeit begriffen. In diesem Konzept begrenzt und bedingt sich das komplementäre Begriffspaar gegenseitig. Dieses aufklärerische Herausarbeiten der Vernunft bringt den Wahnsinn - als Unvernunft - als notwendigen Gegenpart zur hervor, um den Vernunftbegriff überhaupt sinnvoll konstitutieren zu können. Michel Foucault hält diese Entwicklung zugleich auch verantwortlich für den parallel stattfindenden Beginn der Ausgrenzung des Wahnsinns und der Wahnsinnigen aus der Gesellschaft. Arthur Schopenhauer weist auf die gegenseitige Bedingtheit von Vernunft und Wahnsinn hin, wenn er postuliert, daß Tiere des Wahnsinns nicht fähig sind.
Körper
Die griechische Medizin erklärte den Wahnsinn durch einen „Überfluß an schwarzer Galle“ (griech.: χολή μελανοία, chole melanoia). Diese humoralpathologische Auffassung des hippokratischen Corpus war bereits frei von religiös-magischen Vorstellungen. In Humanismus und Renaissance wurde diese Theorie der „schwarzen Galle“ (lat. bilis atra) wieder populär. Deren dunkle Säfte und rußigen Dämpfe - so glaubte man - schlug sich auf das Gehirn, das schon als Sitz des Verstandes erkannt war, nieder, zermürbte es und machte es spröde machen. Die gelbe Galle (lat. bilis pallida bzw. bilis flava) hingegen konnte verursacht nach Daniel Sennert hitzige Raserei und konnte Grund für den cholerischen Wahnsinn sein. Ebenso wie für die Mania galt die gelbe Galle als Ursache auch als Ursache der Epilepsie, die zwar eher im Grenzgebiet des Wahnsinnsbegriffes liegt, in der Geschichte oftmals dennoch in diesem Umfeld angesiedelt wurde.
Die Melancholie wurde als Krankheit des Herzens eingestuft, welches im Gegensatz zum Hirn als Sitz von Gemüt und Gefühl angesehen wurde. Diese Lokalisation war aber auch nicht unumstritten. Girolamo Mercuriale etwa beschrieb die Melancholie als Störung der Imaginatio im vorderen Teil des Gehirns. Große Einigkeit bestand darin, dass die Phrenitis, eine Entzündung der Gehirnhäute eine Ursache für Wahnsinns sei, deren Ursache wiederrum „grimmige, bitter gewordene Galle sei, die die Fasern des Gehirns reizt.“ (Joannes Fantonus, 1738). Eine besondere Rolle kam auch der Milz zu, die als das Reservoir der von der Leber erzeugten schwarzen Gallensäfte galt. Wenn die schwarze Galle von der Milz nicht richtig angezogen würde und sich dem Blut beimsiche, so gelange sie ins Hirn, und richte dort großen Schaden an (Ioannes Marinellus, 1615.)
Der Melancholie nicht unähnlich ist der Komplex der Liebeskrankheit, amor hereos oder auch Morbus amatorius. Die Verbindung ist hier augenfällig, wenngleich Wahnsinn als eine durch unerfüllte Liebe verursachte körperliche Krankheit schon in der Antike um 600 v. Chr. von der Dichterin Sappho geschildert wird und auch im Corpus Hippocraticum wieder auftaucht.
Früh wurden auch schon Verbindungen zwischen Verletzungen des Gehirns und Wahnsinn gezogen. So beschrieb Wilhelm von Conches (um 1080-1154) bereits Ursachen für den Wahnsinn durch Verletzungen des Gehirns: Der Betroffene verliere eine Fähigkeit, behalte aber die übrigen entsprechend der unbeschädigten Gehirnbereiche. Auch Mondino di Liuzzi (ca. 1275-1326) schuf eine Ventrikellehre der Pathologie: „Ausfälle der mentalen Vermögen sind mit Läsionen der entsprechenden Gehirnteile gleichgesetzt“ (vgl. Kutzer, S. 68f.).
Für den Arzt Franz Joseph Gall (1758-1828) zählte das Irresein zu den Krankheiten, die grundsätzlich materielle Ursachen hatten. In seiner Wiener Praxis begann er nach 1785 die Anatomie des Gehirns und neurologische Grundfragen zwischen Organstruktur und -funktion zu untersuchen. Er kam zu dem Ergebnis, dass das Gehirn aus vielen einzelnen Einheiten besteht, deren individuelles Versagen zu spezifischen Formen des Wahnsinns führen konnte. Damit begründete er die Phrenologie (gr. phren Zwerchfell, als Sitz der Seele in der griechischen Antike), deren Verbindung mit der Kraniologie (griech. kranion Schädel) versprach, durch einfaches Abmessen der Schädelform die Bestimmung von Intelligenz, Charakter und moralischer Verfasstheit eines Menschen zu ermöglichen.
Die positivistische Psychiatrie erhob den Anspruch, dass alle Erscheinungen des Wahnsinns nicht nur auf eine nachvollziehbar-kausale, körperliche Ursache zurückzuführen, sondern auch zu beheben sein werde. Der Geist, die Seele wurde zur bloßen Marionette des Hirnorgans. Diese naturwissenschaftlich-anatomisch fundierte Psychiatrie setzte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts endgültig durch. Das psychiatrische Paradigma lautet: Krankheiten des Geistes sind Krankheiten des Gehirns. In der Folge wurde der Begriff „Wahnsinn“ als nosologischer Fachterminus obsolet und durch die Bezeichnung Geisteskrankheit abgelöst.
Am Ende des 19. Jahrhunderts rückt der Zusammenhang zwischen Wahnsinn und Sexualität in den Mittelpunkt des Interesses. Basierend auf dem Gegensatzpaar Natur–Kultur spielt die Geschlechtszugehörigkeit nun eine wichtige Rolle. Wilde, Angehörige der Unterschicht und Frauen gehörten dem Bereich des Triebhaften an, Männer der bürgerlichen Zivilisation. Frauen galten aufgrund der "Pathogenität des weiblichen Unterleibs" und der "Inferiorität der weiblichen Nerven" als besonders vulnerabel: Pubertät, Menstruation, Geburt und Menopause galten als gefährlich. Die Lokalisation des "Krankheitsherdes" führte zum spezifischen Begriff der Hysterie (von gr. hystera Gebärmutter). In dieser Zeit wurde den Frauen geistige Gesundheit teilweise nur noch als kurze Unterbrechung der Krankheit zugestanden.
Die moderne Neurologie geht davon aus, dass sich der Geist durch eine Beschreibung der Funktion von Nervenzellen und chemischen Vorgängen im Hirn fassen lässt. Was sich nicht naturwissenschaftlich erklären lässt, fällt automatisch in den Bereich der Psychiatrie beziehungsweise Psychologie. So unterscheidet die Medizin auch heute diejenigen psychischen Erkrankungen die sich körperlich erklären lassen - wie Verletzungen des Gehirns, Hirnhautentzündung, Epilepsie, Creutzfeldt-Jakob-Krankheit und viele andere - von denen, die sich nach heutigem Wissen (noch) nicht durch körperliche Gegebenheiten begründen lassen.
Seele
Nachdem der Begriff „Wahnsinn“ im 19. Jahrhundert durch den Begriff der Geisteskrankheit ersetzt wurde, der sich von der Vorstellung ableitete, dass dem Menschen ein Geist, beziehungsweise eine Seele innewohnt und diese erkrankt sein könne (s. z.B. Psychoanalyse), wandelt sich der Begriff im 20. Jahrhundert erneut. Heute werden die Erscheinungen, die unter "Wahnsinn" gefaßt wurden im allgemeinen nicht mehr mit dem Terminus „psychische Erkrankung“ benannt, sondern als "psychische Störung" oder auch „Verhaltensstörung“ bezeichnet. Diese Störungen werden nicht mehr in einem allgemeinen Begriff zusammengefaßt, sondern fein differenziert; einen guten Überblick über das große Sprektrum dieser Störungen bietet die Liste psychischer Störungen.
Die Diagnostik des Wahnsinns begann im Jahr 1793, als der Mediziner und Philanthrop Philippe Pinel (1745-1826) Leiter der Pariser Kranken-, Irren- und Besserungsanstalten zuerst in Bicêtre, dann in Salpêtrière wird. Er führte humanere Behandlungsmethoden ein und klassifizierte die Insassen nach ihren individuellen Problemlagen. Wenn es möglich war, überwies er sie soweit dies sinnvoll war an andere Instutionen. Die zurückbleibenden Wahnsinnigen brachte er abhängig von ihrer Symptomatik in jeweils eigenen, abgetrennten Bereichen unter. Der nun gleichsam isolierte Wahnsinn konnte in seinen Eigenarten nun mit empirisch-naturwissenschaftlichen Methoden untersucht werden. Die äußerlich sichtbar werdenden Krankheitszeichen, die Pinel akribisch beobachtete und mit der individuellen Biographie des Kranken verknüpfte, wurden durch seine Monographie Nosographie philosophique ou méthode de l'analyse appliquée à la médecine (Paris 1798) maßgeblich für die zukünftige Klassifikation des Wahnsinns.
Immanuel Kant teilte in seiner Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798) eine auf der Dichotomie Vernunft-Unvernunft basierende, wegweisende Einteilung der Geisteskranken vor. Diejenigen, die er als "Verrückte" kategorisiert, teilt er die Krankheitsformen "Wahnsinn", "Wahnwitz" und "Aberwitz" zu. Seine Charakterisierung des Wahnsinns als "methodische Verrückung", die sich durch "selbstgemachte Vorstellungen einer falsch dichtenden Einbildungkraft" auszeichnet, wird zur klassischen Definition des Wahnsinns im 18. und 19. Jahrhundert. Wahnwitz ist für Kant hingegen eine systematische, wenngleich nur teilweise Störung der Vernunft, die sich als "positive Unvernunft" äußere, da die Betroffenen andere Vernunftregeln gebrauchen als die Gesunden. Geimein ist allen Formen des Wahnsinns nur der Verlust des Gemeinsinns (sensus communis), der durch einen logischen Eigensinn (sensus privatus) ersetzt wird.
Magische Therapie
Eine Heilung des Wahnsinns wurde oft durch magische Mittel versucht. Der Besessenheit durch böse Geister begegnete man gerne mit einem Exorzismen, der auch den Katholischen Gläubigen immer zur Verfügung stand. Diese konnten auch Pilgerreisen zu besonderen Wallfahrtsstätten unternehmen oder Messen lesen lassen. Bei den Protestanten wurde in späterer Zeit das Gebet, die geistliche Beratung und das Lesen der Bibel bevorzugt.
Der Hexenhammer enthielt detaillierte Informationen über verschiedene Arten von Besessenheit, Möglichkeiten diese zu „heilen“ und Hinweise darüber, wie die „Hexen“ zu bestrafen waren.
Chirurgische Therapie
Bohrungen (Trepanationen) an steinzeitlichen Schädeln können als erste historisch fassbare Hinweise gelten, die auf eine Auseinandersetzung mit dem Wahnsinn hindeuten. Paläopathologen vermuten, dass es sich hierbei um Versuche einer chirurgischen Behandlung von Geisteskranken gehandelt haben könnte, bei denen "bösen Geistern" eine Möglichkeit zum Entweichen aus dem Schädel des Patienten geschaffen werden sollte.
Die Schattenseiten der psychiatrischen Medizin zeigten sich in Therapieversuchen des 19. und 20. Jahrhunderts wie der Kliterektomie, Lobotomie oder der allzu leichtfertig eingesetzten Elektrokrampftherapie.
Verwahrung und Zucht
Im Absolutismus und Merkantilismus wird der Wahnsinnige zusammen mit anderen Randgruppen, die nicht den geltenden Verhaltensnormen entsprachen oder sich nicht an die Regeln hielten, aus dem öffentlichen Bewusstsein entfernt und in Internierungsstätten (England: „Workhouses“, Frankreich: „Hôpital général“, Deutschland: „Zucht-, Arbeits- und Tollhäuser“) eingeschlossen und damit „unschädlich“ gemacht. Durch Zucht und Arbeit sollte ihrer „Unvernunft“ gegengewirkt werden. In einigen Asylen konnten die angeketteten Kranken als „Monstrositäten“ zur Abschreckung und Befriedigung der Schaulust gegen Eintritt durch die vergitterten Fenster betrachtet werden.
Am Ende des 18. Jahrhunderts befreite die Aufklärung die „Irren“ zumindest aus ihren physischen Ketten. Die Betroffenen wurden prinzipiell als heilunsbedürftige Kranke anerkannt, wenngleich der Arzt vornehmlich damit beauftragt war, den Wahnsinnigen „zu seinem eigenen Wohle“ weiterhin zu isolieren und jegliche Disziplinierungstechnik, allen voran die „moralische Behandlung“, therapeutisch zu rechtfertigen. (...)
Keine Therapie
Im Mittelalter wurde der Wahnsinn in der Regel auf das Einwirken Gottes zurückgeführt. Eine Möglichkeit der Hilfe für die Betroffenen stand während der gesamten Epoche nicht zur Verfügung. Die Betroffenen wurden sich selbst überlassen, solange sie nicht für gefährlich gehalten wurden. Gegebenenfalls wurden sie durch ein Narrenkleid ausgezeichnet, das sie selbst schützte und andere warnte. Die Familien der Wahnsinnigen waren versorgungs- und regresspflichtig: „Over rechten doren unde over sinnelosen man ne sal man ok nicht richten; sweme sie aver scaden, ire vormünde sal it gelden.“ (Sachsenspiegel III 3). Stellten Betroffene eine öffentliche Gefahr dar, schloss man sie in Stadttürme oder zuhause ein, bisweilen auch in Narrenkisten außerhalb der Stadtmauern. Fremde wurden aus den eigenen Gebieten vertrieben.
Die Betreuung der Wahnsinnigen war im Mittelalter sehr unterschiedlich. Die Haltung zur Krankheit und die Behandlung der Kranken hing sehr stark von ihrem jeweiligen Sozialmilieu ab. Die Betroffenen hatten eine um so größere Chance gepflegt, umsorgt und ihren Zustan auszuheilen, je höher er auf der sozialen Skala angesiedelt war. Wahnsinnige aus reichen Familien wurden eher integriert, während betroffene Angehörige armer Familien üblichlichweise vertrieben wurden.
Psycho-Therapie
Heute wird eine Änderung des psychischen Zustands oftmals durch Verhaltenstherapie oder Psychotherapie zu erreichen versucht, die je nach Fall mit medikamentösen Maßnahmen (Psychopharmaka) gestützt wird. Bisweilen ist es nach Ansicht fast aller Ärzte jedoch notwendig, den Patienten zeitweilig aus der Gesellschaft zu entfernen und stationär zu behandeln. Mit den Irrenhäusern oder Tollhäusern des 19. Jahrhunderts haben die modernen Psychiatrischen Kliniken zwar wenig gemein, dennoch sind diese als soziologischer Begriff weiterhin sehr negativ besetzt.
Kritik
Für die Vertreter der Antipsychiatrie sind "geistige Krankheiten" eine von Spezialisten eingeführte und von der Gesellschaft aufgenommene Erfindung. Diese historisch gewachsene Ideologie könne deshalb bestehen, weil sie einfache Lösungen für den Umgang mit schwierigen Menschen böte. Der Psychiatriebetrieb führe eine Art „Selbsterhaltungsmaschinerie“ herbei, in der unangepasste, unbequeme oder herausfordernde Menschen mit dem Etikett "psychiatrischer Fall" versehen würden. Der Begriff der "Geisteskrankheit" sei nur eine missverständliche Metapher. Schon Foucault hatte Wahnsinn zu einem kulturellen Konstrukt erklärt, das seit der frühen Neuzeit vor allem der Machterhaltung und der Kontrolle von Menschen - insbesondere von Frauen, Homosexuellen und ethnischen Minderheiten - diene.
Weblinks
Literatur / Quellen
Kulturgeschichte
- Roy Porter: Wahnsinn. Eine kleine Kulturgeschichte. Dörlemann, Zürich 2005, ISBN 3-908777-06-2
- Michel Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft. 14. Aufl. Suhrkamp, Frankfurt a.M. 2001, ISBN 3-518-27639-5
- Michael Kutzer: Anatomie des Wahnsinns. Guido Pressler, Hürtgenwald 1998, ISBN 3876460824
- Klaus Dörner: Bürger und Irre. Zur Sozialgeschichte und Wissenschaftssoziologie der Psychiatrie. 3. Aufl. Europäische Verlags-Anstalt, Frankfurt a.M. 1995, ISBN 3-434-46227-9
- Robert Castel: Die psychiatrische Ordnung. Das Goldene Zeitalter des Irrenwesens. Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1979 u.ö., ISBN 3-518-28051-1
- Werner Leibbrand, Annemarie Wettley: Der Wahnsinn. Geschichte der abendländischen Psychopathologie. Alber, Freiburg u.a. 1961.
- H. Hühn: 'Wahnsinn'. In: Joachim Ritter, Karlfried Gründer (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 12, Sp. 36-42.
- Rudolf Hiestand: Kranker König - kranker Bauer. In: Peter Wunderli: Der kranke Mensch in Mittelalter und Renaissance., S. 61-77. Droste, Düsseldorf 1986, ISBN 3-7700-0805-7
Literatur
- Josef Mattes: Der Wahnsinn im griechischen Mythos und in der Dichtung bis zum Drama des fünften Jahrhunderts. Winter, Heidelberg 1970, ISBN 3-533-02116-5 / ISBN 3-533-02117-3
- Allen Thiher: Revels in madness. Insanity in medicine and literature. Univ. of Michigan Press, Ann Arbor, Mich. 1999, ISBN 0-472-11035-7
- 'Wahnsinn'. In: Horst S. Daemmrich, Ingrid G. Daemmrich: Themen und Motive in der Literatur. Ein Handbuch. 2. Aufl. Francke, Tübingen u.a. 1995, S. 333-336. ISBN 3-8252-8034-9 / ISBN 3-7720-1734-7
- Dirk Matejovski: Das Motiv des Wahnsinns in der mittelalterlichen Dichtung. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1996, ISBN 3-518-28813-x
Bildende Kunst
- Franciscus Joseph Maria Schmidt, Axel Hinrich Murken: Die Darstellung des Geisteskranken in der bildenden Kunst. Ausgewählte Beispiele aus der europäischen Kunst mit besonderer Berücksichtigung der Niederlande. Murken-Altrogge, Herzogenrath 1991, ISBN 3-921801-58-3
- Birgit Zilch-Purucker: Die Darstellung der geisteskranken Frau in der bildenden Kunst des 19. Jahrhunderts am Beispiel der Melancholie und Hysterie. Murken-Altrogge, Herzogenrath 2001, ISBN 3-935791-01-1
- Fritz Laupichler: 'Madness'. In: Helene E. Roberts (Hrsg.): The encyclopedia of comparative iconography. Themes depicted in works of art. Bd. 2, S. 537-544.
Zur Wortgeschichte
- Friedrich Kluge: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. 23. Aufl. De Gruyter, Berlin u.a. 1995, ISBN 3-11-012922-1
- Deutsches Wörterbuch. Begründet von Jacob u. Wilhelm Grimm. 33 Bde. Leipzig 1854-1971.
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