Parallelgesellschaft

soziologischer Begriff
Dies ist eine alte Version dieser Seite, zuletzt bearbeitet am 24. September 2005 um 22:27 Uhr durch Vinicius (Diskussion | Beiträge). Sie kann sich erheblich von der aktuellen Version unterscheiden.

Der Begriff Parallelgesellschaft bezeichnet eine von der Mehrheitsgesellschaft nicht akzeptierte gesellschaftliche Selbstorganisation einer Minderheit jenseits vom gesellschaftlichen Grundkonsens aus Demokratie und Menschenrechten.

Verwendungsgeschichte des Begriffs

Bereits 1996 wurde dann der Begriff "Parallelgesellschaft" gelegentlich, aber noch zögerlich gebraucht (vergleiche Wilhelm Heitmeyer in einem Artikel in Die Zeit)

Nach der Ermordung des islamkritischen Filmemachers Theo van Gogh am 2. November 2004 kam es zu einer islamkritischen Mobilisierung in den Niederlanden. Im Lauf des Novembers gipfelte diese in einem Sprengstoff- sowie mehreren Brandanschlägen auf Moscheen und islamische Schulen und auf Kirchen. Auf Grund dessen setzte zunächst in den Niederlanden, dann im übrigen Europa eine öffentliche Kontroverse ein, in der das Schlagwort "Parallelgesellschaft" in den Massenmedien popularisiert wurde. Es markierte vorzugsweise die Position, dass die multikulturelle Gesellschaft gescheitert sei und die Herbeiführung von Integration neue Mittel erfordere.

Sozialwissenschaftliche Analyse am Beispiel Deutschlands

Nach der Ausschöpfung deutscher Arbeitskraftreserven in Folge des Wirtschaftswunders warb die deutsche Regierung Gastarbeiter an, woran anknüpfend sich langsam islamisch geprägte Subkulturen etablierten (Türken, Kurden, Bosnier, Marokkaner u.a.m.). Zu deren Kulturaspekten gehörten der Besuch der Moschee, zunehmend eigene Privatschulen mit arabischer Unterrichtssprache und islamischem Religionsunterricht, aber auch ein sich ab den 1980er Jahren entwickelndes Selbstbild, das partiell durchaus von der Islamauffassung ihrer Herkunftskulturen in Richtung auf Radikalität abzuweichen begann - ein typischer "Diaspora"-Effekt, für den es sogar eine deutsche Redensart gibt: Je weiter von Rom, desto besser die Katholiken. Hier setzten dann islamistische Propagatoren z.T. erfolgreich an, die die parallelgesellschaftliche Exklusion ihrer Klientel zu fördern bestrebt waren. Ein wichtiger Aspekt sind dabei auch islamiche Regeln zur Meidung von Nichtmuslimen, was sich in der religösen Vorschrift Al-wala' wa-l-bara' manifestiert.

Ein verschobener Konflikt

Vor allem der Konflikt zwischen den mit dem Islam nur schwer zu verbindenden Menscherechten (siehe "Kairoer Erklärung der Menschenrechte" und der Demokratie (siehe Demokratie ist Unglaube) haben zu einer Kollision der deutschen Mehrheitsgesellschaft mit der sich abschottenden Minderheit (siehe al-wala' wa-l-bara') geführt, was lange von der deutschen Mehrheitsgesellschaft verdrängt wurde. Erst spektakuläre Fälle, wie der von Hatin Sürücü, haben langsam die Augen der Mehrheit dafür geöffnet, das in den Parallelgesellschaften grundlegende westliche Normen des Zusammenlebens nicht gelten. (Siehe auch Zwangheirat)

Es geht hier um die - auch im übrigen Europa häufige - Kollision zwischen einer volkswirtschaftlich in einer Depression befindlichen deutschen Mehrheitsgesellschaft mit wenig Erfahrungen sozialen Abstiegs mit - auf der anderen Seite - den schwachen Zukunftsperspektiven einer eingewanderten Unterschicht, die die Geduld verliert, weil sie Unterschicht zu bleiben droht, aber nicht recht weiß, woran ihre Feindseligkeit festzumachen wäre. Es ist im Kern ein sozialer Konflikt einer säkularisierten, vergleichsweise wohlhabenden, jedoch verunsicherten Mehrheit mit einer aufstiegsgehemmten Minderheit.

Einer spürbaren Assimilationsbehinderung und erzwungenen Abschottung der Minderheit folgt sodann eine die Selbstachtung rettende Erklärung gewisser Züge der anderen Seite zu deren zentralen Merkmalen (z.B. deren "Sittenlosigkeit") bei gleichzeitiger symbolischer Überhöhung eigener "Sittlichkeit". Dem kommt entgegen, dass im vergleichsweise wohlhabenden Deutschland ein liberales Weltbild vorherrscht, das sich - typisch neuzeitlich - vieler religiöser Züge entledigt hat.

Mit Lewis A. Coser nennt die Soziologie den Streit an einer derart aus der Ökonomie in die Moral verschobenen Konfliktfront einen unrealistic conflict.

Zur Dauerhaftigkeit unrealistischer Konflikte

Insoweit eine "Parallelgesellschaft" gar nicht existiert, ist sie ein Scheinproblem (wie alle "unrealistischen Konflikte"). Doch gerade dann kann der Streit beliebig verlängert werden, weil er eben fiktiv und demgemäß gar nicht behebbar ist.

Die Lebensvorstellungen und Wertevorstellungen beider Kulturen - die des 'neuen Islams' einerseits und die des 'libertären Weltbildes' andererseits - stellen für beidseitige Kritikübung und Symbolkämpfe genügend Züge bereit.

Früher schon kam es auch zum sogenannten Kopftuchstreit, der jetzt politisch brisanter wird: Die eine Seite behauptet (und ist z. T. überzeugt), ein Uniformverbot für Neoterroristen auszusprechen, die andere (entsprechend), für die religiös gebotene weibliche Keuschheit zu kämpfen; beides sind unrealistische Streitpunkte, denn es geht hauptsächlich um eine als gerecht empfundene Einbürgerungspolitik und Aufstiegsermöglichung gegenüber eingewanderten Minderheiten.

Kritik am Begriff "Parallelgesellschaft"

Am Begriff "Parallelgesellschaft" wird kritisiert, dass Parallelgesellschaften nur gegenüber einer Mehrheitsgesellschaft zu denken sind. Die Rede von den Parallelgesellschaften dient dann zur Identitätsstiftung der Mehrheitsgesellschaft durch Abgrenzung von den Anderen. Gleichzeitig werden damit derzeit zunehmende polizeiliche, politische und (sozial)pädagogische Zwangsmaßnahmen und Interventionen gegen die als Parallelgesellschaften bezeichneten Gruppen gerechtfertigt.

Der Begriff ist eine Neuschöpfung und wurde erst nach dem Mord an Theo van Gogh als Schlagwort populär. Es gibt keine akzeptierte Definition des Begriffs, zur Anwendung auf historische Phänomene ist er deshalb nicht geeignet.

Laut Wilhelm Heitmeyer müssten sieben Bedingungen existieren, damit man von einer "Parallelgesellschaft" sprechen könne. Also werde der Begriff "Parallelgesellschaft", wie er heute verwendet werde, populistisch benutzt:

Man muss sagen, Segregation lax gesagt: gleich zu gleich gesellt sich gern ist erst mal kein Problem. Menschen gleicher Herkunft hoffen auf Hilfe von Ihresgleichen. Ich möchte noch mal grundsätzlich sagen, was das Wort „Parallelgesellschaft“ eigentlich beinhaltet. Das ist von Politikern als Kampfbegriff eingeführt oder instrumentalisiert worden. Ich kann nur davor warnen, eine schlichte Beschreibung dergestalt zu wählen, dass immer dann wenn Menschen eine unterschiedlichen Lebensstil haben, dann schon eine Parallelgesellschaft sind. Wir verwenden sieben Indikatoren bevor wir von Parallelgesellschaften sprechen. Wenn vor allem kulturelle Differenz betont wird gegenüber der Mehrheitsgesellschaft: also wir sind anders und wir wollen auch anders bleiben. Und da gibt es in der türkischen Community auch eine hohe Anzahl, die das auch tun. Was dabei herumkommt, das zugleich die soziale Ungleichheit zementiert wird. Die Menschen forcieren über die kulturelle Differenz den eigenen Sprachgebrauch, die jungen Männer holen sich wieder vermehrt Frauen aus der Türkei, damit der Integrationsprozess immer wieder von neuem anfängt. [1]

Auch Klaus J. Bade kritisiert den populistischen Gebrauch des Wortes "Parallelgesellschaft". Er sagt in einem Spiegel-Online-Interview:

Parallelgesellschaften im klassischen Sinne gibt es in Deutschland gar nicht. Dafür müssten mehrere Punkte zusammenkommen: eine monokulturelle Identität, ein freiwilliger und bewusster sozialer Rückzug auch in Siedlung und Lebensalltag, eine weitgehende wirtschaftliche Abgrenzung, eine Doppelung der Institutionen des Staates. Bei uns sind die Einwandererviertel meist ethnisch gemischt, der Rückzug ist sozial bedingt, eine Doppelung von Institutionen fehlt. Die Parallelgesellschaften gibt es in den Köpfen derer, die Angst davor haben: Ich habe Angst, und glaube, dass der andere daran Schuld ist. Wenn das ebenso simple wie gefährliche Gerede über Parallelgesellschaften so weitergeht, wird sich die Situation verschärfen. Dieses Gerede ist also nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems. (aus Spiegel November 2004)

Siehe auch

Etablierte und Außenseiter, Multikulturalismus, Leitkultur, Melting Pot, Ideologie