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Hartmut von Hentig

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Hartmut von Hentig (* 23. September 1925 in Posen) ist ein deutscher Erziehungswissenschaftler, Reformpädagoge und Autor.

Leben

Von Hentig wurde als Sohn des Diplomaten Werner Otto von Hentig und seiner Frau Natalie geb. von Kügelgen geboren. Er wuchs in Berlin auf, wo er am Französischen Gymnasium sein Abitur ablegte.

Er begann 1945 ein Studium der Altphilologie an der Georg-August-Universität Göttingen und setzte es ab 1947 an der University of Chicago fort. 1953 wurde er Lehrer am Birklehof (Schwarzwald) und in Tübingen. Über diese Zeit sagt er, er habe damals gelernt, „was man verliert, wenn man Stärke vortäuscht“. Damals sei es zur Stärkung der Menschen notwendig gewesen, Menschen von ihren falschen Sicherheiten zu befreien.

1963 wurde von Hentig als Ordentlicher Professor und Direktor des Pädagogischen Seminars an die Georg-August-Universität Göttingen berufen. Von dort wechselte er 1968 an die Universität Bielefeld, nachdem ihm zugesagt worden war, dass er hier eine Versuchsschule gründen könne. Dies erfolgte 1974 mit der Einrichtung der Laborschule Bielefeld, deren wissenschaftlicher Leiter er wurde, und des Oberstufenkollegs in Bielefeld.

Er gab die Neue Sammlung – Vierteljahres-Zeitschrift für Erziehung und Gesellschaft heraus und wurde 1987 emeritiert. Von Hentig lebt heute in Berlin.

Von Hentig ist Mitglied im Beirat der Humanistischen Union und offizieller Unterstützer der überwachungskritischen Datenschutzdemonstration Freiheit statt Angst.[1]

Pädagogische Grundvorstellungen

Seine grundlegenden pädagogischen Überzeugungen lassen sich mit dem Titel seiner Vortragssammlung Die Menschen stärken, die Sachen klären beschreiben. Darin ist enthalten, dass der Einzelne sich selbst vertrauen müsse, bevor er etwas verstehen und sich anverwandeln könne. Deshalb setzt von Hentig darauf, dass Kinder und Schüler über selbstbestimmtes Handeln und Verantwortung die Voraussetzung für das Verstehen und Umgehen mit komplexen Verhältnissen gewinnen. Höchstes Bildungsziel ist individuelles Glück. Seine ideale Schule ist eine Gemeinschaft von Verantwortlichen (er nennt sie unter Bezug auf die antike Demokratie Polis), die über der Gestaltung ihrer eigenen Lebensumwelt Regeln und Kenntnisse für das Leben in der komplexen Industriegesellschaft erarbeitet.

Selbstbestimmung ist ihm so wichtig, dass er vor dem „Curricula und Rahmenpläne entwerfende[n] Pädagogen“ warnt und dem ihm politisch fernstehenden Helmut Schelsky zustimmt, wenn er soziale Selbständigkeit als auf moralischer Eigenverantwortung beruhend ansieht. (Die Menschen stärken, die Sachen klären, S.167)

Bereits 1983 verlangte er in einem Gutachten für die Freie Schule Frankfurt einen Kurswechsel in der Pädagogik: „Mathetik ist eine notwendige Korrektur des gedankenlos verabsolutierten Prinzips der Didaktik: dass Lernen auf Belehrung geschähe.“

Kritik

Von Hentig gibt an, von sexuellem Missbrauch seines Freundes Gerold Becker an minderjähriger Schutzbefohlenen an der Odenwaldschule[2] nichts gewusst zu haben.[3] Ein betroffenes Missbrauchsopfer bezweifelt, dass Hentig von nichts wusste und bezeichnet sogar das gesamte Missbrauchsambiente dieser Schule als "System Hentig".[4] Das Opfer wird mit den Worten zitiert: "Wie kann das sein, wenn man 40 Jahre mit jemandem wie Becker zusammenlebt? "[5] In einem Brief vom Mai 2010 beschreibt von Hentig seine Strategie, die Missbrauchsvorwürfe an der Odenwaldschule betreffend, mit: "aussitzen".[6] Hartmut von Hentig bagatellisierte die pädophilen Übergriffe seines langjährigen Lebensgefährten an dessen eigenen Schülern. Der Tatbestand reichte von erzwungener Masturbation bis zur Vergewaltigung.[7] Hentig äußerte, die Opfer hätten seinen Lebensgefährten verführt oder Psychotherapeuten hätten den Opfern die Tat eingeredet.[8][9] Typisch ist hier das Muster der Täter-Opfer-Umkehr. Im Abschlussbericht zu den dortigen Missbrauchsfällen wird Becker von den beiden unabhängigen Aufklärerinnen im Gegensatz zur Verteidigungslinie von Hentigs als „klassischer Pädophiler“ beurteilt, ihm werden 86 männliche Opfer zwischen 12 und 15 Jahren zugerechnet.[10] Die Frankfurter Rundschau urteilt "Doch die Vorwürfe sind so ungeheuerlich, dass das beredte Schweigen des großen deutschen Pädagogen von Hentig die Opfer und sein eigenes Lebenswerk beschädigt".[11]

Auszeichnungen

Siehe auch

Werke

  • Hellas und Rom. Lesewerk zur Geschichte, Langwiesche-Brandt, Ebenhausen b. München, 1964
  • Platonisches Lehren. Probleme der Didaktik, dargestellt am Modell des altsprachlichen Unterrichts, Bd. 1, Klett Stuttgart 1966
  • Das Bielefelder Oberstufen-Kolleg, Ernst Klett, Stuttgart 1971
  • Cuernavaca oder: Alternativen zur Schule?, Ernst Klett/Kösel, Stuttgart/München 1971
  • Paff, der Kater oder Wenn wir lieben, Carl Hanser Verlag, München/Wien 1978
  • Die Krise des Abiturs und eine Alternative, Klett-Cotta, Stuttgart 1980
  • Aufgeräumte Erfahrung. Texte zur eigenen Person, Hanser, München, Wien 1983.
  • Ergötzen, Belehren, Befreien. Schriften zur ästhetischen Erziehung, Hanser, München, Wien 1985.
  • Die Menschen stärken, die Sachen klären. Ein Plädoyer für die Wiederherstellung der Aufklärung, Reclam, Stuttgart, 1985
  • Arbeit am Frieden. Übungen im Überwinden der Resignation, Hanser, München, Wien, 1987
  • Das allmähliche Verschwinden der Wirklichkeit. Ein Pädagoge ermutigt zum Nachdenken über die Neuen Medien., Hanser, München, Wien, 1987
  • Magier oder Magister? Über die Einheit der Wissenschaft im Verständigungsprozeß, Klett-Cotta, Stuttgart, 1988
  • Bibelarbeit. Verheissung und Verantwortung für unsere Welt, Hanser, München, Wien, 1988
  • Die Schule neu denken. Eine Übung in praktischer Vernunft, Hanser, München, Wien, 1993
  • Bildung. Ein Essay, Hanser, München, Wien 1996.
  • Kreativität. Hohe Erwartung an einen schwachen Begriff, Hanser, München, Wien, 1998.
  • Die Bielefelder Laborschule. Aufgaben, Prinzipien, Einrichtungen. Eine empirische Antwort auf die veränderte Funktion der Schule. Band 7 Bielefeld, 1998
  • Ach, die Werte. Ein öffentliches Bewusstsein von zwiespältigen Aufgaben. Über eine Erziehung für das 21. Jahrhundert, Hanser, München, Wien, 1999
  • Kolumnen, Radius-Verlag, Stuttgart, 2000
  • Fahrten und Gefährten. Reiseberichte aus einem halben Jahrhundert, Hanser, München, Wien, 2000
  • Warum muss ich zur Schule gehen? Eine Antwort an Tobias in Briefen, Hanser, München, Wien, 2001
  • Der technischen Zivilisation gewachsen bleiben, Beltz, 2002
  • Rousseau oder die wohlgeordnete Freiheit, C.H. Beck, München, 2003
  • Bewährung. Von der nützlichen Erfahrung, nützlich zu sein, Hanser, München 2006
  • Mein Leben - bedacht und bejaht. Kindheit und Jugend, Hanser, München 2007
  • Mein Leben - bedacht und bejaht. Schule, Polis, Gartenhaus, Hanser, München 2007

Literatur

  • Dirk Kutting: Gesinnungsbildung : die humanistische Schul- und Bildungstheorie Hartmut von Hentigs in theologischer Sicht, Marburg : Elwert 2004
  • Martin Hollender ; Ulrike Hollender: Bibliographie Hartmut von Hentig , Bielefeld : Aisthesis , 2010

Einzelnachweise

  1. Demonstration Freiheit statt Angst, Unterstützerliste
  2. http://taz.de/1/politik/deutschland/artikel/1/odenwaldtaeter-beim-namen-genannt/
  3. Frankfurter Rundschau, 6. März 2010
  4. FR-Gespräche: "Ich glaube an die Ideale dieser Schule"; Frankfurter Rundschau, 24. März 2010
  5. FR-Gespräche: "Ich glaube an die Ideale dieser Schule"; Frankfurter Rundschau, 24. März 2010
  6. Von Hentig wollte Missbrauchsskandal „aussitzen“. (html) Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18. Dezember 2010, archiviert vom Original am 18. Dezember 2010; abgerufen am 18. Dezember 2010 (Das Datum des Briefs wird von der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 19. Dezember 2010 mit "Mai 2010" angegeben): „„Meine (nicht leicht einzuhaltende) Strategie: aussitzen“. In vier Jahren könne man dann „in Ruhe auf all dies zurückblicken und 'lernen' - oder wir haben einen neuen Fundamentalismus, der auch die letzten Regungen der Aufklärung beseitigt“, schreibt Hentig weiter.“
  7. Christian Füller:Odenwaldtäter beim Namen genannt"; TAZ, 17. Dezember 2010'
  8. Tanjev Schultz:Männer, die zu sehr lieben"; Tages-Anzeiger, 13. März 2010'
  9. Katja Irle:Demontage eines Denkmals"; Frankfurter Rundschau, 12. März 2010'
  10. Christian Füller: Odenwaldtäter beim Namen genannt"; TAZ, 17. Dezember 2010
  11. Katja Irle:Demontage eines Denkmals"; Frankfurter Rundschau, 12. März 2010'
  12. Staatsministerium Baden-Württemberg: Verdienstmedaille des Landes Baden-Württemberg. Liste der Ordensträger 1975-2009. Seite 50 - abgerufen am 11. Mai 2009