Der Morgenthau-Plan wurde im September 1944, noch während des Zweiten Weltkriegs, vom amerikanischen Finanzministerium für die Zukunft Deutschlands nach dem Krieg entwickelt. Er sah eine De-Industrialisierung und Umwandlung Deutschlands in ein Agrarland vor, wozu zwanzig Jahre angesetzt waren. Damit sollte verhindert werden, dass von deutschem Boden jemals wieder ein Angriffskrieg ausginge.
Das Memorandum vom 2. September 1944 wurde nach seinem Verfasser, Finanzminister Henry M. Morgenthau jr. benannt. Deutschland sollte im Osten Ostpreußen und Schlesien, im Westen die Pfalz verlieren. Aus dem restlichen Staatsgebiet des Deutschen Reiches sollten zwei deutsche Staaten gebildet werden, sowie eine große Internationale Zone im Westen. Diese Zone sollte von Kiel und Hamburg im Norden bis Köln und Frankfurt im Süden reichen und damit auch das gesamte Ruhrgebiet einschließen. Harte Vergeltungsmaßnahmen sollten Kriegsverbrecher treffen.
Das Memorandum stand unter dem Eindruck der Berichte über „Verbrechen gegen die Zivilisation“, die nach der Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Majdanek im Juli 1944 in der westlichen Presse abgedruckt worden waren.
Sowohl das amerikanische Außenministerium als auch das Kriegsministerium lehnten den Plan jedoch ab. Auch der amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt distanzierte sich nach kurzer Zeit von dem Plan, als dieser seinen Wahlkampf zu belasten drohte. Der Morgenthau-Plan wurde am 1. Oktober 1944 aufgegeben, er war nie ein offizielles Dokument oder politisches Konzept der US-Regierung.
Morgenthau war in den USA vor und während des Krieges einer der aktivsten Antifaschisten und Befürworter eines Krieges gegen Deutschland. Auch setzte er sich aktiv für die Rettung der europäischen Juden ein, was ihm in letzter Instanz mit dem War Refugee Board bei der Rettung von Zehntausenden von ungarischen Juden 1944 gelang.
Der Plan wurde in Deutschland vor allem durch die NS-Propaganda bekannt, die durch seine Bekanntmachung versuchte, der ansteigenden Kriegsmüdigkeit der Deutschen entgegenzuwirken.
Details des Morgenthau-Plans
Der Morgenthau-Plan enthielt folgende vierzehn Punkte:[1]
- Demilitarisierung Deutschlands
- neue Grenzen: Aufteilung Ostpreußens zwischen der Sowjetunion und Polen, Polen soll Schlesien erhalten, Frankreich das Saarland und einige linksrheinische Gebiete zwischen Rhein und Mosel,
- Teilung Deutschlands in zwei unabhängige Staaten im Norden und Süden, Zollunion zwischen dem Südstaat und Österreich
- vollständige Demontage im Ruhrgebiet einschließlich Rheinland und angrenzenden Industrierevieren, Verwaltung des Gebietes als internationale Zone von der UNO, Verbot der Reindustrialisierung auf absehbare Zeit
- Entschädigungen und Reparationen aus dem derzeitigen Besitz, aber keine künftigen Zahlungen oder Überlassungen
- Entnazifizierung von Schulen, Universitäten, Zeitungen, Rundfunk, Schließung und Neuaufbau durch eine alliierte Erziehungskommission
- politische Dezentralisierung, stärkere Föderalisierung
- Steuerung der Volkswirtschaft durch Deutsche, keine Verantwortung der Militärbehörden
- Kontrolle der deutschen Volkswirtschaft durch die UNO in den nächsten zwanzig Jahren, um den Aufbau einer Militärindustrie zu verhindern
- Zerschlagung des Großgrundbesitzes, Verteilung an die Bauern, Änderung des Erbrechtes
- Bestrafung von Kriegsverbrechen
- Verbot von Uniformen und Paraden
- Verbot für Deutsche, Luftfahrzeuge zu führen
- Rückzug der amerikanischen Truppen, die Nachbarländer Deutschlands sollen die Besatzungsaufgaben wahrnehmen
Internationale Abstimmungen und Reaktionen
Der Morgenthauplan, zunächst geheim, sollte ein Gegengewicht zu den gemäßigteren Plänen des alliierten Oberkommandos unter Dwight D. Eisenhower bilden.
Eine Agrarisierungs-Formulierung Morgenthaus wurde auf der zweiten Québec-Konferenz (11. bis 19. September 1944) vom britischen Premierminister Churchill und dem amerikanischen Präsidenten Roosevelt in einem Abkommen über die Verlängerung der amerikanischen Militär- und Wirtschaftshilfe (Leih- und Pachtgesetz) paraphiert. Dieses Abkommen enthielt allgemein formulierte gemeinsame Ziele wie die Verhinderung einer deutschen Wiederaufrüstung und die Demontage der Rüstungsindustrien. Zum Schluss kam Morgenthaus Satz: „Dieses Programm zur Ausschaltung der Kriegsindustrie in Ruhr und Saar soll Deutschland in ein Land mit vorwiegend agrarischem und ländlichem Charakter verwandeln“.[2] Obwohl Churchill gegen die Vorstellungen des amerikanischen Finanzministers Morgenthau heftig protestierte, unterschrieb er; im selben Abkommen wurde ein weiterer günstiger amerikanischer Kredit in Höhe von 6,5 Milliarden US-Dollar für Großbritannien vereinbart.
Der britische Außenminister Anthony Eden und der amerikanische Außenminister Cordell Hull protestierten. Durch eine gezielte Indiskretion wurde der Plan am 21. September 1944 in die Öffentlichkeit gespielt. Das britische Kabinett lehnte die Agrarisierungsformel des Québec-Abkommens ebenfalls ab. Ende September 1944 wurde der Morgenthau-Plan fallen gelassen, ohne dass sich die zuständigen Gremien damit befasst hatten. Die öffentliche Reaktion war so negativ, dass sich Roosevelt distanzierte. Das amerikanische Außenministerium formulierte seine grundsätzliche Ablehnung des Morgenthau-Plans in einem Memorandum: „Die Vereinigten Staaten haben seit ihrem Bestehen an der Grundüberzeugung festgehalten, dass alle Menschen das Recht haben, als freie Individuen zu leben und nach ihrem eigenen Glück zu streben. Nach der Atlantik-Charta sind Sieger und Besiegte gleichermaßen zu wirtschaftlichem Wohlstand berechtigt. Die vorgeschlagene Behandlung Deutschlands würde jedoch, falls sie überhaupt durchführbar wäre, ganz bewußt viele Millionen Menschen des Rechtes auf Freiheit von Not und Freiheit von Furcht berauben. Alle anderen Völker der Welt würden dadurch in ihrem Vertrauen zu unseren Grundsätzen erschüttert werden und an der Wirksamkeit unserer wirtschaftlichen und politischen Maßnahmen gegenüber den Besiegten zu zweifeln beginnen.“[3]
Konzepte der Alliierten für Deutschland nach dem Krieg
Bei der ersten großen Zusammenkunft der Anti-Hitler-Koalition, der Teheran-Konferenz im November 1943, wurde einvernehmlich die Absicht von Roosevelt, Winston Churchill und Josef Stalin protokolliert, Deutschland in mehrere Staaten aufzuteilen. Roosevelt stellte dabei einen Plan zur Diskussion, der eine Aufteilung in fünf Staaten vorsah. Churchill entwickelte den Plan einer Zweiteilung Deutschlands in ein Restpreußen mit Berlin als Hauptstadt und eine Donauföderation mit Wien als Zentrum.
Im Februar 1945 wurde in der Erklärung von Jalta verkündet, dass die drei Mächte nach der absehbaren deutschen Niederlage drei separate Zonen besetzen würden. In Washington gab es eine politische Fraktion, die für unnachsichtige Härte und harte Bestrafung plädierte. In dieser „hard-peace“-Fraktion entstand der Morgenthau-Plan.
Bereits im März 1945 rückte die Sowjetunion von der Teilungsabsicht aber wieder ab und erklärte die Aufteilung zur bloßen Möglichkeit. Die Gründe für diesen Kurswechsel sind nicht klar. Zum Einen liegt die Vermutung nahe, Stalin habe sich Hoffnungen gemacht, auf ganz Deutschland Einfluss gewinnen zu können, zum Anderen hätte ein in Kleinstaaten aufgeteiltes Deutschland kaum die Reparationen leisten können, die sich die Sowjetunion erhoffte. Auch das Vereinigte Königreich und die Vereinigten Staaten rückten von den Teilungsplänen ab. Das Vereinigte Königreich, traditionell um das europäische Gleichgewicht besorgt, fürchtete eine russische Hegemonie auf dem Kontinent. Die Rote Armee hatte die Oder bereits überschritten und stand vor Berlin. Auch die Wirtschaftsinteressen des Vereinigten Königreichs waren durch eine Teilung Deutschlands gefährdet. Entweder könne eine Aufteilungspolitik oder eine Reparationspolitik betrieben werden, beides zusammen gehe nicht. In Washington gewann der Gedanke an Boden, Sicherheit vor Deutschland könne nur durch den Aufbau einer lebensfähigen Demokratie in Deutschland gewonnen werden.
Varianten der Teilungspläne
Fachressorts der britischen und amerikanischen Außenministerien diskutierten unter anderen Plänen auch folgende Grenzziehungsvarianten.
- Annexion von Teilen Hinterpommerns durch Polen bei gleichzeitiger Grenzziehung an der östlich gelegenen Glatzer Neiße
- Zusammenschluss Österreichs mit Ungarn zur Donauföderation (kleine Lösung)
- Annexion westdeutscher Grenzgebiete durch die Niederlande bis an Rhein und Weser (Niederländische Annexionspläne nach dem Zweiten Weltkrieg)
- Annexion kleinerer Grenzgebiete durch Belgien über das Eupen-Malmedy Gebiet hinaus
- Annexion kleinerer moselfränkischsprachiger Grenzgebiete durch Luxemburg
- Zusammenschluss Österreichs mit Ungarn und der Tschechoslowakei zur Donauföderation (große Lösung)
Insbesondere auf Drängen Stalins wurden diese Pläne jedoch erheblich verändert.
Propaganda und Stimmung in Deutschland
Die nationalsozialistische Propaganda unter Leitung von Reichspropagandaminister Joseph Goebbels benutzte den Morgenthau-Plan, der im Herbst 1944 bekanntgeworden war, zur Verteufelung des amerikanischen Gegners. Anfang Oktober 1944 berichtete der Völkische Beobachter, die amerikanischen Pläne liefen darauf hinaus, 30 Millionen Deutsche dem Hungertod preiszugeben. Der Plan des „Juden Morgenthau“ wurde mit dem 1941 erschienenen Buch Germany must perish („Deutschland muss untergehen“) von Theodore N. Kaufman in eine Reihe gestellt, das die Sterilisierung der deutschen Bevölkerung vorschlug und von Goebbels umgehend als „Kaufman-Plan“ bezeichnet und veröffentlicht wurde. Goebbels stilisierte die Schrift des in den USA gänzlich unbekannten Kaufman zum persönlichen Deutschland-Plan Roosevelts hoch und veranlasste, sie in einer kommentierten Dokumentation mit dem Titel „Das Kriegsziel der Weltplutokratie“ unters Volk zu bringen. Bis heute dienen diese Publikationen rechtsradikalen Gruppierungen als willkommener Aufhänger für antisemitische Propaganda.
Der Versuch der NS-Propaganda, in der Schlussphase des Krieges der Bevölkerung in Deutschland die bevorstehende britische und amerikanische Besatzung in Schreckensfarben darzustellen, misslang gründlich. So meldete die SD-Außenstelle Kitzingen bereits Ende 1943: „Wenn wir den Krieg verlieren, dann kommen die Amerikaner zu uns, und dann wird es uns nicht viel schlechter gehen als früher.“ Im Oktober 1944, als die ersten amerikanischen Einheiten die Reichsgrenze schon überschritten hatten, meldete der Landrat von Bad Aibling und Rosenheim an das Regierungspräsidium in München: „Der Glaube ist weit verbreitet, daß die Engländer und Amerikaner im Falle der Besetzung weniger brutal vorgehen würden als die Ostvölker… Manche ergehen sich geradezu in behaglichen Schilderungen der angelsächsischen ‚Höflichkeit.‘“
Nach einer Befragung von 450 deutschen Kriegsgefangenen Mitte Januar 1945 verzeichnete die Psychological Warfare Division (PWD) des Supreme Headquarters Allied Expeditionary Force „bemerkenswertes Fehlen von Feindschaft gegen die oder Furcht vor der amerikanisch-britischen Besetzung“. Einen Monat später notierte der Chef der Intelligence Section von PWD: „Unabhängig von ihrer politischen Einstellung hat die Mehrheit der Kriegsgefangenen keine besonderen Befürchtungen, weder hinsichtlich des Verhaltens der amerikanisch-britischen Besatzungstruppen noch hinsichtlich der allgemeinen Lebensbedingungen, die in einem Deutschland unter amerikanischer und britischer Besatzungsherrschaft zu erwarten sind.“[4]
Tatsächliches Vorgehen
Der Plan wurde, da bereits 1944 nicht weiterverfolgt, im Nachkriegsdeutschland nicht umgesetzt. So bestimmte die Truman-Doktrin 1947 die außenpolitische Leitlinie der US-Außenpolitik im Kalten Krieg. Diese sah es als strategisch wichtig an, vor allem diejenigen sich zum Westen rechnenden Staaten militärisch und wirtschaftlich zu unterstützen, welche an den Ostblock grenzten. So kam es, dass Westdeutschland im Juli 1946 in den GARIOA und 1948 in den Marshallplan einbezogen wurde und bis 1952 etwa 1,4 Mrd. US-Dollar Wirtschaftshilfe von den USA erhielt. Die Alliierten erlangten von den Deutschen etwa 2,4 Mrd. US-Dollar jährlich für ihre Kosten des Besetzens – etwa 46 Prozent der Kommunalabgaben 1948.
Siehe auch
Einzelnachweise
- ↑ Kurt Zentner:Aufstieg aus dem Nichts. Deutschland von 1945 bis 1953, Kiepenheuer & Witsch, Köln, Berlin, 1954, Bd.2, S. 104.
- ↑ Zitiert nach: Wolfgang Krieger: „Die amerikanische Deutschlandplanung“ in: In: Hans-Erich Volkmann (Hrsg.): Ende des Dritten Reiches – Ende des Zweiten Weltkrieges. Eine perspektivische Rückschau. Herausgegeben im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes. München 1995. ISBN 3-492-12056-3, S. 32.
- ↑ zitiert nach: Hermann Glaser: 1945 - Beginn einer Zukunft : Bericht und Dokumentation. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt 2004, S. 121.
- ↑ Klaus-Dietmar Henke: Die amerikanische Besetzung Deutschlands, Oldenbourg Wissenschaftsverlag 1995, ISBN 3-486-56175-8, S. 89 ff.
Literatur
- Wolfgang Benz: Legenden, Lügen, Vorurteile. Ein Wörterbuch zur Zeitgeschichte, dtv, München 1994.
- Wolfgang Benz: Von der Besatzungsherrschaft zur Bundesrepublik. Stationen einer Staatsgründung 1946-1949, Frankfurt 1989, ISBN 3-596-24311-4
- Bernd Greiner: Die Morgenthau-Legende. Zur Geschichte eines umstrittenen Plans, Hamburg 1995.
- Klaus-Dietmar Henke: Die amerikanische Besetzung Deutschlands, Oldenbourg Wissenschaftsverlag 1995, ISBN 3-486-56175-8
- Wolfgang Krieger: Die amerikanische Deutschlandplanung in: Hans-Erich Volkmann (Hrsg. im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes): Ende des Dritten Reiches - Ende des Zweiten Weltkriegs, München 1995, ISBN 3-492-12056-3, S.25-50
- Wilfried Mausbach: Zwischen Morgenthau und Marshall. Das wirtschaftspolitische Deutschlandkonzept der USA 1944–1947 (Forschungen und Quellen zur Zeitgeschichte, Bd. 30), Droste, Düsseldorf 1996.
- Jürgen Weber: Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bd.1, Schöningh Paderborn 1979