Emergenz
Emergenz (von lat.: emergere, "auftauchen", "hervorkommen") bezeichnet das Entstehen neuer Strukturen oder Eigenschaften aus dem Zusammenwirken der Elemente in einem komplexen System. Als emergent werden Eigenschaften eines "Ganzen" bezeichnet, die sich aus den einzelnen "Teilen" nicht direkt herleiten lassen und nur aus dem Zusammenwirken der Teile, d.h. aus ihrem Prozess heraus, erklärbar sind. Eine besondere Bedeutung liegt beim Begriff Emergenz auch in der Rückwirkung der emergenten Eigenschaften auf die einzelnen Komponenten. Das Phänomen der Emergenz kann damit umrissen werden, dass das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile.
Begriff
Der Begriff "Emergenz" wird in einer Vielzahl meist nicht genau definierbaren Bedeutungen verwendet: oft nur als vages Synonym für "Auftauchen" und "Erscheinen", etwas spezifischer für so genannte Systemeigenschaften (d.h. Die neuen Eigenschaften von Systemzuständen welche nicht durch die beteiligten Systemelemente erklärt werden können - wie in den obigen Beispielen), in manchen Fällen aber auch im Rahmen so genannter "starker Emergenztheorien". Typische Annahmen solcher Theorien sind die Unvorhersagbarkeit emergenter Eigenschaften (das Wissen über die Bestandteile reicht nicht aus um gewisse Eigenschaften des Gesamtsystems vorherzusagen) sowie deren Irreduzibilität (eine emergente Eigenschaft lässt sich nicht aus den Eigenschaften der Systembestandteile ableiten). Dies steht im Widerspruch zum Reduktionismus, aber auch zum anderen Extrem, dem Holismus.
Eine umfassende Diskussion findet sich in Stephan (1999).
Systemtheoretische Betrachtungsweise
Emergenz ist eine wichtige Eigenschaft von komplexen und/oder nichtlinearen Systemen im Sinne der Systemtheorie. Solche Systeme können Eigenschaften entwickeln, die sich aus der Summe seiner Einzelkomponenten nicht erklären lassen. Der menschliche Körper ist ein biologisches System, der menschliche Geist ist ein psychisch-mentales System, die Kommunikation erzeugt soziale Systeme, usw. All diese Systeme weisen Emergenz auf: Ihre Eigenschaften (Atmung, Jagdverhalten, Selbstbewusstsein, usw.) lassen sich aus den Einzelteilen (Zelle, Organismus, einzelner Gedanke) nicht ohne weiteres erklären.
Beispiele
Neurologie
Ein gern verwendetes Beispiel stammt aus der Neurologie: Das Gehirn besteht aus einer Unzahl relativ einfacher, ähnlicher Elemente (Neuronen). Aus dem komplexen Zusammenspiel dieser einfachen Bausteine emergieren Muster, die die eigentliche Gehirnaktivität ausmachen: ein einzelnes Neuron hat keine Gedanken, bei einem Gehirn (als Gesamtsystem vieler Neuronen) ist dies wissenschaftlich umstritten, aber eine Person mit einem Gehirn hat diese schon.
Neue Medien
In Zusammenhang mit den Neuen Medien wie dem Internet wird ebenfalls von Emergenz gesprochen. Das Internet bietet eine reichhaltige Sammlung Phänomene, die neue Effekte entstehen lassen, die man als emergent bezeichnen kann. Durch weitere Vernetzung werden diese Effekte verstärkt: Beispiele sind Netzkunst, Smart Mobs, Online-Spiele, Foren.
Auch in den zeitgenössischen technikzentrierten und kybernetisch-systemtheoretisch orientierten Medientheorien der Medienwissenschaften bildet die Emergenz einen Schlüsselbegriff, der meist als Selbstentfaltung gelesen werden kann. Dabei sind Formulierungen wie "Seit Medienenvironments aus sich selbst emergieren..." zu finden (Norbert Bolz in Computer als Medium, München 1994, S. 11.)
Auch Friedrich Kittler und Michael Giesecke (in Der Buchdruck in der frühen Neuzeit) verwenden den Begriff.
Betriebswirtschaftslehre
In der Betriebswirtschaftslehre wird der Begriff Emergenz in Verbindung mit nicht-intendierten Effekten durch z.B. Handlungen des Managements großer Unternehmen (welche ja durchaus komplexe Systeme darstellen) verwendet.
Kritische Anzahl Bausteine
Wasser ist nass, ein einzelnes Wassermolekül ist es nicht. Die Eigenschaft "Nässe" ist daher emergent, weil sie sich erst aus dem Zusammenspiel vieler Wassermoleküle ergibt. Genauso ist ein Baum kein Wald. Es existiert für jedes System eine Mindestanzahl von interagierenden Bausteinen, oberhalb derer sich erst emergente Eigenschaften entwickeln können.
Siehe auch
Schwarm, Teil und Ganzes, Rekursion, Rückkoppelung, Paradoxie des Haufens, Kollektive Intelligenz
Literatur
- Achim Stephan: Emergenz: Von der Unvorhersagbarkeit zur Selbstorganisation. Dresden Univ. Press, 1999. ISBN 3933168090
- Achim Stephan: "Emergenz in kognitionsfähigen Systemen". In: Michael Pauen / Gerhard Roth (Hrsg.): Neurowissenschaften und Philosophie. München: Wilhelm Fink Verlag (UTB für Wissenschaft; 2208), 2001. 123-154. ISBN 3-8252-2208-X
- John H. Holland: Emergence - From Chaos to Order. Oxford, New York: Oxford University Press, 1998.
- Jochen Fromm: The Emergence of Complexity. kassel university press, 2004, ISBN 3899580699