Naturreligion (ethnologische Sichtweise)
Naturreligion ist die Bezeichnung, um die Religionen schriftloser Völker zu beschreiben. Parallelausdrücke sind: "Primitivreligionen", "archaische Religionen", "Stammesreligion", "Elementarreligion". Keiner der Ausdrücke befriedigt. Der Begriff "Naturreligion" könnte noch dahin missverstanden werden, dass es sich um natürliche, d.h. nicht geoffenbarte Religionen handelt. Gemeint ist damit letztendlich die Religion der "Naturvölker". Der Begriff "Naturreligion" wird heute in der Ethnologie wegen seiner Ungenauigkeit nicht mehr verwendet.
Die Naturreligionen unterscheiden sich im Wesen der Religion nicht von den Schrift- oder Hochreligionen. Der Anhänger einer Naturreligion weiß sich von einem Absoluten oder einer übermenschlichen Macht abhängig und ordnet sich ihr ebenso unter wie der Gläubige einer Hochreligion.
Es gibt jedoch Unterschiede, die den Begriff rechtfertigen: Einer Naturreligion fehlt die Heilige Schrift, an der sich die Orthodoxie auszurichten hat. Die theologische Reflexion ist nur rudimentär vorhanden. Ein eigener Priesterstand mit komplizierten Ritualen und Opferritualen fehlt meist. Im allgemeinen sind Naturreligionen mit den (einfachen) Sozialstrukturen gekoppelt. Das höchste Wesen ist stammesbezogen. Oftmals üben die Klan-Ältesten auch Priesterfunktionen aus. Die Geister sind oft verabsolutierte Urahnen. Die Gottheiten werden in stärkerem Maße von der Wirtschaftsform geprägt (Jäger - Herr der Tiere; Hackbauern - weibliche Erdgottheiten; Hirten - Himmelsgott)
Was unterscheidet "Naturreligionen" von Schriftreligionen:
- keine Heilige Schrift
- kein universaler Anspruch
- meist keine religiösen Institutionen
- Koppelung der Gottheiten an die Sozialstrukturen (Stamm, Klan, etc.)
- kaum theologische Reflexion
- Gottheiten stehen in Verbindung zur Wirtschaftsform
- Ahnenverehrung bzw. Ahnenkult
Bekannte Beispiele sind Indianergruppen des Amazonasbeckens, Aborigines in Australien.
Vorstellung vom Göttlichen
Nicht selten wird die Auffassung geäußert, bei "Naturreligion" handele es sich um eine Religion, die an die Beseeltheit der gesamten Natur glaube (Animismus. Dies wird als Gegensatz zu einer Gottesaufassung gesehen, bei der Gott ausschließlich transzendent ist (außerhalb der Welt). Eine Naturreligion hingegen vertrete die gegenteilige Position, wonach das Göttliche ausschließlich immanent sei (in der Welt, in der Natur). Die Vorstellung von der Beseeltheit der Natur kennzeichnet den Animismus.
Bei der These, Naturreligion sei gleichbedeutend mit Animismus, wird fälschlicherweise angenommen, bei "Naturvölkern" gebe es grundsätzlich keine höchsten Götter, sondern "nur" die Verehrung der beseelten Natur. Abhängig von der Wirtschaftsform kann es jedoch höchste Götter geben (z.B. Himmelsgott der Hirten). Meist sind die höchsten Götter Ahnen des eigenen Stammes oder Klans.
Der unmittelbare Bezug der Gottheiten zur Welt ist in "Naturreligionen" immer vorhanden. Für die Kommunikation zwischen Mensch und Göttlichem wurden unterschiedlichste Vorstellungen entwickelt (z.B. Trance, Schamanismus etc.).
Naturreligiosität
Naturreligiöse Erfahrungen gehören neben dem Totemismus zu den ältesten spirituellen Erfahrungen der Menschheit. Sobald der Mensch die geistige und seelische Entwicklungsstufe erreicht hatte, die ihm Erkenntnisse und Erlebnisse über die Auseinandersetzung mit seiner rein physischen Umwelt hinaus erlaubten, entstand eine Spiritualität, die geprägt war durch das unmittelbare Erleben der in der Natur waltenden Kräfte und Mächte (siehe Animismus). Es kann jedoch nicht davon ausgegangen werden, dass der Animismus die älteste Form der Religion darstellt, da er bei Jägern und Sammlern (der kulturgeschichtlich ältesten Stufe) wenig verbreitet ist. Der Animismus ist typisch für Ackerbaukulturen.
Animistische Kulturen erleben sich als Bestandteil der belebten und beseelten Natur. Pflanzen, Tiere, Steine, Berge, Wettererscheinungen, Sonne, Mond und vieles andere wurden als Wesen begriffen, die ein höheres Sein oder eine höhere Macht repräsentierten, Kräfte mit denen der Mensch in direkter Verbindung stand. Das Leben und Überleben in der Natur, die Abhängigkeit vom jahreszeitlichen Zyklus führten zu einem sehr engen Bezug, zu einer Einheit des Menschen mit seiner Naturumgebung.
Die unmittelbare Erfahrbarkeit der geistigen spirituellen Welt innerhalb der Natur (unabhängig von einem religiösen Lehrgebäude oder einer göttlichen Offenbarung) stellt möglicherweise den Ausgangspunkt aller menschlichen Religiosität dar.
Entwicklung der Naturreligionen
Es ist davon auszugehen, dass ab einer gewissen Entwicklungsstufe Spezialisierungen stattgefunden haben: Menschen mit besonderen Gaben und Befähigungen zur Kontaktaufnahme und Interaktion mit der geistigen Welt übernahmen spezielle Rituale und Handlungen wie z.B. beim Schamanismus oder der Magie.
Vor allem in relativ differenzierten Kulturen entwickelten sich religiöse Systeme, die noch einen sehr engen Bezug zu den zugrunde liegend Naturkräften hatten. Quasi ubiquitär verbreitet war (ist) zum Beispiel eine zentrale Sonnengottheit, die die Leben spendende und alles erhaltende Kraft der Sonne repräsentiert. Mond-, Meer-, Wettergottheiten fehlen bei kaum einer späteren Religion bis in die Neuzeit hinein. Ernte- und Fruchtbarkeitsgottheiten stellen auch bei modernen religösen Systemen immer noch den Bezug zur Naturverehrung her, der auch in den weitverbreiteten Jahreskreisfesten seinen Ausdruck findet.
Jedoch steigt mit zunehmender Weiterentwicklung und Differenzierung der Kulturen das Abstraktionsniveau, die religiösen Inhalte sind immer stärker von den sinnlichen und persönlichen spirituellen Erfahrungen der einzelnen Menschen entkoppelt.
Nachdem aus den für allen erfahrbaren spirituellen Kräften und Wesen vergleichsweise abstrakte Gottheiten geworden waren, kam es zu einer zunehmenden Ritualisierung. Aus dem Menschen, der in einer Sphäre und Ebene mit den ihn umgebenden Mächten gelebt hatte wurde der Gläubige. Von den eigentlichen höheren Kräften getrennt bedurfte der einfache Gläubige der Unterstützung von Priestern und Tempeldiensten um seine ureigensten inneren spirituellen Bedürfnisse und Angelegenheiten zu regeln.
Die Hochkulturen der (Ägypter, Griechen, Assyrer, Phönizier etc.) entfernen sich noch weitergehend von der erfahrbaren Natur und ergänzten die spirituellen Vorstellung um wichtige Aspekte ihrer (z.T. städtischen) Kultur: Gottheiten für Stadt, Krieg, Handel, Justiz entstehen. Der griechisch römische Götterpanthenon spiegelt nicht mehr die Natur sondern die (entwickelte) menschliche Gesellschaft wieder.
Tendenzen
In weiten Teilen der Erde übernahmen viele Ethnien mehr oder (meist) minder feiwillig die äußeren Strukturen der großen Weltreligionen (Christentum, Islam, Buddhismus). Unter dieser strukturellen Oberfläche lebten speziell in ländlichen und abgeschiedenen Gegenden die alten Traditionen weiter oder wurden in die Hochreligion integriert. Bekannteste Beispiele sind hier die Indios der Anden, die unter der formalen christlichen Oberfläche ihre alten religiösen Traditionen weiter pflegen, die christlich heidnischen Mischkulte der Karibik oder Volksgruppen in Indien, wo die Lehren der 3 dort herrschenden Hochreligionen (Buddhismus, Hinduismus, Islam) für viele kleine Volksgruppen nur den Rahmen darstellen, in dem sich die eigenen naturreligiösen Traditionen bewegen.
Naturreligion (esoterische Sichtweise)
In der modernen Esoterik wird unter Naturreligion primär die Verehrung der Natur verstanden.
Neo-Naturreligiöse Strömungen in der westliche Zivilisation
Die unmittelbare spirituelle Naturerfahrung hat auch den abendländischen (christlichen) Menschen immer wieder erfasst. Prominente Beispiele sind naturreligiös beeinflussten Genies wie Johann W. von Goethe oder Francis Bacon.
Ausgehend von der Naturbegeisterung und Naturmystik der Romantik (Novalis u.a.) entwickele sich innerhalb der bürgerlich-aristokratischen Eliten des 19 Jhd. Neo-Naturreligiöse Strömungen, zunächst in Form der Wiederentdeckung des keltischen Erbes (Druidentum) in England und Frankreich.
Die Industrialisierung mit ihren negativen Folgen führte als Gegenbewegung zu den Naturbewegungen des beginnenden 20 Jhd. die erstmals breitere Bevölkerungsschichten erfassten. Naturerfahrung und Naturmystik spielten der Wandervogelbewegung und ähnlichen Strömungen eine große Rolle. Diese Ansätze vermengten sich in Deutschland zum Teil mit der braunen Blut und Boden-Ideologie und führten zu den pseudonaturreligiösen Entartungen des Nationalsozialismus.
Auch unabhängig und weitgehend frei von der braunen Last entdeckten in Skandinavischen Ländern viele Menschen ihre germanischen ‚Wurzeln’ und es kam zur Bildung Neo- Germanischer religiöser Gruppen, die einen starken naturreligiösen Bezug haben.
In den USA begeisterten sich immer Menschen für die schamirschen und naturreligiösen Traditionen der langen unterdrückten und verfolgten Ureinwohner.
Der Mensch des 20 Jahrhundert erlebte eine fortschreitende Zerstörung der Natur und entfremdete sich in seinen Lebensweisen in nie gekanntem Masse von den natürlichern Abläufen.
Diese Entfremdung von den eigenen Grundlagen führte nahezu zwangsläufig zu Gegenbewegungen mit einem ausgeprägten ‚zurück zur Natur’ Impuls, der seinerseits wiederum eine vermehrten naturspirituellen Erfahrung in Gang setzte.
In einer Zeit, in der die kulturelle Leitreligion des Westens (Christentum) für viele Menschen ihre Strahlkraft weitgehend eingebüsst hat, ist die Bereitschaft zu neuen (bzw. schon sehr alten) religiösen Erfahrungen hoch.
So kennt die moderne postchristliche Gesellschaft zahlreiche naturreligiöse Strömungen die, grob in drei Gruppen eingeteilt werden können.
- Schamanismus und (allg.) Naturreligiosität
- keltische und germanische Tradition/Spiritualität
Siehe auch
Literatur
- Walter Hirschberg (Hrsg.): Neues Wörterbuch der Völkerkunde, Dietrich Reimer Verlag, Berlin, 1988
- Josef Franz Thiel: Religionsethnologie, Grundbegriffe der Religionen schriftloser Völker, Dietrich Reimer Verlag, Berlin, 1984