Als Atom-Moratorium bezeichnet man die Entscheidung der Bundesregierung vom 14. März 2011, die sieben ältesten Reaktoren der deutschen 17 deutschen Kernreaktoren drei Monate lang stillzulegen.[1]
Das Moratorium ist kein Gesetz; es tangiert nicht die Wirksamkeit anderer Gesetze und geschlossener Verträge. Zum Beispiel wurde die im Herbst 2010 von der Bundesregierung beschlossene Laufzeitverlängerung deutscher Kernkraftwerke um 8 bzw. 14 Jahre auch mittels Gesetzesänderungen umgesetzt.
Auf ihrer Homepage schreibt die Bundesregierung dazu:
„"Für die Sicherheitsüberprüfungen sollen die Betreiber die vor 1980 ans Netz gegangenen Kernkraftwerke stilllegen. Alle übrigen werden bei laufendem Betrieb überprüft – ergebnisoffen, wie die Kanzlerin, der Bundesumweltminister und Bundeswirtschaftsminister Rainer Brüderle betonten. Brüderle sieht die Versorgungssicherheit von der vorläufigen Stilllegung nicht gefährdet, schloss allerdings Strompreiserhöhungen nicht aus." "Die Katastrophe in Japan stelle Deutschland wie die Welt vor eine völlig neue Situation, betonte Merkel. So seien frühere atomare Störfälle stets auf menschliches oder technisches Versagen zurückzuführen gewesen. Erstmals hätten nun so nie erwartete Naturgewalten zu massiven Problemen beim Betrieb eines Kernkraftwerkes geführt. "Das ist ein Anlass, die Dinge unvoreingenommen zu überprüfen", befand die Kanzlerin. Das Gebot äußerster Vorsorge zwinge erst einmal zur Abschaltung der älteren Kraftwerke, ergänzte Röttgen."[2]“
Die deutschen Atomreaktoren lieferten bis zum Atom-Moratorium durchschnittlich rund 23 Prozent des in Deutschland produzierten Stroms. Brüderle betonte, es gebe auch ohne die sieben abzuschaltenden Anlagen eine hinreichende Versorgungssicherheit in Deutschland.[3]
Allgemeines
Mit dem Atom-Moratorium reagierte die Bundesregierung auf die Nuklearunfälle von Fukushima-Daiichi. Diese Unfallserie an alten japanischen Siedewasserreaktoren begann nach einem starken Erdbeben und einem dadurch verursachten Tsunami am 11. März 2011; ein Ende der Unfälle und der Freisetzung großer Mengen radioaktiven Materials in die Umwelt ist noch nicht abzusehen. Diese Katastrophe führt den Menschen weltweit vor Augen, welch enorme Folgen eine Kernschmelze für große Landstriche haben kann.
Die Bundesregierung erklärte, das Moratorium basiere auf § 19 Absatz 3 Satz 3 des Atomgesetzes. Zur Umsetzung des Moratoriums wiesen die Atomaufsichtsbehörden der Bundesländer, in denen diese Reaktoren stehen, den jeweiligen Betreiber an, den Reaktor stillzulegen.
Die Bundesregierung hat eine 'Ethik-Kommission' neu gegründet; zudem untersucht die - seit langem bestehende - Reaktorsicherheitskommission (RSK) die Sicherheit der 17 deutschen Kernreaktoren.[4]
Am 1. April 2011 reichte RWE beim Verwaltungsgerichtshof Kassel eine Klage gegen die Anweisung ein, den von ihr betriebenen Reaktor Kernkraftwerk Biblis A stillzulegen.
Laut Schätzungen entstehen den Betreibern der sieben Reaktoren Einnahmeausfälle in Höhe von insgesamt etwa 500 Millionen Euro. Da Kernkraftwerke sehr hohe Fixkosten haben und die Brennstoffkosten kaum ins Gewicht fallen, entstehen den Betreibern damit auch Gewinneinbußen in ähnlicher Höhe.
Die Bundesregierung hat erst im Herbst 2010 für die 17 deutschen Kernreaktoren eine Laufzeitverlängerung um 8 ("ältere") bzw. 14 Jahre ("jüngere") beschlossen und diese mit Gesetzesänderungen sowie mit Verträgen mit den Betreibern 'festgezurrt'. Seit ihrem Amtsantritt im Herbst 2009 hat sie viel unternommen, um diese Entscheidung zu flankieren bzw. zu begründen.
Das von den früheren Bundesumweltministern Jürgen Trittin (Grüne) und Sigmar Gabriel (SPD) erarbeitete 'kerntechnische Regelwerk' mit schärferen Standards wurde vom Bundesumweltministerium nicht umgesetzt. "Für die Sicherheits-Checks in den Atommeilern werden daher wohl die Standards der 70er und 80er Jahre angewendet. Das sorgt für Unmut, die Opposition hält Röttgens Atom-Kehrtwende daher für unglaubwürdig."[5]
Rechtliche Grundlage
Die Bundesregierung erklärte, das Moratorium basiere auf § 19 Absatz 3 Satz 3 des Atomgesetzes. Umweltminister Norbert Röttgen (CDU) sagte, es handele sich um eine "vorsorgende Maßnahme" angesichts der Vorfälle in Japan.[6]
Absatz 3 lautet:[7]
(3) Die Aufsichtsbehörde kann anordnen, daß ein Zustand beseitigt wird, der den Vorschriften dieses Gesetzes oder der auf Grund dieses Gesetzes erlassenen Rechtsverordnungen, den Bestimmungen des Bescheids über die Genehmigung oder allgemeine Zulassung oder einer nachträglich angeordneten Auflage widerspricht oder aus dem sich durch die Wirkung ionisierender Strahlen Gefahren für Leben, Gesundheit oder Sachgüter ergeben können. Sie kann insbesondere anordnen,
1. daß und welche Schutzmaßnahmen zu treffen sind, 2. daß radioaktive Stoffe bei einer von ihr bestimmten Stelle aufbewahrt oder verwahrt werden, 3. daß der Umgang mit radioaktiven Stoffen, die Errichtung und der Betrieb von Anlagen der in den §§ 7 und 11 Abs. 1 Nr. 2 bezeichneten Art sowie der Umgang mit Anlagen, Geräten und Vorrichtungen der in § 11 Abs. 1 Nr. 3 bezeichneten Art einstweilen oder, wenn eine erforderliche Genehmigung nicht erteilt oder rechtskräftig widerrufen ist, endgültig eingestellt wird.
Kommissionen
Die Bundeskanzlerin hat eine Ethik-Kommission berufen, die unter dem Vorsitz des früheren Umweltministers Klaus Töpfer herausfinden soll, wie akzeptiert die Kernenergie in der Gesellschaft ist, welche Risiken (siehe auch Restrisiko) den Bürgern zu vermitteln sind und welche nicht. Dieser "Rat der Weisen" trifft sich am 4. April zum ersten Mal.
Die Reaktorsicherheitskommission (RSK) soll die Sicherheitsstandards der deutschen Kernkraftwerke nach der Katastrophe in Japan neu prüfen. Es gehe um die Frage, ob diese aufgrund neuer Annahmen neu definiert werden müssten (Röttgen auf einer Pressekonferenz). Die RSK solle das bisher nicht abgedeckte Risiko von Atomkraftwerken ermitteln. Die Kommission sei im Rahmen einer "Selbstbeauftragung" auch gebeten, aus eigenem Antrieb darüber zu diskutieren, was die aus der Katastrophe resultierenden zu klärenden Fragen sind.[4]
Vorgeschichte und Rezeption
Vorgeschichte
Die Bundestagswahl 1998 war eine Zäsur in der deutschen Geschichte: nach über 16 Jahren wurde die schwarz-gelbe Koalition unter Bundesanzler Helmut Kohl abgewählt; zum ersten Mal bekam rot-grün auf Bundesebene eine parlamentarische Mehrheit. Die Grünen machten schon bei den Koalitionsverhandlungen deutlich, dass ein "Einstieg in den Austieg" ihnen ein zentrales politisches Anliegen war. Die SPD ließ sich darauf ein. Am 13. Januar 1999 verständigte sich die rot-grüne Koalition auf Eckpunkte eines Atomgesetz-Entwurfs. Die Nutzung der Atomenergie soll „geordnet und sicher beendet“ werden. Am 26. Januar 1999 fand die erste Konsensrunde zwischen Regierung und Industrie statt.
Jürgen Trittin (Umweltminister 1998 - 2005), Bundeskanzler Schröder und andere erarbeiteten in zähen Verhandlungen mit allen Beteiligten den sogenannten Atomkonsens. Dieser wurde am 14./15. Juni 2000 vereinbart und am 11. Juli 2000 unterzeichnet. Das Gesetz tritt am 27. April 2002 in Kraft, nachdem der Bundesrat den Entwurf am 1. Februar 2002 mangels Zustimmungspflicht passieren lassen musste.
In diesem willigten die Betreiber darin ein, dass sie ihre Atomkraftwerke nicht unbegrenzt betreiben durften. Vielmehr wurden bestimmte Strommengen (obwohl es sehr große Strommengen waren, bürgerte sich dafür der Begriff "Reststrommengen" ein) vereinbart. Die Betreiber verpflichteten sich, das jeweilige Kraftwerk endgültig abzuschalten, sobald es diese Strommenge erzeugt hatte.
CDU/CSU und FDP lehnten diesen Atomkonsens vehement ab.[8] Sie erklärten schon bei seiner Verabschiedung, dass sie nach einem erneuten Regierungswechsel versuchen würden, diesen wieder rückgängig zu machen. Die Bundestagswahl 2005 führte zu einer großen Koalition (CDU/SPD) unter Frau Merkel. Die SPD lehnte es ab, den Atomkonsens 'aufzuschnüren'. Im Wahlkampf vor der Bundestagswahl 2009 erklärten CDU und FPD ihre Absicht, dies im Falle eines Wahlsieges zu tun.
Frau Merkel setzte die Laufzeitverlängerung im Herbst 2010 entgegen der öffentlichen Mehrheitsmeinung und auch gegen Bedenken in den eigenen Reihen durch. Norbert Röttgen, Bundesumweltminister seit Amtsantritt des Kabinett Merkel II im Herbst 2009, nahm nicht an den Verhandlungen zur Laufzeitverlängerung (oft auch "Atom-Deal" genannt) teil. Er plädierte öffentlich für eine deutlich kürzere Laufzeitverlängerung und wurde aus diesem Anlass vom baden-württembergischen (Noch-)Ministerpräsidenten Stefan Mappus öffentlich zum Rücktritt aufgefordert.
Am 12. März 2011, einen Tag nach dem Erdbeben, dem Tsunami und der beginnenden Reaktorkatastrophe in Japan, traf sich Kanzlerin Merkel mit den Ministerpräsidenten der Bundesländer, in denen Atomkraftwerke arbeiten (Bayern, Baden-Württemberg, Hessen, Niedersachsen und Schleswig-Holstein). Zum Abschluss hielt sie zusammen mit diesen (Horst Seehofer, Stefan Mappus, Volker Bouffier, David McAllister, Peter Harry Carstensen) eine Pressekonferenz.[9] Kernsatz war die Aussage "Wir können (Anm.: angesichts der stündlich dramatischeren Nachrichten aus Japan) nicht einfach zur Tagesordnung übergehen".[10]
Am Abend des 14. März 2011 verkündete Frau Merkel das Atom-Moratorium.
Rezeption
Diese Wende in der Atompolitik kam für die meisten Beobachter trotz der Pressekonferenz am 12. März sehr überraschend.
Da sie sechs Tage vor der Landtagswahl Landtagswahl in Sachsen-Anhalt 2011 am 20. März 2011 bzw. 13 Tage vor der Landtagswahl in Baden-Württemberg 2011 und der Landtagswahl in Rheinland-Pfalz 2011 stattfand, vermuteten viele eher Wahlkampfgründe als eine tatsächliche und dauerhafte Abkehr von ihrer bisher betriebenen Atompolitik.
Diese Vermutung wurde genährt, als interne Äußerungen von Bundeswirtschaftsminister Brüderle bei einem BDI-Treffen an die Öffentlichkeit gelangten.[11]
RWE reichte am 1. April 2011 Klage gegen die Stilllegung von Biblis A und B ein. Vattenfall und Eon hingegen wollen nicht gegen das Moratorium vorgehen, EnBW hält sich bedeckt (Stand 2. April 2011).[12]
"die meisten Verfassungsrechtler sind der Ansicht, dass die Mitte März per Moratorium erfolgte befristete Stilllegung von acht Atomkraftwerken - darunter dreien, die zu diesem Zeitpunkt nicht in Betrieb waren - rechtlich nicht zulässig war. Paragraf 19 Absatz 3 Atomgesetz sei eine Vorschrift zur Abwehr konkreter Gefahrensituationen, die in Deutschland aktuell aber nicht zu konstatieren seien, sagt beispielsweise der Karlsruher Verfassungsrechtler Christian Kirchberg. Auch dass mit einem solchen Moratorium ein geltendes Gesetz außer Kraft gesetzt werde, sei "außerordentlich problematisch und verfassungsrechtlich bedenklich". Er plädiert stattdessen dafür, ein spezielles Stilllegungs- und Ausstiegsgesetz zu konzipieren oder das geltende Atomgesetz zu ändern - eine Forderung, die auch SPD, Grüne und Linke erheben."[12]
"Der Kanzlerin ist in der Atomfrage der verfassungsrechtliche Kompass verloren gegangen", sagte Ulrich Schellenberg (Vizepräsident des Deutschen Anwaltvereins. Mit der Entscheidung für die AKW-Abschaltung werde das Parlament als Gesetzgeber zurückgedrängt. "Der Hinweis auf das Atomgesetz wirkt konstruiert." Insofern seien die von Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) geäußerten rechtlichen Zweifel "absolut berechtigt".[13]
Weblinks
Einzelnachweise
- ↑ bundesregierung.de 15. März 2011: Kernkraftwerke kommen auf den Prüfstand
- ↑ bundesregierung.de
- ↑ faz.net vom 15. März 2011: Sieben Kernkraftwerke gehen vorerst vom Netz
- ↑ a b zeit.de vom 31. März 2011
- ↑ sueddeutsche.de 16. März 2011
- ↑ sueddeutsche.de
- ↑ juris.de
- ↑ rp-online.de 10.Juni 2001
- ↑ bundesregierung.de Statements von Bundeskanzlerin Merkel mit den Ministerpräsidenten Seehofer, Carstensen, Mappus, Bouffier, McAllister und den Bundesministern Brüderle und Röttgen nach dem Gespräch zur Kernenergie in Deutschland
- ↑ spiegel.de 15. März 2011
- ↑ sueddeutsche.de
- ↑ a b K.-P. Kingelschmitt: Ein Kampf um Biblis. In: taz vom 2. April 2011
- ↑ handelsblatt.com 18. März 2011