Valéry Giscard d’Estaing
Valéry Giscard d'Estaing (* 2. Februar 1926 in Koblenz) ist ein französischer Politiker.
Biografie
Als Sohn eines Finanzinspektors beteiligt er sich mit 17 Jahren am propagandistischen Widerstand der Résistance gegen die deutsche Besatzung, wird nach dem Schulbesuch in Clermont-Ferrand mit gerade 18 Jahren in der letzten Phase des Zweiten Weltkrieges für ein Jahr Soldat mit Einsätzen sowohl in Frankreich, als auch in Deutschland.
Im Anschluss wird er nach einem Vorbereitungsjahr in Paris am Lycée Louis-le-Grand an die Polytechnische Hochschule aufgenommen, studiert und gehört einer der ersten Abschlussklassen der École nationale d'administration an.
Im Jahr 1952 startet seine berufliche Laufbahn, nach dem Vorbild seines Vaters, in der Finanzinspektion, wo er bis 1956 verbleibt, aber diese Aufgabe niederlegt, um sein Abgeordnetenmandat für das Département Puy-de-Dôme, für das schon sein Großvater seit geraumer Zeit einen Sitz innehatte, anzunehmen. Am 2. Januar 1956 war er als Abgeordneter in die Nationalversammlung gewählt worden. Von 1956 bis 1958, dem Jahr, in dem General de Gaulle seine Verfassungsreform durchführt, ist Giscard d'Estaing Mitglied der französischen UNO-Delegation.
1962 wird er schließlich als jüngstes Kabinettsmitglied Staatssekretär im Finanzministerium mit beachtlichen Erfolgen in der Haushalts-, Stabilitäts- und Währungspolitik, um kurze Zeit später auf Vorschlag des Premierministers Georges Pompidou vom Präsident Charles de Gaulle in seiner Funktion als Staatspräsident, von 1962 bis 1966 zum Minister für Finanzen und wirtschaftliche Fragen ernannt zu werden.
Doch seine Popularität schwindet schnell und, nachdem es ihm nur knapp gelingt, sich bei der folgenden Wahl 1965 gegenüber dem rivalisierenden Kandidaten durchzusetzen, überträgt General de Gaulle das Ministerium Anfang 1966 Michel Debré. Bis zu Beginn seiner Präsidentschaft 1974 behält Giscard d'Estaing sein Mandat als Abgeordneter.
Nach Spaltung seiner Partei, der Republikaner wird Giscard D'Estaing Führer der Républicains Indépendent, eines unabhängigen republikanischen Verbandes, der de Gaulles Politik bedingt unterstützt. Er bekennt sich erstmals offen zu den Zielsetzungen einer Europäischen Einigung und unterstützt in diesem Zusammenhang die Bewerbung Großbritanniens um eine Aufnahme in die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft 1969. Seine Partei erleidet 1968 eine Wahlniederlage.
Nach der Wahl Georges Pompidous zum Präsidenten vertraut dieser Giscard d’Estaing erneut das Ministerium für Finanzen und Wirtschaft im Kabinett von Jacques Chaban-Delmas von 1969 bis 1972 an. Auch Pierre Messmer, der von 1972 bis 1974 die Funktion des Premierministers übernimmt, bestätigt ihn in dieser Funktion.
Mit der Unterstützung des Gaullisten Jacques Chiracs gelingt es ihm im ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen 1974, sich gegenüber Chaban-Delmas durchzusetzen, ist jedoch noch schwächer als François Mitterrand. Die zweite Runde entscheidet er nach einer Fernsehdebatte mit Mitterrand mit 50,81% für sich, so dass er im Mai 1974 mit 48 Jahren, als jüngster Kandidat, das Amt des Präsidenten übernimmt.
Präsidentschaft
Von 1974 bis 1981 ist Giscard d'Estaing Staatspräsident von Frankreich. Als Präsident ernennt er Chirac zum Premierminister, doch es kommt zu Spannungen zwischen den beiden und infolgedessen 1976 schließlich zum Rücktritt Chiracs. An seine Stelle tritt im August Raymond Barre, den der Präsident als den „herausragendsten Ökonomen Frankreichs“ bezeichnet und mit dem er einen umfassenden Plan zur Wirtschafts- und Sozialreform vorbereitet.
In die Amtszeit von Valéry Giscard d’Estaing fallen Reformprojekte, wie die Gesetzgebung zur Ehescheidung in gegenseitigem Einvernehmen oder, unter der Leitung von Simone Veil, zur Abtreibung und das Volljährigkeitsalter wurde auf 18 Jahre herabgesetzt.
Als radikaler Befürworter des Europäischen Aufbauprozesses, besteht seine Vision schon vor seinem Eintritt in die aktive Politik in einem Staatenbund nach Vorbild der Vereinigten Staaten von Amerika. In diesem Rahmen, als dritte Alternative zu einem übernationalen Europa und einem Nationalstaat, begründet er die regelmäßige Abhaltung Europäischer Gipfeltreffen und unterstützt die Erweiterung der Befugnisse des Europäischen Parlaments, insbesondere in Bezug auf Fragen der Budgetsverwendung. Für das Europäische Parlament wird erstmals 1979 eine Direktwahl nach allgemeinen und unmittelbaren Abstimmungsgrundsätzen eingeführt.
Giscard d'Estaing wahrt die ökonomische und politische Position Frankreichs gegenüber den afrikanischen Staaten, aber auch gegenüber den Supermächten: Er betont wiederholt die volle politische Entscheidungsfreiheit seines Landes, das nie zur "Provinz einer Supermacht" degradiert werden dürfe, traf sich jedoch im Mai 1980 mit Breschnew in Warschau ohne greifbares Ergebnis, nachdem er die sowjetische Intervention in Afghanistan zurückhaltend kommentiert hatte. Er forderte die Bundesrepublik Deutschland dazu auf, die Rolle Europas in der Weltpolitik zu festigen, was den geringen deutschen Spielraum in der Außenpolitik erweiterte.
Immer noch von dem Willen nach einer Modernisierung beseelt, relativiert er staatliche Symbole in ihrer Bedeutung – eine weniger intensive Farbe auf der Flagge, eine Anpassung des Tones und Rhythmus beim Abspielen der Nationalhymne zu öffentlichen Anlässen, Amtsantrittsrede zunächst in Englisch, Vereinfachung der protokollarischen Vorschriften für den Präsidentschaftspalast, Bemühungen zur Wahrung einer Nähe zur Bevölkerung.
Die Amtszeit von Giscard d’Estaing wird von den Konsequenzen der Ölpreisschocks geprägt. Angesichts der Notwendigkeit zur Energieeinsparung führt er 1975 die Sommerzeit ein. In diese Periode fällt ebenfalls das Aufkeimen einer neuen Form von Massenarbeitslosigkeit. Auch dem neuen Kabinett Barre gelingt es nicht, dieser Entwicklung zu bremsen. Gemeinsam mit Bundeskanzler Helmut Schmidt müssen die Staaten der Europäischen Gemeinschaft in Folge des Zusammenbruchs des Weltwährungssystems von Bretton Woods und der mit den Ölpreis-Schocks verbundenen rasanten Inflation Schritte zu deren Überwindung und zur Einführung eines Europäischen Währungssystems (EWS) zur Reduzierung der Wechselkursrisiken zwischen den Mitgliedsstaaten einleiten. Die im Zusammenhang mit dem Europäischen Währungssystem aus dem Währungskorb geschaffene Kunstwährung wurde European Currency Unit (ECU) als Vorläufer der Einheitswährung in Euro genannt. Dank der großen wirtschafts- und finanzpolitischen Übereinstimmung zwischen Giscard d'Estaing und Schmidt entwickeln die beiden befreudeten Politiker den Plan von informellen Treffen der wirtschaftlich wichtigsten Staaten USA, Kanada, Japan, Frankreich, Großbritannien, Deutschland und Italien (G7), die sich in Schloß Rambouillet auf Einladung Giscard d'Estaings erstmals zu "Kamingesprächen" ohne feste Tagesordnung, Protokoll und große Stäbe trafen.
Zum Ende seiner Amtszeit kommt es zu einem Skandal, als ihn bei privaten oder Staatsbesuchen der Diktator der Zentralafrikanischen Republik Bokassa mit Diamanten beschenkt. Letztendlich gibt er diese Geschenke zurück, doch sein Ansehen erleidet damit insbesondere im Hinblick auf die Präsidentschaftswahlen von 1981 einen unwiederbringlichen Schaden. Nachdem es vor dem zweiten Wahlgang zu einem erneuten Fernsehduell der beiden verbleibenden Kandidaten Giscard d’Estaing und Mitterrand kommt, muss er sich mit 48,25% geschlagen geben und sein Amt dem neuen Präsidenten räumen.
Folgezeit
Obwohl ihm als ehemaligem Präsidenten ein Sitz im Verfassungsrat zusteht, nimmt er diesen nicht in Anspruch, um sich jede Form der freien Meinungsäußerung zu bewahren. Für kurze Zeit übernimmt er die Führung der liberalen Partei UDF, die er 1978 mitbegründet hat.
Giscard d’Estaing zieht sich in die Auvergne zurück, wo er in seinem Heimatort Chamalières zum Generalrat gewählt und Vorsitzender des Regionalrates wird, ebenso bei einer Nachwahl am 23. September 1984 zur Nationalversammlung, scheitert jedoch im Kampf um das Bürgermeisteramt von Clermont-Ferrand. Sein politischer Comeback-Versuch stützt sich organisatorisch auf den Zusammenschluß zentristischer politischer Klubs (« Perspectives et réalités »), was zu seinem Scheitern letztlich beiträgt. Er vertritt die Auffassung, alle bürgerlichen Kräfte (also Barre und Chirac) müßten kooperieren, um bei den folgenden Wahlen erfolgreicher zu sein. Während er sein Engagement in der Politik auf nationaler Ebene quasi aufgibt, konzentriert er sich auf Aufgaben auf regionaler und europäischer Ebene.
Von 1989 bis 1993 saß Giscard d'Estaing als Abgeordneter im Europäischen Parlament.
Einige Zeit widmet er sich einer schriftstellerische Tätigkeit, indem er 1994 einen Roman veröffentlicht.
Noch heute kümmert er sich engagiert um Fragen der europäischen Einheit. Beim europäischen Gipfel von Laeken im Dezember 2001, schließlich, wird er als Präsident des Europäischen Konvents (Convention sur l’Avenir de l’Europe) berufen. Aufgabe der Kommission ist es, die Abstimmungsverfahren auf Europäischer Ebene zu vereinfachen, die verschiedenen Abkommen zusammenzufassen und daraus einen Entwurf einer Europäischen Verfassung auszuarbeiten. Am 15. Juli 2003 kann dann ein fertiger Entwurf vorgelegt werden.
Im Vorfeld des Referendums zur Europäischen Verfassung unterstützt er die Kampagne der Befürworter. Die Ablehnung kommt aus seiner Sicht unerwartet. Zwischenzeitlich von den 25 Mitgliedsstaaten unterzeichnet, steht aktuell noch die Ratifizierung aus. Nach Stand der Dinge wird dieser Vertrag jedoch an der Ablehnung der Franzosen und Niederländer bei ihren Referenden scheitern. Aufgrund dieser Tätigkeit als Präsident des Europäischen Konvents erhielt er im Jahr 2003 den Karlspreis der Stadt Aachen.
Nach dem Tod von Léopold Sédar Senghor wird er am 11. Dezember 2003 mit 19 von 34 Stimmen zudem auf den freigewordenen Sitz 16 der Académie Française gewählt.
Als Listenführer des Parteienzusammenschlusses UMP-UDF für das Département Puy-de-Dôme in der Auvergne bei den Regionalwahlen 2004, unterliegt er im zweiten Wahlgang Pierre-Noël Bonté vom PS, dem zusammen mit den anderen linksgerichteten Parteien die Mehrheit der Regionen zufallen. Als er damit seinen Posten als Vorsitzender des Regionalrates verliert, den er seit März 1986 besetzte, fasste er den Entschluss, sich aus der aktiven Politik endgültig zurückzuziehen und seine Aufgaben im Verfassungsrat wahrzunehmen.
Schloss d'Estaing
Giscard d'Estaings Familie stammt aus der Auvergne. Der adlige Nachname Giscards geht auf einen Titelkauf von Vater Edmond Giscard im Jahre 1922 zurück. Die Schloss- und Freiherren aus dem gleichnamigen Dorf Estaing (Départment Aveyron, Südfrankreich) führen ihre Ahnenreihe bis auf Richard Löwenherz zurück. Seit dem 15. Jahrhundert gibt es dort in der haute Vallée du Lot ein Schloss, das Giscard d'Estaing zusammen mit seinem Bruder im Februar 2005 für 750.000 Euro erworben hat. Zwischen 1834 und 2000 wohnten hier Nonnen des Josefs-Ordens. Nach der Restaurierung soll es zu einer Kultur- und Begegnungsstätte werden, in dem Konzerte, Begegnungen und Tagungen abgehalten, sowie seine persönlichen Aufzeichnungen als Präsident der Convention Européenne archiviert werden.
Publikationen
- Démocratie Francaise, Essay, 1976 – (dt. Französische Demokratie)
- Deux Francais sur Trois, Essay, 1984 – (dt. Zwei von Drei Franzosen)
- Le Pouvoir et la Vie, Denkschrift, 1.Teil: La Rencontre, 1988 – (dt. Macht und Leben - Begegnung)
- Le Pouvoir et la Vie, Denkschrift, 2. Teil: L’Affrontement, 1991 – (dt. Macht und Leben - Auseinandersetzungen)
- Le Passage, Roman, 1994 – (dt. Der Durchgang)
- Dans cinq ans, l’an 2000, 1995 – (dt. In fünf Jahren das Jahr 2000)
- Les Français, Réflexion sur le Destin d’un Peuple, 2000 – (dt. Die Franzosen, Überlegungen zur Zukunft eines Volkes)
- Giscard d’Estaing – Entretien avec Agathe Fourgnaud – (dt. Giscard d’Estaing – Gespräch mit Agathe Fourgnaud)
- Giscard d’Estaing présente la Constitution pour l’Europe, 2003 – (dt. Giscard d’Estaing stellt die Europäische Verfassung vor)
Weblinks
Personendaten | |
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NAME | Giscard d'Estaing, Valéry |
KURZBESCHREIBUNG | französischer Politiker, 1974-1981 Staatspräsident von Frankreich, Präsident des Europäischen Konvents |
GEBURTSDATUM | 2. Februar 1926 |
GEBURTSORT | Koblenz |