Runen

Schriftzeichen
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Runen sind die ältesten Schriftzeichen der Germanen. Sie waren zwischen dem 2. und dem 8. Jahrhundert für Inschriften auf Gegenständen und Gedenksteinen in Gebrauch. Nach der nominellen Christianisierung Nordeuropas, die grundsätzlich den Wechsel zur lateinischen Schrift zur Folge hatte und um 800 bis 1000 weitgehend abgeschlossen war, hielt sich der Gebrauch des Runenalphabets nur in Skandinavien deutlich länger, in einzelnen Regionen bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Der weitaus größte Teil der etwa 6500 erhaltenen Runeninschriften stammt aus dem Skandinavien der Wikingerzeit.

Die ältesten Inschriften datieren aus dem 2. Jahrhundert und stammen aus Moorfunden in Südschweden und Dänemark (Jütland). Das möglicherweise älteste in Runenschrift überlieferte Wort ist die auf einer eisernen Speerspitze eingeritzte Beschwörung raunijaR ("Herausforderer"). Die Spitze wurde in einem Grab aus der Zeit um 200 in Øvre Stabu (Oppland) gefunden.

Runen wurden meist rechtsläufig (von links nach rechts) geschrieben, aber es gab auch Ausnahmen, besonders im nordgermanischen Raum.

Der Name ist von einer Wurzel rūn- (gotisch runa) mit der Bedeutung „Geheimnis“ abzuleiten. Verwandt damit ist auch das deutsche Wort „raunen“. Entgegen der weitverbreiteten Meinung, der Name Runen sei neuzeitlichen Ursprungs, gibt es aus dem 6. Jahrhundert mehrere Nennungen von runa auf beritzten Gegenständen (z. B. Runenstab von Neudingen). Und Venantius Fortunatus, der im fränkischen Merowingerreich mit Runen in Berührung gekommen sein könnte, dichtete um 565: Barbara fraxineis pingatur rhuna tabellis / quodque papyrus agit virgula plana valet. (Die Rune der Barbaren mag an auf eschene Tafeln zeichnen; was der Papyrus vermag, dazu taugt auch das flache Holzstäbchen.)

Datei:Rok Stone.jpg
Der Runenstein von Rök (Südschweden), 9. Jh.

Ursprung

Das äußerliche Charakteristikum der Runen ist die Vermeidung waagrechter und gebogener Linien, was früher immer wieder die Vermutung aufkommen ließ, dass es sich um eine Buchstabenumformung handelt, die dazu geeignet sein sollte, vor allem in hölzernes Material geritzt zu werden. Neuere Funde (z.B. Moorfunde von Illerup, Dänemark) zeigen jedoch auch gerundete Formen (z.B. bei der Odal-Rune) auf metallenen Waffenteilen.

Die Runen sind von den Germanen nicht als fertiges Schriftsystem übernommen, sondern weitgehend eigenständig nach Vorbildern südeuropäischer Schriften entwickelt worden. Vor allem die lateinische Schrift, aber auch die zahlreichen ausgestorbenen Schriften des keltisch-alpin-italischen Raums kommen als "zündender Funke" in Betracht. Die Runen gehen damit - sowohl in ihrem Prinzip einer Buchstabenschrift als auch in der Form vieler Lautzeichen - auf die große phönizisch-aramäische Familie von Alphabeten zurück, die im 1. Jahrtausend v. Chr. im Gebiet des Libanon und Syriens entstanden ist und zu der alle heutigen europäischen Schriften zählen.

Der Ursprung der Runenschrift ist kaum zu erhellen, weil die ältesten Belege bereits ein etabliertes Alphabet präsentieren. Das erste gesicherte Auftreten von Runen fällt in die zweite Hälfte des 2. Jahrhunderts (Gegenstände wie z. B. Waffen aus Mooropferplätzen in Jütland wie Nydam, Illerup, Thorsberg). Vorstufen der Schrift konnten nicht unzweifelhaft identifiziert werden. Es wurden und werden daher drei Thesen zur Entstehung der Runenschrift vertreten:

Italisch-etruskische These

Das Vorbild soll aus dem Kreis der zahlreichen verschiedenen Alphabete aus Norditalien und dem Alpenraum (4. bis 1. Jahrhundert v. Chr.) bzw. ein nord-etruskisches Alphabet sein, bei denen allen, wie auch bei der lateinischen Schrift, das westgriechische Alphabet als Vorbild gedient hat (griechischer Kultureinfluss durch Händler und Kolonien in Italien ab dem 7. Jahrhundert v. Chr.).

Besonders der Helm von Negau wurde zur Unterstützung dieser These herangezogen. Der Helm mit einer Inschrift in einem norditalischen Alphabet soll den Ursprung einiger Runenzeichen aus den norditalischen Varianten der griechischen Schrift belegen. Die Deutung der Inschrift bleibt jedoch umstritten, zumal der Helm aus dem 5. Jahrhundert v. Chr. stammt und die Inschrift selbst erst später (3./2. Jahrhundert v. Chr. ?) angebracht wurde.

Das stärkste Argument für die italisch-etruskische These sind die Buchstabenformen, der Schreibduktus und das Verfahren der Worttrennung durch Punkte. In keiner anderen Schrift finden sich so viele Übereinstimmungen für einzelne Zeichen. Von kulturgeschichtlicher Seite ist diese These jedoch schwer zu untermauern, denn sie impliziert, daß die Runenschrift sich im norditalienischen, westalpinen oder norischen Raum im 1. Jahrhundert v. Chr. oder im 1. Jahrhundert n. Chr. herausgebildet haben müßte (wo es jedoch keine Spuren von ihr gibt) und dann bis gegen 200 n. Chr. bis in den Norden Germaniens verbreitet worden wäre.

Latein-These

Die lateinische Schrift war ihrerseits zunächst nur eine von vielen italischen Schriften, jedoch wurde sie mit der Großmacht Rom zu derjenigen, die sich durchsetzte und zur einzigen, die als Verwaltungsschrift bis in alle Winkel des römischen Imperiums verbreitet wurde. Somit war es möglich, daß germanische Stämme selbst im abgelegenen südskandinavischen Raum durch Kontakte mit der römischen Kultur (Händler, Geiseln, Söldner, Besucher etc.) die lateinische Capitalis Monumentalis der Kaiserzeit kennenlernen und daraus eine eigene Schrift entwickeln konnten. Für diese These sprechen einzelne Übereinstimmungen von Zeichenformen (unzweifelhaft sind F, R, B, E und M). Die meisten Runologen gehen heute von der Latein-These aus.

Griechische These

Entstehung der Runen im 2./3. Jahrhundert n. Chr. im Schwarzmeergebiet (Goten?/heutige Ukraine). Vorbild soll hier eine ostgriechische Minuskelschrift gewesen sein. Diese These ist weitestgehend aufgegeben worden. Die ältesten skandinavischen Runendenkmäler sind nach archäologischer Datierung bereits entstanden, bevor die Goten in Kontakt mit dem römischen Weltreich kamen. Wie eine germanische Schrift aussieht, die (im 4. Jahrhundert) auf der Basis der griechischen Schrift und der vollausgebildeten Runenschrift neu entwickelt wurde, läßt sich am gotischen Alphabet (vor allem bekannt aus der Wulfilabibel) ablesen. Auch aus sprachhistorischen Gründen scheidet diese Möglichkeit aus.

Runenalphabete

Das älteste Runenalphabet

Das älteste bekannte Runenalphabet (nach den ersten sechs Buchstaben futhark genannt) bestand aus 24 Zeichen, die in drei Abschnitte eingeteilt waren. Es war in der Völkerwanderungszeit bei grundsätzlich allen germanischen Stämmen in Benutzung. Alle jüngeren Runenalphabete leiten sich von ihm ab. Etwa 350 Inschriften im älteren Futhark wurden bislang entdeckt; sie können zwischen 200 und 700 datiert werden.

Jedes Graphem (Buchstabe) entspricht einem Phonem (Laut). Für das ältere Futhark besteht vor ca. 550 bis 650 eine bemerkenswert gute Übereinstimmung zwischen dem Zeicheninventar und dem Phoneminventar der damit geschriebenen gemeingermanischen bzw. urnordischen Sprache oder Sprachen. Nur die doppelte I-Rune (Eis und Eibe) muß ein Relikt einer früheren Sprachstufe sein.

Rune Name (rekon-
struiert)
Laut-
wert
Rune Name (rekon-
struiert)
Laut-
wert
Rune Name (rekon-
struiert)
Laut-
wert
fehu („Vieh“) f / haglaz („Hagel“) h teiwaz, tīwaz („Himmelsgott, Tyr“) t
ūruz („Ur, Auerochse“) u naudiz („Not“) n berkō, berkanan („Birke“) b
þurisaz („Riese“) oder þurnaz („Dorn“) þ (englisches th) īsaz ("Eis") i ehwaz („Pferd“) e
ansuz („Ase“) a jēran („(gutes) Jahr“) j mannaz („Mensch“) m
raidō („Ritt, Wagen“) r ī(h)waz („Eibe“) ï (zwischen e u. i) laguz („See“) oder laukaz ("Lauch") l
kaunan („Geschwür“) k perþō („Fruchtbaum (?)“) p Ingwaz („Gott Ing“) ng
gibō („Gabe“) g algiz („Elch“) -z, -R (Endungs- konsonant) dagaz („Tag“) d
wunjō („Wonne“ ?) w / sōwelō („Sonne“) s ōþalan („Erbwohnsitz“) o

Hinweis zur Tabelle: Namen sind in gemeingermanischem, so nirgends belegtem Lautstand rekonstruiert. Vokale mit Balken bezeichnen lange Vokale, alle anderen Vokale sind kurz.

 
Ältestes Runenalphabet („futhark“) (eu (?) = ei)

Ein Charakteristikum der germanischen Runenalphabete ist, daß jede Rune einen Namen trägt, gewöhnlich ein bedeutungsvolles Wort, das mit dem jeweiligen Laut beginnt; so hieß die Rune für f Fehu, das heißt "Vieh, beweglicher Beitz, Reichtum". Für das älteste Futhark sind diese Runennamen nicht überliefert. Sie können erschlossen werden, weil die Namen sich weitgehend übereinstimmend bei allen jüngeren Runenalphabeten der germanischen Stämme finden; Wulfila übertrug sie sogar auf die gotische Schrift, die keine Runenschrift war. Im 9. und 10. Jahrhundert, als Runen außerhalb Skandinaviens überhaupt nicht mehr im Gebrauch waren, zeichneten klösterliche Gelehrte sowohl in England wie auf dem Kontinent mehrfach die verschiedenen Runenreihen mit Namen (Übersicht) oder in Form von Runenmerkversen auf. Aus diesen Quellen werden die Runennamen des ältesten Futhark rekonstruiert; nicht alle Formen sind jedoch unumstritten.

Bis zum 7. Jahrhundert hatten sich die Lautsysteme in den germanischen Einzelsprachen deutlich verändert. Zuvor unterschiedene Laute fielen zusammen, neue Vokale bildeten sich. Dies führte zwangsläufig dazu, daß die Laut-Buchstaben-Zuordnung des älteren Futhark nicht mehr stimmig war. So entwickelten die einzelnen Sprachen und Dialekte jeweils eigene Alphabete.

 
Angelsächsisches Runenalphabet (f u þ o r k ...) auf einem in der Themse gefundenen Sax. Am Schluß steht der Name des Runenmeisters Beagnoþ.

Das angelsächsische Runenalphabet

 
angelsächsisches Runenalphabet

Die Angelsachsen erweiterten das Futhark aufgrund der reichen Entwicklung des Vokalismus im Altenglischen schrittweise auf 33 Zeichen (davon sind nebenstehend nur die wirklich auch verwendeten abgebildet). Das 33buchstabige Futhork war in dieser Form im 9. Jahrhundert ausgebildet. Es wurde außer in handschriftlichen Aufzeichnungen auch in northumbrischen Inschriften verwendet.

Das längere Nebeneinander von Runen und Lateinschrift im 7. bis 10. Jahrhundert führte in England dazu, daß für Laute der angelsächsischen Sprache, die im lateinischen Alphabet keine Entsprechung hatten, die entsprechenden Runen quasi weiterverwendet wurden. Auf diese Weise gelangten die thorn-Rune als Schreibung für /th/ und die wen- oder wynn-Rune (Ƿ ƿ) für das bilabiale /w/ in die lateinische Schrift.

Das altnordische Runenalphabet

 
Nordisches Runenalphabet
 
Punktiertes Runenalphabet

Auch in Skandinavien war das Futhark Veränderungen unterzogen: Es wurde im 7. bis 8. Jahrhundert auf 16 Runen (f u th o r k : h n i a s : t b l m R) reduziert. Dabei mußten dann einzelne Runen zahlreiche verschiedene Lautwerte bezeichnen: die u-Rune etwa u, y, o, ö und w. Diesen Verlust an Zeichen glich man am Ende des 10. Jahrhunderts mit der Einführung von Punktierungen aus; später gab es auch noch andere Systeme, die sogar für Laute wie Q eine Rune einführten. Im hohen Mittelalter entsteht so, von Norwegen ausgehend, eine punktierte Runenreihe in alphabetischer Reihenfolge, bei der jeder lateinische Buchstabe eine Entsprechung hat. Das erste datierte Zeugnis für die Verwendung des vollständig punktierten Runenalphabets findet sich auf der kleineren Kirchenglocke von Saleby (Westgötland), deren Inschrift das Jahr 1228 angibt.

In Skandinavien wurden die Runen aufgrund der späten Christianisierung erst im 19. Jahrhundert völlig durch die lateinische Schrift verdrängt, während dieser Prozess in den anderen germanischen Gebieten schon im 11. Jahrhundert abgeschlossen war.

"Antiquarische" Runenalphabete des frühen Mittelalters

 
„Markomannische Runen“

Schon sehr früh, nachdem sie außer Gebrauch kamen, wurden Runenreihen von lateinkundigen Kirchenmännern als Kuriositäten und Geheimschriften gesammelt. Besonders das Kloster Fulda mit seiner starken insularen Tradition pflegte im 9. Jahrhundert, wie es scheint, einen Forschungs- und Sammelschwerpunkt 'Runica'.

In einigen Handschriften aus dem 8./9. Jahrhundert vorwiegend aus Süddeutschland ist ein merkwürdiges Runenalphabet in der Reihenfolge der lateinischen Buchstaben überliefert. Es stellt eine Mischung aus Zeichen des älteren Futhark mit angelsächsischen Zeichen dar und soll auf Hrabanus Maurus, den Abt von Fulda und Alkuin-Schüler, zurückgehen. Da diese Serie (die früher irreführend als „Markomannische Runen“ bezeichnet wurde) nur in einigen Handschriften, aber nirgends inschriftlich vorkommt, dürfte sie wohl nur ein Versuch der Mönche gewesen sein, allen Buchstaben der lateinischen Schrift Runenzeichen zuzuordnen.

Beginn des
Abecedarium Nordmannicum


feu forman
ur after
thuris thritten stabu
os is th(em)o oboro ...

Vieh zuerst,
Ur danach,
Thurse als dritten Stab,
Ans ist rechts davon ...

In derselben Alkuin-Handschrift, in der sich auch das gotische Alphabet aufgezeichnet findet (10. Jh.), ist auch ein 28buchstabiges angelsächsisches Futhork mit Runennamen überliefert.

Daneben existiert eine Reihe von Gedichten, in denen die Reihenfolge, die Namen und die Bedeutung der Runen in eine memorierbare Form gebracht waren: Das sogenannte Abecedarium Nordmannicum (9. Jh., Handschrift Walahfrid Strabos) in einem Gemisch von Niederdeutsch, Hochdeutsch, Angelsächsisch und Nordisch, das angelsächsische Runengedicht in 94 Stabreimversen, ein norwegisches und ein isländisches Runengedicht (13. und 15. Jh.), sowie in der Edda die Rúnatal ("Runenrede") in der Sigrdrífomál und die Rúnatals Þáttr Óðins ("Odins Runenmagie") in den Hávamál.

Verwendungen der Runen

Runen als Begriffszeichen

Der "Name" der einzelnen Runenzeichen konnte auch als eine Art Symbolbedeutung verwendet werden. Das Einzelzeichen o konnte also für "Erbbesitz" stehen. Man spricht in diesem Fall von Begriffsrunen.

Runen als magische Zeichen

Zweifellos waren die Runen, zumal in ältester Zeit, mit kultischen Zwecken verbunden und wurden als Medium magischer Macht angesehen. Auch ihr Name, der "Geheimnis" bedeutet, bezeugt dies. Ob es allerdings zulässig ist, Runen mit Orakelbräuchen in Verbindung zu bringen, ist unsicher. Ein frühes Zeugnis über das germanische Losorakel ist im 10. Kapitel der Germania des Tacitus erhalten. Man streute mit "gewissen Zeichen" (notis quibusdam) bezeichnete hölzerne Stäbchen auf ein weißes Tuch. Darauf wurden auf gut Glück drei dieser Stäbchen aufgehoben und gedeutet. Dies wurde nacheinander dreimal durchgeführt. Ob es sich bei diesen Zeichen (1. Jahrhundert) aber schon um Vorläufer des Runenalphabets oder sogar schon um eigentliche Runen handelte, ist kaum bestimmbar.

Datei:Brakteat Odin Runen.jpg
Brakteat mit Runeninschrift. Dargestellt ist Odin als göttlicher Heiler

Die Verwendung der Runen zu magischen Zwecken ist besonders im Norden bezeugt. Als Begriffsrunen bedeuteten z.B. Vieh, (gutes) Jahr, Gabe, Ritt einen entsprechenden Segenswunsch, umgekehrt sollten Not, Geschwür eine Befürchtung bannen oder einen Fluch aussprechen. Viele frühe Inschriften bestehen aus einem einzigen Wort wie alu, laukaz, laþu, was man meist als magische Formeln ("Heil, Gedeihen") versteht. In den jüngeren skandinavischen Denkmälern werden Zauberrunen für bestimmte Zwecke erwähnt, so Siegrunen, Bierrunen, Bergerunen (zur Geburtshilfe), Seerunen (zum Schutz der Schiffe), Rederunen (um klug zu sprechen), Löserunen (bei Gefangenschaft), Runen zum Besprechen (Stumpfmachen) der Schwerter und dergleichen.

Ein überliefertes Götterlied der Lieder-Edda erzählt, wie Odin sich selbst opferte und neun Tage kopfüber in einem Baum (der Weltesche Yggdrasil) hing, bevor er Kenntnis in der Macht der Runen gewann und sich befreien konnte. Im weiteren Verlauf des Liedes werden magische Kräfte der Runen beschrieben und schließlich 18 Zaubersprüche genannt. Ein weiterer Text der Edda, Skirnirs Fahrt, enthält die stärkste überlieferte Verfluchung. Dazu ritzt Skirnir, Diener des Gottes Freyr, während er den Fluch spricht, eine Rune. Erstaunlicherweise handelt es sich dabei um einen Fluch zum Zwecke sexueller Nötigung: Skirnir droht dem Opfer, falls es sich nicht mit Freyr einlasse.

 
Runenkästchen von Auzon (um 650) mit altenglischen Stabreimversen in Runen, vordere Tafel: Szene aus der Wieland-Sage

Runen als Schrift

Zu zusammenhängender Schrift sind die Runen von den Germanen des Kontinents nur in geringem Umfang gebraucht worden. Runensteine gibt es in Mitteleuropa nicht. Die einzigen dort erhaltenen Runenritzungen finden sich auf Schmuck, Waffen und (seltener) auf Gebrauchsgegenständen. Auch in England war die Verwendung von Runen zu diesem Zweck nicht häufig: Das umfangreichste Denkmal, die Inschrift auf dem Kreuz von Ruthwell, stammt bereits aus christlicher Zeit. Die Runenschnitzerei auf dem Walbeinkästchen von Auzon gibt altenglische Stabreimverse wieder, die frühesten überhaupt überlieferten. Dieses in Nordengland um 650 entstandene Stück gehört zu den eindrucksvollsten Schöpfungen der germanischen Zeit.

Die Runen in Mitteleuropa

In Mitteleuropa tauchen die ersten Runen erst zu Beginn des 6. Jahrhunderts, dann jedoch regional und zeitlich stark gehäuft, auf. Vor allem bei den Alemannen und am Mittelrhein (heutiges Südwestdeutschland) finden sich relativ viele Runenritzungen. Auffallend ist, dass Runen nur dort vorkommen, wo germanisch sprechende Menschen lebten (Ausnahme: Charnay, Burgund). Auch die Inschriften, soweit sie deut- und lesbar sind, sind in germanischer Sprache. Bisher gibt es ca. 80 Inschriften, die fast alle nur von Gegenständen aus Gräbern stammen. Zumeist handelt es sich dabei um Schmuck der Frauen (Fibeln, „Sicherheitsnadeln“, ursprünglich zum Verschließen von Gewändern) oder, weit weniger, Gürtel- und Waffenteile bei den Männern. Daneben gibt es jedoch auch sehr selten organische Gegenstände aus Holz und Knochen. Da fast sämtliche Runenfunde aus Gräbern stammen und sich dort Metallgegenstände weit besser erhalten als z. B. Holz, darf man daraus nicht schließen, dass bevorzugt Metallgegenstände zum Runenritzen benutzt wurden. Auch die deutliche Mehrheit der Frauen mit Runengegenständen dürfte auf den Umstand zurückzuführen sein, dass sich Ritzungen besonders gut bei den Edel- und Buntmetallschmuckstücken erhalten und entdecken lassen, besser als dies bei den eisernen Waffen- und Gürtelteilen der Männer der Fall ist.

Der Gebrauch der Runen war in Mitteleuropa aber nur von kurzer Dauer, denn spätestens nach Mitte des 7. Jahrhunderts finden sich keine Runen mehr. Besonders zahlreich finden sich die Runen zwischen 550 und 600 n. Chr.

Inhalte

Die Inschriften sind kurz, häufig nur ein Wort, manchmal nur eine einzelne Rune. Die längsten Inschriften (Neudingen, Pforzen) sind gerade einmal ein bis zwei Sätze lang. Häufig sind die Inschriften nicht deutlich erkennbar oder lesbar. Neben den Einzelrunen gibt es „falsch“ geschriebene Runen und Pseudorunen (ein Versuch zu schreiben, ohne es wirklich zu können?).

Selbst wenn die Inschrift gut zu erkennen und länger ist, gibt es unter den Wissenschaftlern oft kaum eine einhellige Meinung zu einer Übersetzung des Inhaltes. Deutlicher ist z. B. der Holzstab (Teil eines Webstuhls) aus Neudingen (Baden-Württemberg): „Lbi (ergänzt zu leub/liubi) Imuba: Hamale: Blithguth urait runa“ (Liebes der Imuba: (von) Hamale: Blithguth ritzte/schrieb die Runen) oder die Fibel von Bad Krozingen (Baden-Württemberg) „Boba leub Agerike“ (Boba liebt den Agerich).

Magisches

Anders als bei den skandinavischen Funden läßt sich im mitteleuropäischen Raum kaum eine Inschrift als magisch oder Zauberformel deuten. Es handelt sich meist um eher profane private Nachrichten, Liebesbezeugungen oder Schenkungswidmungen.

Auf den Brakteaten von Hüfingen (Baden-Württemberg) finden sich die Formelwörter „alu“ (Ale/Bier = Gesundheit/Schutz?) und „ota“ (Schrecken/Abwehr?), die auch aus dem Norden bekannt sind. Möglicherweise handelt es sich hierbei um magische Formelwörter, die Unheil abwehren und Gedeihen herbeiwünschen sollen.

Auf der Fibel von Beuchte (Niedersachsen, 6. Jh.) finden sich zwei Inschriften (1. Buirso, wohl der Name des Runenmeisters, 2. die Futhark-Reihe von f bis r, erweitert um z und j), wobei die eine im Gegensatz zur Fibel keine Abnutzungsspuren aufweist und womöglich erst nach dem Tode der Trägerin eingeritzt worden war (die Futhark-Reihe, also die ersten acht Zeichen, als „Alphabet“-Zauber, die quasi als magische „Formel“ gilt?). Dies könnte darauf hindeuten, dass die Inschrift zur Abwehr eines „Wiedergängers“ (einer Toten, die zurückzukehren droht) gedacht war.

Religiöses

Auf der Fibel von Nordendorf bei Augsburg (Anf. 7. Jh.) wird eine Göttertrias genannt: „Logathore, Wodan, Wigi-Thonar“ (Wigi-Thonar = Weihe-Donar/Thor). Es würde sich um die aus späteren Quellen bekannten germanischen Götter Donar/Thor und Wodan/Odin handeln. Logathore könnte ein dritter, lokaler Gott gewesen sein (Loki?).

K. Düwel liest logathore jedoch als „Ränkeschmiede/Zauberer“ und deutet die Inschrift als „Ränkeschmiede/Zauberer (sind) Weihe-Donar und Wodan“. Dies wäre dann eine Verdammung der alten Götter und ein Hinweis auf den neuen christlichen Glauben der Trägerin. U. Schwab hingegen liest „Zauberer/zauberhaft (im positiven Sinne) (sind) Weihe-Donar und Wodan“, womit dann wieder eine Deutung als Anhängerin des alten Glaubens gegeben wäre.

In einigen Fällen sind Formeln bezeugt, die als die Abwendung von heidnischen Gottheiten gelesen werden können. Auf der Scheibenfibel von Osthofen ist mit der Inschrift "Gott mit dir, Theophilus (=Gott-Freund)" die Wendung zum Christentum deutlich vollzogen.

In einem Kirchengrab in Arlon (Belgien) fand sich eine (christliche/Kreuzdarstellung) Amulettkapsel mit Runen, die recht eindeutig die dort bestattete Tote als Christin ausweist.

Ende der Runenritzungen

Warum der Brauch, Runen zu ritzen, in Mitteleuropa im 7. Jahrhundert ausstarb, ist nicht geklärt. Weniger wahrscheinlich ist ein Verbot durch die Kirche bzw. wegen der durchgreifenden Christianisierung dieser Gebiete, da zum einen kein solches Verbot überliefert ist und einige Bestattete mit Runengegenständen anscheinend schon Christen waren (Arlon, Kirchheim). Zudem übernahm die Kirche in England und Skandinavien zwanglos z. T. die Runen als Schrift.

Da die Runen nur für einen recht kurzen Zeitraum in Gebrauch waren (ca. zwei bis drei Generationen) und die Inschriften oftmals eine unsichere Hand (Schreiben nicht richtig erlernt oder verlernt) verraten, war die Kenntnis vermutlich nie richtig fest verwurzelt. Statt dessen wechselte man, wohl unter dem Einfluss der Kirchen und Klöster, auf die gebräuchlichere und „internationalere“ lateinische Schrift über. Interessanter ist die Frage, warum die Germanen Mitteleuropas überhaupt erst fast 400 Jahre, nachdem die ersten Runen in Skandinavien benutzt wurden, dieses Schriftsystem übernahmen und nicht gleich (oder früher) die lateinische Schrift der benachbarten römischen Gebiete. Interessant ist auch der Umstand, dass die Runen hier zuerst auftauchen, als die Gebiete in das Frankenreich eingegliedert wurden (Alemannen 496/506/535, Thüringer 529/532). Eine These lautet, daß nach dem Fall des Thüringerreichs 531 die 'romanisch' geprägten Franken und Alemannen zu direkten Nachbarn der Sachsen wurden und der Austausch zwischen Nord und Süd sich intensivierte.

Die Runen in Skandinavien

Im skandinavischen Norden, wo die lateinische Schrift erst verhältnismäßig spät bekannt wurde, haben die Runen dagegen sehr ausgedehnte Verwendung gefunden, besonders bei Grabinschriften oder zum Andenken an Familienangehörige auf Runensteinen. Aus der Zeit des älteren Futharks hat die Inschrift auf dem kleineren der Goldhörner von Gallehus große Berühmtheit erlangt.

 
Runenstein in Uppsala

Die Inschriften im kürzeren Alphabet beginnen etwa um 800; Beispiele dafür sind die Steine von Helnäs und Flemlöse auf Fünen. Ganz sicher datierbar sind jedoch erst die zweifellos jüngeren Iällingesteine aus dem 10. Jahrhundert. Sie sind in Schweden besonders zahlreich und reichen bis in spätere Zeit hinauf, auf Gotland bis ins 16. Jahrhundert; einige (beispielsweise der Karlevistein auf Öland und der Rökstein in Östergötland) enthalten stabreimende Verse. Diese jüngeren Inschriften aus der Wikingerzeit machen mit über 5000 den Hauptanteil aller erhaltenen Runendenkmäler aus. Allein im schwedischen Uppland finden sich 1200 Runensteine. Der Gebrauch der Runen zu literarischen Zwecken, also in Handschriften, ist selten und wohl nur als eine gelehrte Spielerei zu betrachten. Das umfangreichste Denkmal war der sogenannte Codex runicus mit dem schonischen Recht aus dem 14. Jahrhundert. Besonders lange wurden Runen auf Kalenderstäben gebraucht.

Da Mythen und Sagen mündlich überliefert wurden und die von Anfang an schriftlichen isländischen Sagen erst nach Einführung der Lateinschrift entstanden, wurden Runen zwar kaum zu literarischen Zwecken benutzt, aber nicht nur die große Verbreitung von Inschriften zeigt, dass jedenfalls in der wohlhabenden Oberschicht wahrscheinlich ein recht großer Teil der Menschen lesen und schreiben konnte. Runen dienten oft auch profanen Zwecken. Dazu zählen Besitzmarken, mit denen Handelswaren und anderes Eigentum gekennzeichnet wurden, geschäftliche Mitteilungen, aber auch Gelegenheitsinschriften in Form von kurzen privaten Botschaften, wie zum Beispiel die Aufforderung „kysmik“ (küss mich), die im Oslo des 11. Jahrhunderts auf einen Knochen geritzt wurde. In Byzanz hinterließen mehrere nordische Reisende, möglicherweise Krieger der kaiserlichen Warägergarde, Runengraffitos auf Galerien der Hagia Sophia.

Das isländische Alphabet enthält bis heute ein Zeichen, das ursprünglich aus dem Runenalphabet stammt: Þ steht für den stimmlosen th-Laut (wie beispielsweise im englischen Wort „thing“).

Runen in der Neuzeit

Beginn der wissenschaftlichen Erforschung

Die Runen gerieten nie in völlige Vergessenheit. Die "wissenschaftliche" Befassung mit Runendenkmäler und dem Runenalphabet läuft bereits seit dem frühen Mittelalter auf denselben Gleisen wie die enzyklopädische und geschichtswissenschaftliche Beschäftigung mit anderen "Altertümern". Seit dem 16. Jahrhundert wurden gelehrte Sammlungen und Studien veröffentlicht, allerdings erscheinen die Herleitungen der Schrift z.B. aus der Zeit der Sintflut (Johan Magnus, 1554) oder von der hebräischen Schrift (Ole Worm, 1639) doch eher kurios. Johan Göranssons Bautil von 1750 ist mit seinen Abbildungen von 1200 schwedischen Runensteinen noch immer von Bedeutung, auch wenn er die These vertrat, die Runen seien um 2000 v. Chr. von einem Bruder Magogs in den Norden gebracht worden. Das verlorengegangene Goldhorn von Gallehus ist nur noch durch Stiche des 18. Jahrhunderts faßbar.

Heute ist die Runenkunde (Runologie) kein eigenständiges akademisches Fach, aber ein etabliertes Forschungsgebiet im Berührungsfeld von vergleichender Sprachwissenschaft, Nordistik, Geschichtswissenschaft und Archäologie.

Ideologische Vereinnahmungen

Als scheinbar autochthone, rein germanische Leistung waren die Runen anfällig für den Mißbrauch für ideologische und politische Zwecke im Zeitalter des Nationalgedankens. Schon im 17. Jahrhundert entwickelten Dänemark und Schweden einen ahistorischen Stolz auf "ihre" Runen. Einer kulturkritischen Strömung am Ende des 19. und Beginn des 20. Jahrhunderts, die sich in neuheidnischen und antisemitischen Tendenzen äußerte, kamen vorchristliche, "nordische" Traditionen nur gelegen. Die Vereinnahmung der Runen (wie auch der nordischen Mythologie) durch das deutsche Dritte Reich ist dabei nur die bekannteste Form dieser ideologischen Indienstnahme.

Runen in der Esoterik-Szene

Noch zu ergänzen.

Literatur

  • Klaus Düwel: Runenkunde. 3. vollst. erw. u. neu bearb. Aufl. Stuttgart: Metzler 2001. ISBN 347613072X
  • Klaus Düwel: Artikel "Runen", "Runenfälschungen", "Runeninschriften", "Runenschrift", "Runensteine". In: Reallexikon der germanischen Altertumskunde, Bd. 25 (2003). ISBN 3-11-017733-1
  • Heinz Klingenberg: Runenschrift – Schriftdenken – Runeninschriften. [Mit 78 Textfiguren und 63 Abbildungen auf 32 Kunstdrucktafeln.] Heidelberg: Carl Winter, 1973. ISBN 3533021815
  • Robert Nedoma: Personennamen in südgermanischen Runeninschriften. Heidelberg: Winter 2004. ISBN 3825316467

Siehe auch

Ungarische Runen, Orchon-Runen

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