Siedewasserreaktor
Der Siedewasserreaktor (kurz SWR) ist ein Kernreaktor, der dem Druckwasserreaktor (DWR) in vielem ähnelt. Siedewasserreaktoren und Druckwasserreaktoren sind Leichtwasserreaktoren. Der SWR hat nur einen Wasser-/Dampfkreislauf. Der radioaktive Kreislauf ist somit nicht auf den Sicherheitsbehälter beschränkt. Die typische Auslegung eines Siedewasserreaktors erreicht bisher nur in Krümmel und Gundremmingen (1400 MW bzw. 1345 MW) die Leistung der bisher entworfenen Druckwasserreaktoren (≈1300 MW). Der erreichbare Wirkungsgrad eines Siedewasserreaktors liegt geringfügig über dem Wert für Druckwasserreaktoren wegen der fehlenden Wärmeübertragerverluste.
Durch Bildung von Dampfblasen direkt auf den Brennstäben erfolgt eine lokal ungleichmäßige Benetzung der Brennelementestäbe und im Ergebnis an der Oberfläche der Brennstäbe eine dynamisch wechselnde Wärmeverteilung mit besonderer Korrosionsgefahr in der Dampfphase. Diese dynamische Wärmeverteilung bietet ein gutes Regelverhalten für die Kontrolle der Kernspaltung bei hoher Ausnutzung der freiwerdenden Energien.

Wirkungsweise
Das vorgewärmte Wasser wird in den Druckbehälter des Reaktors gepumpt, der durch das Containment vom restlichen Aufbau isoliert ist. In dem Druckbehälter befinden sich die Brennelemente aus Urandioxid angereichert mit Uran-235, das temperaturbeständig und chemisch nicht reaktiv ist. Das hier verwendete Uran ist bis zu 4,02 % angereichert. Der Druckbehälter ist zu ungefähr zwei Dritteln mit Wasser gefüllt. Durch die bei der Kernspaltung entstehende Wärme verdampfen Teile des Wassers (Siedekühlung) bei z. B. 71 bar und 286 °C im Druckbehälter; dieser Dampf treibt die Turbine an. Ein Generator wandelt die von der Turbine gelieferte Energie in elektrischen Strom um. Der entspannte Wasserdampf wird durch Kühlwasser im Kondensator verflüssigt und wieder dem Kreislauf zugeführt. Die im Reaktor erzeugte Dampfmenge beträgt bei einem Siedewasserreaktor eines deutschen Kernkraftwerkes etwa 7000 Tonnen pro Stunde.
Die Reaktorleistung kann über Wasserumwälzpumpen im Bereich zwischen etwa 60 und 100 % geregelt werden. Die weitere Regelung findet mittels Steuerstäben aus Borcarbid, Hafnium oder Cadmium statt. Beim Abschalten aller Umwälzpumpen fällt die Leistung auf 30 bis 40 % der Nennleistung in den sogenannten Naturumlaufpunkt. Der (potentielle) Wirkungsgrad eines Siedewasserreaktors ist unwesentlich größer als der des Druckwasserreaktors (≈33%). Der Nettowirkungsgrad liegt bei ca. 35 %. In der Praxis spielen die Unterschiede im Wirkungsgrad jedoch nur eine untergeordnete Rolle.
Sicherheit und Kontamination
Die Dampfturbine wird im Siedewasserreaktor – im Gegensatz zum Druckwasserreaktor – direkt von dem im Reaktordruckbehälter erzeugten Wasserdampf betrieben. Durch Abrieb im Stoffstrom, Korrosion an den Brennstäben und durch Kontamination des Kühlwassers wird die Radioaktivität auf ein großes Materialvolumen verteilt und bis in die Turbine ausgebreitet.
Daher müssen – beispielsweise für die Abdichtung der Turbinenwelle – besondere Vorkehrungen getroffen werden. Anders als beim Druckwasserreaktor gehört das Maschinenhaus hier zum Kontrollbereich, sodass dort während des Leistungsbetriebs nur eingeschränkt gearbeitet werden kann. Durch die im Reaktordruckbehälter eingebauten Wasserabscheider und Dampftrockner verlässt während des Leistungsbetriebs Dampf den Reaktor, der allerdings im Vergleich zur flüssigen Phase erheblich weniger radioaktiv kontaminiert ist. Die radioaktiven Stoffe im Wasserkreislauf sind im Wesentlichen Abrieb und Ionen gelöster Stoffe sowie gelöste Edelgase. Die radioaktiven Stoffe im Dampfkreislauf sind im Wesentlichen aktivierter Sauerstoff des Kühlmittels sowie radioaktive Edelgase und deren Tochternuklide mit Halbwertszeiten im Bereich von wenigen Sekunden bis einigen Minuten. Jedoch werden die Rohrleitungen und Teile der Turbinen durch den permanenten Kontakt mit diesen Stoffen im Laufe der Zeit an der Oberfläche kontaminiert. Wenn hier Teile ausgetauscht werden, müssen die Altmaterialien vor der Verschrottung durch Abtragen der Oberfläche, z. B. durch Sandstrahlen, dekontaminiert werden. Leitungen, die Reaktorwasser führen, werden dagegen vor Inspektionsarbeiten oder vor dem Austausch mit chemischen Verfahren dekontaminiert.
Die Steuerstäbe werden bei Siedewasserreaktoren von unten in den Reaktor eingefahren. Sie werden im Betrieb durch elektrische Antriebe verfahren, für die Schnellabschaltung steht unabhängig davon ein hydraulisch wirkendes System zur Verfügung. Dieses folgt dem sogenannten fail-safe-Prinzip - beim Ausfall z. B. der Energieversorgung läuft die Schnellabschaltung durch in Drucktanks gespeicherte Energie selbsttätig ab. Im Gegensatz zum Druckwasserreaktor kann man im Siedewasserreaktor Borsäureeinspeisung (Vergiftung) nur im Notfall anwenden. Borsäure hat einen hohen Absorptionskoeffizient für thermische (also bereits moderierte) Neutronen, was eine fortlaufende Kettenreaktion unmöglich macht. Da es im SWR nur einen Kreislauf gibt (der Reaktorgebäude und Maschinenhaus umfasst), würden sich Borkristalle an den Dampfturbinen anlagern, was zu einer Beschädigung der Anlage führt. Beim DWR ist eine solche Einspeisung durch getrennten Reaktor- bzw. Turbinenkreislauf möglich. Bei einem Druckwasserreaktor fallen die Steuerstäbe bei einer Schnellabschaltung durch die Schwerkraft in den Kern und unterbrechen so die nukleare Kettenreaktion. Nach dem Abschalten des Reaktors muss bei jedem Reaktortyp die Nachzerfallswärme abgeführt werden. Beim Siedewasserreaktor kann das durch Ableiten von Dampf in den Turbinenkondensator oder in einen Kondensationsbehälter geschehen. Auch bei hoher Energieabfuhr über den Dampf benötigt der Siedewasserreaktor eine anhaltende Wassernachspeisung zum Abführen der Nachzerfallswärme. In vielen Siedewasseranlagen steht dazu eine Hochdruckpumpe zur Verfügung, die von einer kleinen Dampfturbine angetrieben wird. Es wird dabei zugleich Energie aus dem Reaktor abgeführt, wie auch Wasser nachgespeist. Die Regelung dieses Aggregats kann aus Batterien erfolgen, so dass für begrenzte Zeit eine Kernkühlung auch ohne Diesel-Notstromgeneratoren möglich ist. Bis Fukushima 1 wurde häufig die Ansicht vertreten, eine bedeutsame positive sicherheitstechnische Eigenschaft ergäbe sich aus der möglichen Kühlung des oberen Teils der Brennelemente durch vorbeiströmenden Dampf. Falls der Füllstand des Reaktorwassers unter die Oberkante des Reaktorkerns falle, sollte die Wärmeableitung bei anhaltender Wasserzufuhr mit dem nach oben abströmenden Dampf demnach immer noch ausreichen, um die Brennstäbe soweit zu kühlen, dass kein unmittelbarer Schaden einträte. Dies setzt allerdings einen funktionsfähigen Kühlwasserkreislauf voraus, der durch äußere und in der Anlage nicht beeinflussbare Ereignisse wie Erdbeben, Überschwemmung, Terroranschläge, Flugzeugabsturz oder andere exogene Störungen (oft mit folgendem Station Blackout) unterbrochen sein kann.
Versagen der inneren Kühlung
Das Versagen der inneren Kühlung des Reaktors führt zu einer Überhitzung und einem Schmelzen der Brennstäbe. Dies stellt den größten anzunehmenden Unfall (GAU), dar, der theoretisch ohne massive Verstrahlung der Umwelt noch beherrscht werden kann und auf den die Sicherheitsvorkehrungen ausgelegt sind (Auslegungsstörfall). Wenn die Kernschmelze nicht aufgehalten werden kann (z.B. durch äußere Kühlung) und vollständig stattfindet, führt dies dazu, dass sich eine ca. 1000° heiße radioaktive Schmelze am Boden des Reaktordruckbehälters ansammelt und dort thermisch und nuklear auf den Stahl des Behälterbodens einwirkt. Wenn die radioaktive Schmelze den Stahl durchdrungen hat, wird die gesamte Radioaktivität des Reaktors in die Umwelt freigesetzt. Dies wird als "Super-GAU" bezeichnet, da es über den "GAU", auf den die Kernkraftwerke sicherheitstechnisch ausgelegt sind, hinaus geht. Wenn die radioaktive Schmelze dabei auf Wasser (z.B. äußeres Kühlwasser) trifft, findet eine Wasserdampfexplosion statt, bei der ehebliche Mengen des Materials atmosphärisch freigesetzt werden. Im anderen Falle wandert die radioaktive Lava nach unten und verseucht das Erdreich und das Grundwasser. Bei Verwendung eines Core-Catchers kann in manchen Fällen ein Super-GAU verhindert werden. Momentan sind jedoch nur wenige Atomkraftwerke mit Core-Catchern ausgeruestet.
Die Kühlung ist die Archillesferse nuklearthermischer Kraftwerke. Der Zerfall der beim Spaltungsprozess erzeugten Nuklide führt zu einer großen Wärmeentwicklung (Nachzerfallswärme), die die Anlage zerstört, wenn sie nicht abgeführt wird. Da diese Wärmeproduktion auch lange nach einer Abschaltung oder Notabschaltung noch anhält, befindet sich die Anlage genau im kritischen Moment der (Not-) Abschaltung in der Situation, dass sie nur bei systemexterner Energiezufuhr (Netzstrom, Dieselaggregate, Batterien) in einem thermischen Gleichgewicht gehalten werden kann. Der "GAU" und der "Super-GAU" sind deshalb die erwartbaren Zustände, die bei (Not-) Abschaltung und gleichzeitigem Versagen der zur Kühlung notwendigen systemexternen Energiezufuhr einzutreten drohen.
Sicherheitsbehälter
Außer dem Druckbehälter wird ein Siedewasserreaktor mit einem oder mehreren ineinander verschachtelten Sicherheitsbehältern (Containment) gebaut. Diese Sicherheitsbehälter haben keine betriebliche Funktion außer dem Abschluss verschiedener Betriebsbereiche gegeneinander und nach außen.
Die inneren Sicherheitsbehälter haben bei den in der Auslegung (siehe GAU) berücksichtigten normalen oder besonderen Betriebszuständen die Sicherheitsfunktion, den Austritt von radioaktivem Dampf oder radioaktivem Gas auf ein möglichst kleines Volumen zu beschränken. Die äußeren Sicherheitsbehälter sollen außerdem eine Fremdeinwirkung von außen auf den Reaktor verhindern.
Die Auslegung der Sicherheitsbehälter erfolgt nach Modellen für die jeweiligen Betriebszustände. Der Sicherheitsbehälter ist für einen bestimmten maximalen Druck von innen und für eine bestimmte maximale Einwirkung von außen (Impulsbelastung) bemessen.
Ältere AKW besitzen lediglich ein Betriebsgebäude, das Wettereinwirkung auf die Anlage vermeidet, haben aber keine Abschlußwirkung gegen Dampfaustrittt, keine Schutzfunktion bei explosionsartig erhöhtem Druck und keine Schutzfunktion, beispielsweise gegen den Aufprall eines Flugkörpers.
In Deutschland verwendete Baulinien
Erste Generation (AEG-GE)
Bei den Siedewasserreaktoren in Deutschland (und teilweise in anderen Ländern) wird zwischen verschiedenen Baulinien unterschieden. Typisches Merkmal für die Typen der ersten Baulinien waren das kuppelförmige Gebäude mit einem Containment unter der Betonhülle. Diese Reaktoren wurden in den 1950er und 1960er Jahren von AEG in Zusammenarbeit mit General Electric entworfen. Deutsche Kraftwerke dieser Baulinie waren Kahl, Gundremmingen A, Lingen. Alle drei Reaktoren sind inzwischen stillgelegt und zurückgebaut worden. In den Nachbarländern Deutschlands sind noch (von General Electric gebaute) Siedewasserreaktoren in Betrieb, z. B. das schweizerische Kernkraftwerk Mühleberg.
Baulinie 69 (KWU)
Bei der zweiten Baulinie handelt es sich um die sogenannte Baulinie 69. Dieser Reaktortyp wurde im Jahre 1969 von der damaligen Kraftwerk Union konzipiert. Ein typisches Merkmal für diese Kraftwerke sind die kastenförmigen Bauten und der separate kugelförmige Sicherheitsbehälter innerhalb des Gebäudes. Die meisten noch in Betrieb befindlichen Siedewasserreaktoren in Deutschland sind Typen der Baulinie 69. Ein direkter Vorläufer des Typs 69 war das stillgelegte und im Rückbau befindliche Kernkraftwerk Würgassen.
Nach einem Bericht des ARD-Politikmagazins "Fakt" vom 14. März 2011 sollen nach einer österreichischen Studie bei der Baulinie 69 Konstruktionsfehler vorliegen. Als Beispiel wird eine Schweißnaht des Druckbehälters genannt, bei der es zu Haarrissen kommen kann, die zu einem Bruch führen könnten. Der Studie zur Folge besteht diese Gefahr auch bei den in Deutschland eingesetzten Kraftwerke der Baureihe 69. Dabei bestehe die Gefahr, so der Bericht, dass die Überprüfung der gefährdeten Schweißnähte schwer bis gar nicht möglich sei. Aus diesem Grund bezeichnet die Studie den Konstruktionsfehler als "nicht zu beheben".
In Betrieb befinden sich noch die Kernkraftwerke
- Brunsbüttel,
- Isar 1,
- Philippsburg 1 sowie
- Krümmel.
Letzteres ist der größte Siedewasserreaktor weltweit.[1]
Baulinie 72 (KWU)
Die bisher letzte in Deutschland verwirklichte Baulinie ist die sogenannte Baulinie 72. Auch hier ist das Jahr der Konzipierung, 1972, aus dem Namen ersichtlich. Die Reaktoren dieser Kraftwerke sind in zylinderförmigen Gebäuden untergebracht. Innerhalb der Stahlbetonhülle befindet sich ein zylinderförmiges Containment. Als weltweit einziges Kernkraftwerk wurde das Kernkraftwerk Gundremmingen B+C mit Reaktoren dieser Baulinie errichtet. Die Baulinie 72 ist eine technische Weiterentwicklung der 69er-Baulinie, mit überarbeitetem Sicherheitskonzept und neuer Gebäudekonzeption und -auslegung.[2]
Weiterentwicklung
Unter dem Namen KERENA (bis März 2009 SWR 1000) wird von Areva NP in Kooperation mit E.ON der Nachfolgetyp der Baureihe 72 entwickelt, ein Siedewasserreaktor mit einer elektrischen Leistung von 1250 MW. AREVA NP und die kanadische Provinz New Brunswick haben im Juli 2010 eine Absichtserklärung unterzeichnet, die den Bau eines KERENA als Option enthält. (Link: Handelszeitung)
Anwendungsbereich
Siedewasserreaktoren sind weniger verbreitet als Druckwasserreaktoren, obwohl beide Reaktortypen einen ähnlichen Wirkungsgrad besitzen. Ihr Vorteil gegenüber Druckwasserreaktoren ist der geringere bautechnische Aufwand (so gibt es zum Beispiel nur einen Wasserkreislauf) sowie eine einfachere Störfallbeherrschung. Ein wesentlicher Nachteil ist die wegen der dort herrschenden Strahlung eingeschränkte Begehbarkeit von Teilbereichen des Maschinenhauses während des Leistungsbetriebs. Die Leistung des Siedewasserreaktors wird zwischen etwa 60 und 100 Prozent durch Verändern der Umlaufgeschwindigkeit des Wassers, und damit des Dampfblasengehalts im Reaktor geregelt. Wegen seiner höheren Regelgeschwindigkeit ist der Siedewasserreaktor für die Erzeugung von Mittellast einsetzbar.
Varianten des Siedewasserreaktors sind der Siedewasserdruckröhrenreaktor dessen bekanntester Typ der RBMK, ein Reaktor sowjetischer Bauart ist.
Standorte in Deutschland:
- Kernkraftwerk Brunsbüttel
- Kernkraftwerk Philippsburg (Block 1)
- Kernkraftwerk Isar (Block 1)
- Kernkraftwerk Krümmel
- Kernkraftwerk Gundremmingen (Blöcke B und C)
- Kernkraftwerk Würgassen (April 1997 endgültig stillgelegt)
Standorte in der Schweiz:
Standort in Österreich:
- Kernkraftwerk Zwentendorf (nach einer negativen Volksabstimmung nicht in Betrieb gegangen)
Siehe auch
Einzelnachweise
- ↑ Broschüre: Das Kernkraftwerk Krümmel geht in Betrieb, Sonderdruck aus "Atomtechnik 29 (1984)", Herausgeber Kraftwerk Union AG
- ↑ Broschüre: Start in 4 Phasen, Sonderdruck aus "Energiewirtschaftliche Tagesfragen 36 (1986)", Herausgeber Kraftwerk Union AG