Gestalttheorie ist ein allgemeinerer Begriff für den Ansatz, der Anfang des letzten Jahrhunderts unter der Bezeichnung Gestaltpsychologie bekannt wurde. Mit dem Begriff Gestalttheorie wird darauf verwiesen, dass es sich zwar um eine psychologische Theorie handelt, dass diese aber für sich in Anspruch nimmt, auch über die Psychologie hinaus für andere Wissenschaftszweige als Metatheorie relevant zu sein.
Die Gestaltpsychologie beschäftigt sich vor allem mit der Entstehung von Ordnung im psychischen Geschehen - in der Wahrnehmung ebenso wie im Denken, Fühlen und Verhalten. Sie hat ihren Ursprung in den Erkenntnissen von Johann Wolfgang von Goethe, Ernst Mach und besonders Christian von Ehrenfels und in den Forschungsarbeiten von Max Wertheimer, Wolfgang Köhler, Kurt Koffka und Kurt Lewin. Diese wandten sich gegen die Elementenauffassung des Psychischen, den Assoziationismus, den Behaviorismus und die ursprüngliche Triebtheorie.
Nach der Vertreibung der wichtigsten Vertreter der Gestalttheorie durch Nazi-Deutschland ins amerikanische Exil hat der gestalttheoretische Ansatz dort eine durchaus bemerkenswerte Verbreitung und Weiterentwicklung erfahren. Bekannt wurden aus ihrem Einflusskreis vor allem Mary Henle, Solomon Asch (Sozialpsychologie), Rudolf Arnheim (Kunstpsychologie), Abraham S. Luchins und Edith H. Luchins. Im amerikanischen Exil verstorben ist Karl Duncker, einer der bedeutendsten Schüler der Gründergeneration, bekannt vor allem für seine Arbeiten zum produktiven Denken und Problemlösen.
Namhafte Vertreter der Gestalttheorie der zweiten Generation waren in Deutschland vor allem Wolfgang Metzger, Kurt Gottschaldt und Edwin Rausch. Auf Hans-Jürgen Walter, einen Schüler von Wolfgang Metzger, geht die Gestalttheoretische Psychotherapie zurück, die auf gestalttheoretischer Grundlage Erkenntnisse verschiedener psychotherapeutischer Schulen integriert. Weiters ist Paul Tholey zu nennen, der vor allem für seine gestalttheoretisch orientierten Arbeiten zum Klartraum, zur Bewusstseinsforschung und zur Sportpsychologie bekannt geworden ist.
Bemerkenswerte Verbreitung und eigenständige Entwicklungen erfuhr die Gestalttheorie auch in Italien. Hier sind vor allem Cesare Musatti, Fabio Metelli und Gaetano Kanizsa zu nennen.
Die Gestalttheorie hat in den letzten Jahren eine bemerkenswerte Renaissance in verschiedensten Wissenschafts-, Forschungs- und Anwendungsfeldern erlebt. Sie wird heute nicht nur in der Wahrnehmungsforschung verstärkt wiederentdeckt, sondern auch in der Gehirnforschung, in der Musikwissenschaft und Sprachwissenschaft, in der Medizin, Psychotherapie und sogar in den Wirtschaftswissenschaften. Zunehmendes Interesse finden in den letzten Jahren im deutsch-, wie im englischsprachigen Raum auch die Beiträge der Gestalttheorie auf dem Gebiet der Psychopathologie: Psychische Störungen waren in ihrer Genese und Dynamik von Anfang an ein wesentliches Arbeitsgebiet gestalttheoretisch orientierter Forscher und Praktiker gewesen - diese Beiträge (siehe dazu auch Heinrich Schulte, Erwin Levy und Abraham S. Luchins) werden nun international wieder verstärkt beachtet.
Weiterführende Angaben
Literatur
- Karl Duncker: Zur Psychologie des produktiven Denkens. Springer: Berlin 1963
- Kurt Lewin: Feldtheorie in den Sozialwissenschaften. Ausgewählte theoretische Schriften. Huber: Bern 1963
- Kurt Koffka: Principles of Gestalt Psychology. Harcourt-Brace: New York 1935 [Drei Kapitel aus diesem Grundlagenwerk sind inzwischen in der Zeitschrift "Gestalt Theory" auch in deutscher Übersetzung erschienen.]
- Wolfgang Köhler: Werte und Tatsachen. Springer: Berlin 1968
- Wolfgang Metzger: Gestalt-Psychologie. Ausgewählte Werke. Hg. von M. Stadler und H. Crabus. Kramer: Frankfurt 1999 (2. Auflage)
- Wolfgang Metzger: Psychologie. Die Entwicklung ihrer Grundannahmen seit der Einführung des Experiments. Krammer: Wien 2002 (6. Auflage)
- Wolfgang Metzger: Schöpferische Freiheit. Kramer: Frankfurt 1962
- Gerhard Stemberger (Hrsg.): Psychische Störungen im Ich-Welt-Verhältnis. Gestalttheorie und psychotherapeutische Krankheitslehre. Krammer: Wien 2002
- Hans-Jürgen Walter: Gestalttheorie und Psychotherapie. Westdeutscher Verlag: Opladen 1994 (3. Auflage)
- Hans-Jürgen Walter: Angewandte Gestalttheorie in Psychotherapie und Psychohygiene. Westdeutscher Verlag: Opladen 1996
- Max Wertheimer: Über Gestalttheorie. Vortrag vor der Kant-Gesellschaft, Berlin am 17.12.1924. Verlag der Philosophischen Akademie: Erlangen 1925
- Max Wertheimer: Produktives Denken. Kramer: Frankfurt 1964 (2. Auflage)
Weblinks
- Gesellschaft für Gestalttheorie und ihre Anwendungen (GTA) (deutsch)
- Society for Gestalt Theory and its Applications (GTA) (englisch, italienisch, französisch) - Die Homepage der GTA ist sicherlich die wichtigste Internet-Resource für Gestalttheorie und Gestaltpsychologie - enthält im "Gestalt Archive" auch zahlreiche Originalarbeiten im Volltext.
- Gestalt Theory - An International Multidisciplinary Journal - Die Homepage dieser auf Deutsch und Englisch publizierenden internationalen multidisziplinären wissenschaftlichen Zeitschrift gibt einen Einblick in die heutige gestalttheoretisch orientierte Forschung und Diskussion.