Die 120 Tage von Sodom oder die Schule der Libertinage (orig. franz. Titel: Les 120 Journées de Sodome ou l'Ecole du Libertinage) ist ein teils nur skizzenhaft ausgeführter Text (Episodenroman) des französischen Schriftstellers Marquis de Sade, den dieser in der Pariser Bastille als Gefangener auf einer schmalen Papierrolle am 22. Oktober 1785 niederzuschreiben begonnen und in 37 Tagen fertig gestellt hat. Der Text schildert ausführlich die sadistischen Sexualpraktiken von vier während der Regentschaft Ludwigs XIV. durch Steuer-Erpresserei zu Reichtum gelangten Franzosen im Laufe eines von obszönen Erzählungen begleiteten mehr als viermonatigen Aufenthalts in einem zugemauerten Schloss an einem geheimen abgelegenen Ort der Schweiz.
Der Text besteht aus einer Einführung, einer Hausordnung und vier Hauptteilen, der erste, der einen Zeitraum von 30 Tagen beschreibt, ist in aller Ausführlichkeit ausgeschrieben, die weiteren Teile existieren nur im Entwurf.
Die Orgien
Sowohl, was Auswahl der teilnehmenden Personen betrifft, als auch hinsichtlich des planvollen des Verlaufs, folgen die Ereignisse einer eigentümlichen Systematik und strengen Choreographie.
Die Personen
Hauptpersonen der Ereignisse sind vier Libertins im mittleren Alter zwischen 45 und 60 Jahren und deren Töchter, die gleichzeitig deren Ehefrauen oder Sexualgespielinnen sind. Insgesamt bedienen sich die Herren eines unterworfenen Personals einschließlich ihrer Ehefrauen bzw. Töchter von 42 Personen.
Die vier Libertins:
- Der Herzog von Blangis ist ein ausgesprochener Feind aller Tugenden, er lebt in allem unmäßig. Er ist verschwenderisch in seinem Vergnügen und geizig wenn es ums Nützliche geht. Geistig und physisch ist er ein pathologisches Monster, ein Sadist und notorischer Meuchelmörder. Er hat den ständigen Drang zum Orgasmus.
- Dessen Bruder, ein Bischof und gleichzeitig ein Atheist von gleichem schurkischen Charakter, jedoch mit mehr Verstand und Raffinesse, ist leidenschaftlicher Päderast und im Besitz einer verfeinerten sinnlichen Empfindungsfähigkeit bei durchschnittlicher Potenz. Er hasst das weibliche Geschlechtsteil.
- Der Präsident Curval, ein pensionierter höherer Richter gibt zu, dass es ihm im Laufe seiner Amtszeit Vergnügen bereitet hat, Unschuldige zu verurteilen. Er hat Potenzprobleme und kommt nur im Exzess zum Orgasmus, dafür führt er fortwährend schmutzige Reden und ist fast ständig betrunken.
- Der Steuerpächter Durcet liebt den passiven Analverkehr und hat einen winzigen Penis. Er heuchelt öffentlich den Ehrenmann.
Die vier Töchter:
- Julie, Constance, Adelaide und Aline
- Der Herzog ist der Vater Julies und der Gatte von Constance, die die Tochter von Durcet ist.
- Durcet ist der Vater von Constance und der Gatte von Adelaide, die die Tochter des Präsidenten ist.
- Der Präsident ist der Vater von Adelaide und der Gatte von Julie, die die Tochter des Herzogs ist.
- Der Bischof ist der offizielle Onkel, in Wirklichkeit der Vater von Aline, die seine Sexualgespielin ist.
Vier ältere lasterhafte Erzählerinnen, die einschlägige Erfahrungen in perversen Sexualpraktiken haben:
- Duclos, Champville, Martaine, Desgranges
Vier Dienerinnen ausgewählt wegen ihrer auserlesenen Hässlichkeit
Acht Beschäler mit außergewöhnlichen Geschlechtsteilen von ausgesuchter Erektionskraft
Acht jugendliche Sexsklavinnen
Acht jugendliche Sexsklaven
Sechs Personen Küchenpersonal, drei Köchinnen und drei Mägde
Der Handlungsverlauf
Die Handlung folgt einem ausgefeilten Konzept, das strikt durchgehalten wird. In ihr ist bis ins Detail festgelegt, wer mit wem zu welchem Zeitpunkt welche Art von Sexualpraktiken durchexerziert. Daneben besteht eine bizarre Hausordnung und eine strenge Hierarchie. Jeden Monat hat ein anderer Libertin das oberste Kommando und die Aufsicht über den regulären Ablauf der Orgien. Die jugendlichen Sexsklaven werden in besonderen Gemächern gefangen gehalten. Die Kapelle dient als Toilette.
Den Libertins werden die Sexualobjekte zugewiesen, denen sie vorstehen. Jeden Samstag gibt es eine besondere Samstagsorgie, die gleichzeitig Abstrafungstermin für Verfehlungen ist.
Der Text wird in vier Handlungsabschnitte zu je 30 Tagen eingeteilt (für die Monate November bis Ende Februar). Deren Inhalt sind in Form von Erzählungen und Sexualhandlungen:
- Die 150 einfachen Passionen
- (Diese Passionen enthalten Erzählungen über Praktiken wie das Masturbieren in das Gesicht eines Kindes, das Trinken von Urin, das Essen von Kot.)
- Die 150 komplexen Passionen
- (Diese Passionen enthalten Erzählungen über Praktiken wie das Vergewaltigen von Kindern, Inzest, Flagellation.)
- Die 150 verbrecherischen Passionen
- (Diese Passionen enthalten Erzählungen über Praktiken wie Analverkehr mit Kleinkindern, Prostituieren der eigenen Töchter, um sie bei perversen Handlungen zu beobachten, Verkehr mit Tieren.)
- Die 150 meuchlerischen Passionen
- (Diese Passionen enthalten Erzählungen über Praktiken wie das Töten von Kindern vor ihren Müttern, das Herumwühlen in den Eingeweiden noch lebender Körper, das Masturbieren während des Folterns einer Vielzahl von Frauen bis zu ihrem Tode.)
- Im Anschluss folgt ein Überblick über die fortgesetzten und abschließenden Handlungen im März.
Zusammenfassende Inhaltsangabe
Im Verlauf der einzelnen Handlungsabschnitte werden, begleitet von den Erzählungen über perverse und bizarre Sexualhandlungen, die Sexualobjekte abwechselnd sexuell ausgebeutet, bestraft, miteinander verheiratet und gefoltert. Die Jungfrauen werden entjungfert und eine Ehefrau wird geschwängert. Systematisch wird eine Vielzahl verschiedener Perversionen beschrieben und ausgeübt, besondere Berücksichtigung finden dabei komplexe sado-masochistische Handlungen und skatologische Praktiken. Gelegentlich werden gotteslästerliche Episoden und oft antimoralische und philosophische Überlegungen über die Niederträchtigkeit des Menschengeschlechts eingeflochten. Homosexuelle und heterosexuelle Handlungen treten in etwa gleich häufig auf.
Mit Beginn der meuchlerischen Passion werden die Ehefrauen bzw. Töchter verstoßen und wie Tiere gehalten. Die Sexualobjekte werden zunehmend verstümmelt und abgeschlachtet. Bis zum 1. März sind die Töchter der Libertins Aline, Adelaide und Constance, vier weibliche jugendliche Sexklavinnen, zwei Lustknaben und ein subalterner Beschäler sadistisch getötet.
Nach dem 1. März werden die Sexualobjekte umgruppiert und jeweils neu den vier Libertins zugeordnet, die Mägde werden in die Orgien mit einbezogen. Am Ende werden die übrigen Jugendlichen, der vierte subalterne Beschäler und die Mägde umgebracht. Es überleben neben den vier Libertins die vier Erzählerinnen, vier Beschäler, die drei Köchinnen und die Tochter des Präsidenten.
Insgesamt werden getötet:
vor dem 1. März......................... 10 |
nach dem 1. März...................... 20 |
zurück kehren............................ 16 |
Personen summa summarum.. 46 |
Interpretation
Diese letzte buchhalterische Abrechnung des Marquis de Sade ist zugleich die Quintessenz des Textes. Sie wurde später von Kritikern als strenger Rationalismus des blanken Irrsinns gebranntmarkt. Obwohl die Form des Textes Bezug auf die Vorbilder "Decamerone" von Giovanni Boccaccio und "Heptameron" von Marguerite de Navarra nimmt - eine geschlossene Gesellschaft findet sich ein, um in einer limitierten Zeit sich gemeinsam Geschichten zu erzählen - so steht das Werk doch in seiner zynischen Machart unnachahmlich einzigartig da, wie es in kalter rationaler Systematik sexuelle Perversionen schildernd, letztendlich zur modellhaften Formulierung einer totalitären Gesellschaft fortschreitet, der das unterworfene Individuum wehrlos und unentrinnbar bis an sein meuchlerisches Ende ausgeliefert ist.
Geschichte des Textes
Die Schrift in Form einer 12 Meter langen Rolle von 11 cm Breite, mit teilweise nur mittels einer Lupe lesbaren winzigen Buchstaben, wurde nach dem Sturm auf die Bastille von Armoux de Saint Maximin gefunden und aufbewahrt. De Sade hielt den Text für verloren. Der Sexualforscher Ivan Bloch, der später Kenntnis von dem Text erlangte, setzte sich für die Drucklegung im Jahre 1904 durch Max Harrwitz ein (Erstveröffentlichung in Deutsch 1909). Eine kritische Ausgabe wurde 1931-35 von Maurice Heine gedruckt. Die Rolle ist wahrscheinlich eine von de Sade abgefasste Kopie des Manuskripts.
Filme/Internet
- Pier Paolo Pasolini verlegt in seiner Adaption des Werks (Die 120 Tage von Sodom (Film)) die Ereignisse in die Zeit des italienischen Faschismus.
- Luis Buñuel gibt in seinem Film L'Âge d'Or (Das Goldene Zeitalter (Buñuel)) beiläufig einem Teilnehmer an der Sexorgie das Aussehen Jesus Christus.
- Aspekte der Handlung werden auch in einer satirischen Replik auf das Werk in einem Internetspiel (Richterspiel) verarbeitet.
Weblinks
- Film: Vorlage:IMDb Titel
- Film: Vorlage:IMDb Titel
- Richterspiel zu Marquis de Sades "Die 120 Tage von Sodom"
Fredmsprachliche Weblinks: