Die Differential- bzw. Differenzialrechnung ist ein wesentlicher Bestandteil der Analysis und eng verwandt mit der Integralrechnung, mit der sie unter der Bezeichnung Infinitesimalrechnung zusammengefasst wird. Zentrales Thema der Differenzialrechnung ist die Berechnung von lokalen Veränderungen von Funktionen.
Hierzu dient die Ableitung, deren geometrische Entsprechung die Tangentensteigung ist. Die Ableitung ist der Proportionalitätsfaktor zwischen verschwindend kleinen (infinitesimalen) Änderungen des Eingabewertes und den daraus resultierenden, ebenfalls infinitesimalen Änderungen des Funktionswertes. Existiert ein solcher Proportionalitätsfaktor, so nennt man die Funktion differenzierbar. Äquivalent wird die Ableitung in einem Punkt als diejenige lineare Abbildung definiert, die unter allen linearen Abbildungen die Änderung der Funktion lokal am besten approximiert. Entsprechend wird die Ableitung auch die Linearisierung der Funktion genannt.
Die Differentialrechnung ist zur Bildung von mathematischen Modellen, die versuchen die Wirklichkeit abzubilden, sowie deren nachfolgender Analyse in vielen Fällen ein unverzichtbares Hilfsmittel. Die Entsprechung der Ableitung im untersuchten Sachverhalt ist häufig die momentane Änderungsrate, in den Wirtschaftswissenschaften spricht man auch häufig von Grenzraten (z.B. Grenzkosten, Grenzproduktivität eines Produktionsfaktors etc.).
Dieser Artikel erklärt außerdem die Begriffe Differenzenquotient, Differenzialquotient, Differentiation, stetig differenzierbar, glatt, partielle Ableitung und totale Ableitung.
Einleitung
Der Grundbegriff der Differentialrechnung ist die Ableitung einer Funktion.
In geometrischer Sprache ist die Ableitung eine verallgemeinerte Steigung. Der geometrische Begriff Steigung ist ursprünglich nur für lineare Funktionen definiert, deren Funktionsgraph eine Gerade ist. Die Ableitung einer beliebigen Funktion definiert man als die Steigung einer Tangente, die man an den Funktionsgraphen anlegt – wobei dieser Graph in der Regel an verschiedenen Stellen verschiedene Tangenten hat.
In arithmetischer Sprache gibt die Ableitung einer Funktion für jedes an, wie sich verändert, wenn sich um einen infinitesimal kleinen Betrag ändert.
In einer klassischen physikalischen Anwendung liefert die Ableitung der Orts- oder Weg-Zeit-Funktion nach der Zeit die Momentangeschwindigkeit eines Teilchens.
Geschichte
Die Aufgabenstellung der Differentialrechnung war als Tangentenproblem seit der Antike bekannt. Der nahe liegende Lösungsansatz war die Approximation der Tangente als Sekante über einem endlichen (endlich heißt hier: größer als Null), aber beliebig kleinen Intervall. Die technische Schwierigkeit bestand darin, mit einer solchen infinitesimal kleinen Intervallbreite zu rechnen. So löste Fermat um 1640 das Tangentenproblem für Polynome. Hierbei schrieb er bereits eine Ableitung hin, jedoch ohne Betrachtung von Grenzwerten und ohne niederzuschreiben, was die mathematischen Rechtfertigungen für sein Vorgehen waren. Zur selben Zeit wählte Descartes einen algebraischen Zugang, indem er an eine Kurve einen Kreis anlegte. Dieser schneidet die Kurve in zwei Punkten, es sei denn der Kreis berührt die Kurve. Dann war es ihm für spezielle Kurven möglich, die Steigung der Tangente zu bestimmen.
Ende des 17. Jahrhunderts gelang es Isaac Newton und Gottfried Wilhelm Leibniz unabhängig voneinander, widerspruchsfrei funktionierende Kalküle zu entwickeln (zur Entdeckungsgeschichte und zum Prioritätsstreit siehe den Artikel Infinitesimalrechnung). Ihre Arbeiten erlaubten das Abstrahieren von rein geometrischer Vorstellung und werden deshalb als Beginn der Analysis betrachtet. Bekannt wurden sie vor allem durch das Buch des Adligen Guillaume François Antoine, Marquis de L'Hospital, der bei Johann Bernoulli Privatunterricht nahm und dessen Forschung zur Analysis so publizierte. Die heute bekannten Ableitungsregeln basieren vor allem auf den Werken von Leonard Euler, der den Funktionsbegriff prägte. Newton und Leibniz arbeiteten mit beliebig kleinen Zahlen, die aber größer als Null sind. Dies wurde bereits von Zeitgenossen als unlogisch kritisiert, beispielsweise von Bischof Berkley in der polemischen Schrift The analyst: or a discourse addressed to an infidel mathematician. Anfang des 19. Jahrhunderts ging Augustin Louis Cauchy davon ab und definierte die Ableitung in der heute üblichen, logisch strengen Weise als Grenzwert von Sekantensteigungen ("Differenzenquotienten"). Die heute benutzte Definition des Grenzwerts wurde schließlich von Karl Weierstraß Ende des 19. Jahrhunderts gegeben.
Definition
Hinführung
Ausgangspunkt für die Definition der Ableitung ist die Näherung der Tangentensteigung durch eine Sekantensteigung. Gesucht sei die Steigung einer Funktion in einem Punkt . Man berechnet zunächst die Steigung der Sekante an über einem endlichen Intervall :
- Sekantensteigung = .
Die Sekantensteigung ist also der Quotient zweier Differenzen; sie wird deshalb auch Differenzenquotient genannt. Mit der Kurznotation für kann man die Sekantensteigung abgekürzt als schreiben.
Differenzenquotienten sind aus dem täglichen Leben wohlbekannt, zum Beispiel als Durchschnittsgeschwindigkeit:
- "Auf der Fahrt von Augsburg nach Flensburg war ich um 9:43 Uhr ( ) am Kreuz Biebelried (Tageskilometerstand = 198 km). Um 11:04 Uhr ( ) war ich am Dreieck Hattenbach (Tageskilometerstand =341 km). In einer Stunde und 21 Minuten ( ) habe ich somit 143 km ( ) zurückgelegt. Meine Durchschnittsgeschwindigkeit auf dieser Teilstrecke betrug somit 143 km/1,35 h = 105,9 km/h ( )."
Um eine Tangentensteigung (im genannten Anwendungsbeispiel also eine Momentangeschwindigkeit) zu berechnen, muss man die beiden Punkte, durch die die Sekante gezogen wird, immer weiter aneinander rücken. Dabei gehen sowohl als auch gegen Null. Der Quotient bleibt aber im Normalfall endlich. Auf diesem Grenzübergang beruht die folgende Definition:
Differenzierbarkeit und Ableitung in einem Punkt: Formale Definition und Notation
Eine Funktion, die ein offenes Intervall U auf die reellen Zahlen abbildet ( ), heißt differenzierbar an der Stelle , falls der Grenzwert
existiert. Dieser Grenzwert heißt Differentialquotient oder Ableitung von nach an der Stelle und wird als
- oder oder notiert.
Die Terme und heißen Differentiale. Sie stellen infinitesimal kleine Zahlenwerte dar (vgl. Einleitung). In manchen Anwendungen (Kettenregel, Integration mancher Differentialgleichungen, Integration durch Substitution) rechnet man mit ihnen fast wie mit "normalen" Variablen. Ein Differential ist auch Teil der üblichen Notation für Integrale.
Die Notation einer Ableitung als Quotient zweier Differentiale wurde von Leibniz eingeführt. Newton benutzte einen Punkt über der abzuleitenden Größe, was in der Physik für Zeitableitungen bis heute üblich geblieben ist. Die Notation mit Apostroph ( ) geht auf Lagrange zurück, der sie 1797 in seinem Buch Théorie des fonctions analytiques einführte.
Im Laufe der Zeit wurde folgende gleichwertige Definition gefunden, die sich im allgemeineren Kontext komplexer oder mehrdimensionaler Funktionen als leistungsfähiger erwiesen hat:
Eine Funktion heißt in einem Punkt differenzierbar, falls eine Konstante existiert, so dass
- .
Der Zuwachs der Funktion , wenn man sich von nur wenig entfernt, lässt sich also durch sehr gut approximieren, man nennt die Ableitung deswegen auch die Linearisierung von .
Bezeichnet man eine Funktion als differenzierbar, ohne sich auf eine bestimmte Stelle zu beziehen, dann bedeutet dies die Differenzierbarkeit an jeder Stelle des Definitionsbereiches, also die Existenz einer eindeutigen Tangente für jeden Punkt des Graphen.
Eine differenzierbare Funktion ist immer stetig. Die Umkehrung gilt jedoch überraschender Weise nicht. Noch Anfang des 19. Jahrhunderts war man überzeugt, dass eine stetige Funktion höchstens an wenigen Stellen nicht differenzierbar sein könne (wie die Betragsfunktion). Bernhard Bolzano konstruierte dann als erster Mathematiker tatsächlich eine Funktion, die überall stetig, aber nirgends differenzierbar ist; Karl Weierstraß veröffentlichte 1861 als erster eine derartige Funktion. Ein bekanntes Beispiel für eine stetige, nicht differenzierbare Funktion ist die von Helge von Koch 1904 vorgestellte Koch-Kurve.
Ableitung als eine Funktion
Die Ableitung der Funktion an der Stelle , bezeichnet mit , beschreibt lokal das Verhalten der Funktion in der Umgebung der betrachteten Stelle . Nun wird im Allgemeinen nicht die einzige Stelle sein, an der differenzierbar ist. Man kann daher versuchen, jeder Zahl aus dem Definitionsbereich von die Ableitung an dieser Stelle (also ) zuzuordnen. Auf diese Weise erhält man eine neue Funktion , deren Definitionsbereich eine Teilmenge des Definitionsbereiches von ist. heißt die Ableitungsfunktion oder kurz die Ableitung von . Beispielsweise hat die Quadratfunktion an einer beliebigen Stelle die Ableitung . Daher ist die zugehörige Ableitungsfunktion gegeben durch .
Die Ableitungsfunktion ist im Normalfall eine andere als die ursprüngliche, einzige Ausnahme ist die Exponentialfunktion und ihre Vielfachen.
Ist die Ableitung stetig, dann heißt stetig differenzierbar. In Anlehnung an die Bezeichnung des Raums der auf der Menge stetigen Funktionen wird der Raum der stetig differenzierbaren Funktionen mit abgekürzt.
Bisher wurde nur von reellen Funktionen gesprochen. Für Differenzierbarkeit von Funktionen mit komplexen Argumenten wird einfach die Definition mit der Linearisierung verwandt. Überraschenderweise ist die Bedingung hier viel einschränkender als im reellen: So ist beispielsweise die Betragsfunktion nirgendwo komplex differenzierbar. Gleichzeitig ist jede in einer Umgebung einmal komplex differenzierbare Funktion automatisch beliebig oft differenzierbar, es existieren also alle höheren Ableitungen.
Berechnung von Ableitungen
Wenn man die Ableitung einer Funktion berechnet, sagt man, man differenziert diese Funktion; diese Tätigkeit heißt Differentiation.
Um die Ableitung elementarer Funktionen (z. B. , ,...) zu berechnen, hält man sich eng an die oben angegebene Definition, berechnet explizit einen Differenzenquotienten und lässt dann gegen Null gehen. Allerdings vollzieht der typische Mathematikanwender diese Berechnung nur ein paar wenige Male in seinem Leben nach. Später kennt er die Ableitungen der wichtigsten elementaren Funktionen auswendig und schlägt Ableitungen nicht ganz so geläufiger Funktionen in einem Tabellenwerk (z. B. im Bronstein-Semendjajew oder unserer Tabelle von Ableitungs- und Stammfunktionen) nach.
Beispiel für die elementare Berechnung einer Ableitungsfunktion
Gesucht sei die Ableitung von . Dann berechnet man den Differenzenquotienten als
und erhält im Limes die Ableitung
Beispiel für eine nicht überall differenzierbare Funktion
ist an der Stelle 0 nicht differenzierbar:
Für gilt und damit
- .
Für gilt dagegen und folglich
- .
Da der linksseitige und der rechtsseitige Grenzwert nicht übereinstimmen, existiert kein beidseitiger Grenzwert. ist somit an der betrachteten Stelle nicht differenzierbar (an allen anderen Stellen aber sehr wohl!).
Betrachtet man den Graphen von , so kommt man zu der Erkenntnis, dass der Begriff der Differenzierbarkeit anschaulich bedeutet, dass der zugehörige Graph keine "Knicke" enthält.
Ein typisches Beispiel für nirgends differenzierbare stetige Funktionen, deren Existenz zunächst schwer vorstellbar erscheint, sind fast alle Pfade der Brownschen Bewegung. Diese wird zum Beispiel zur Modellierung der Charts von Aktienkursen benutzt.
Beispiel für eine nicht überall stetig differenzierbare Funktion
Beachte: Selbst wenn überall differenzierbar ist, muss die Ableitung nicht stetig sein. Zum Beispiel ist die Funktion
in jedem Punkt differenzierbar, aber die Ableitung
ist im Punkt 0 nicht stetig.
Ableitungsregeln
Ableitungen zusammengesetzter Funktionen (z. B. , , ...) führt man mit Hilfe von Ableitungsregeln (siehe unten) auf die Differentiation elementarer Funktionen zurück.
Mit den folgenden Regeln kann man die Ableitung zusammengesetzter Funktionen auf Ableitungen einfacherer Funktionen zurückführen. Seien , und (im Definitionsbereich) differenzierbare, reelle Funktionen, und reelle Zahlen, dann gilt:
konstante Funktion: | |
Potenzregel: | |
Summenregel: | |
Differenzregel: | |
Faktorregel: | |
Produktregel: | |
Quotientenregel: | |
Kettenregel: | |
Umkehrregel: | Ist eine an der Stelle differenzierbare, bijektive Funktion mit , und ihre Umkehrfunktion bei differenzierbar, dann gilt:
(Spiegelt man einen Punkt des Graphen von an der 1. Mediane und erhält damit auf , so ist die Steigung von in der Kehrwert der Steigung von in ) |
Logarithmische Ableitung: | Aus der Kettenregel folgt für die Ableitung des natürlichen Logarithmus einer Funktion :
Ein Bruch der Form wird logarithmische Ableitung genannt. |
Ableitung der Potenzfunktion: | Um abzuleiten, erinnert man sich, dass Potenzen mit reellen Exponenten auf dem Umweg über die Exponentialfunktion definiert sind: . Anwendung der Kettenregel und – für die innere Ableitung – der Produktregel ergibt
|
Leibnizsche Regel | Die Ableitung -ter Ordnung für ein Produkt aus zwei Funktionen ergibt sich aus |
Der Fundamentalsatz der Analysis
Die wesentliche Leistung von Leibniz war die Erkenntnis, dass Integration und Differentiation zusammenhängen. Diese formulierte er im Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung, auch Fundamentalsatz der Analysis genannt. Er besagt:
Ist ein Intervall, eine stetige Funktion und ein beliebiger Punkt, so ist die Funktion
stetig differenzierbar, und ihre Ableitung ist .
Hiermit ist also eine Anleitung zum Integrieren gegeben: Wir suchen eine Funktion, deren Ableitung der Integrand ist. Dann gilt:
- .
Ein weiterer zentraler Satz der Differentialrechnung ist der Mittelwertsatz, der von Cauchy bewiesen wurde.
Es sei eine Funktion, die auf dem abgeschlossenen Intervall (mit ) definiert und stetig ist. Außerdem sei die Funktion im offenen Intervall differenzierbar. Unter diesen Voraussetzungen gibt es mindestens ein , sodass gilt.
Mehrfache Ableitungen
Ist die Ableitung einer Funktion wiederum differenzierbar, so lässt sich die zweite Ableitung von als Ableitung der ersten definieren. Auf dieselbe Weise können dann auch dritte, vierte, etc. Ableitungen definiert werden. Eine Funktion kann dementsprechend einfach differenzierbar, zweifach differenzierbar, etc. sein.
Die zweite Ableitung kann geometrisch als die Krümmung eines Graphen interpretiert werden. Sie hat zahlreiche physikalische Anwendungen. Zum Beispiel ist die erste Ableitung des Orts nach der Zeit die Momentangeschwindigkeit, die zweite Ableitung die Beschleunigung.
Wenn Politiker sich erfreut über den "Rückgang des Anstiegs der Arbeitslosenzahl" äußern, dann sprechen sie von der zweiten Ableitung (Änderung des Anstiegs), um die unangenehme Aussage der ersten Ableitung (Anstieg der Arbeitslosenzahl) zu relativieren.
Mehrfache Ableitungen können auf drei verschiedene Weisen geschrieben werden:
- ,
- , ...
Naheliegenderweise wird die Multi-Apostroph-Schreibweise bei niedrigen, die eine oder andere Zahlen-Schreibweise bei hohen Ableitungen bevorzugt. Für die formale Bezeichnung beliebiger Ableitungen legt man außerdem fest, dass und .
Taylor-Reihen und Glattheit
Ist eine im Intervall ( )-mal stetig differenzierbare Funktion, dann gilt für alle und aus die Darstellung der so genannten Taylor-Formel:
mit dem so genannten -ten Taylorpolynom an der Entwicklungsstelle
und dem so genannten ( )-ten Restglied
- .
Eine beliebig oft differenzierbare Funktion wird glatte Funktion genannt. Da sie alle Ableitungen besitzt, kann die oben angegebene Taylor-Formel erweitert werden auf die Taylor-Reihe von mit Entwicklungspunkt :
- .
Es stellt sich allerdings heraus, dass die Existenz aller Ableitungen nicht ergibt, dass sich durch die Taylor-Reihe darstellen lässt. Anders ausgedrückt: Jede analytische Funktion ist glatt, aber nicht umgekehrt, wie das im Artikel Taylorreihe gegebene Beispiel einer nicht analytischen glatten Funktion zeigt.
Häufig findet man in mathematischen Betrachtungen den Begriff hinreichend glatt. Hiermit ist gemeint, dass die Funktion so oft differenzierbar ist, wie nötig um den aktuellen Gedankengang durchzuführen.
Anwendung: Berechnung von Minima und Maxima
Eine der wichtigsten Anwendungen der Differentialrechnung ist die Bestimmung von Extremwerten, meist zur Optimierung von Prozessen. Diese befinden sich im Spezialfall monotoner Funktionen am Rand des Definitionsbereichs, im Allgemeinen jedoch an den Stellen, wo die Ableitung Null ist. In diesem Abschnitt nehmen wir das Polynom
als Beispiel. Die Abbildung zeigt den Verlauf von , und .
Datei:Einekurvendiskussionmod.png
Waagerechte Tangenten
Besitzt eine Funktion in einem inneren Punkt des zusammenhängenden Intervalls ihren größten oder kleinsten Wert, also für alle dieses Intervalls gilt oder und existiert darüber hinaus die Ableitung im Punkt , so kann die Ableitung dort nur gleich Null sein .
Geometrische Deutung dieses Satzes von Fermat ist, dass die Funktion eine parallel zur -Achse verlaufende Tangente, auch waagerechte Tangente genannt, besitzt. Folglich ist die Steigung Null an der Stelle .
Lediglich die notwendige Bedingung für die Existenz eines Maximal- oder Minimalwertes einer Funktion in einem Intervall ist durch den Satz von Fermat gegeben. Deswegen kann es sich um einen Hochpunkt (lokales Maximum), einen Tiefpunkt (lokales Minimum) oder einen Sattelpunkt handeln.
Wesentlich ist die Bedingung, der Differenzierbarkeit der Funktion im Punkt für den Satz von Fermat. Eine Funktion kann einen Maximal- oder Minimalwert haben, ohne dass die Ableitung an dieser Stelle existiert.
Im Beispiel ist
wird 0 bei und .
Die zweite Ableitung beschreibt die Steigung von , also die Änderung der Steigung von . Ist , so ändert sich von negativen zu positiven Werten, also liegt ein lokales Minimum von vor. Im Falle ändert sich die Steigung vom positiven zu negativen Werten, das bedeutet ein lokales Maximum von . Im Beispiel ist und .
Mit Hilfe der Ableitungen lassen sich noch weitere Eigenschaften der Funktion analysieren, wie Wendepunkte, Sattelpunkte, Konvexität oder die oben schon angesprochene Monotonie. Die Durchführung dieser Untersuchungen wird im Artikel Kurvendiskussion beschrieben.
Ein Beispiel für angewandte Differentialrechnung
In der Mikroökonomie werden beispielsweise verschiedene Arten von Produktionsfunktionen analysiert, um daraus Erkenntnisse für makroökonomische Zusammenhänge zu gewinnen. Hier ist vor allem das typische Verhalten einer Produktionsfunktion von Interesse: Wie reagiert die abhängige Variable Output (produzierte Menge eines Gutes), wenn der Input (Produktionsfaktor, z.B. Arbeit oder Kapital) um eine (infinitesimal) kleine Einheit erhöht wird?
Ein Grundtyp einer Produktionsfunktion ist etwa die neoklassische Produktionsfunktion. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass der Output bei jedem zusätzlichen Input steigt, dass aber die Zuwächse abnehmend sind. Es sei beispielsweise für einen Betrieb die Produktionsfunktion
maßgebend. Die erste Ableitung dieser Funktion ergibt unter Anwendung der Kettenregel
- .
Da der Wurzelausdruck der ersten Ableitung nur positiv werden kann, sieht man, dass der Ertrag bei jedem zusätzlichen Input steigt. Die zweite Ableitung ergibt
- .
Sie wird für alle Inputs negativ, also fallen die Zuwächse. Man könnte also sagen, das bei steigendem Input der Output unterproportional steigt.
Ableitungen von mehrdimensionalen Funktionen
Alle vorigen Ausführungen legten eine Funktion in einer Variablen (also mit einer reellen oder komplexen Zahl als Argument) zu Grunde. Funktionen, die Vektoren auf Vektoren oder Vektoren auf Zahlen abbilden, können ebenfalls eine Ableitung haben. Allerdings ist eine Tangente an die Funktion in diesen Fällen nicht mehr eindeutig bestimmt, da es viele verschiedene Richtungen gibt. Hier ist also eine Erweiterung des bisherigen Ableitungsbegriffs notwendig.
Partielle Ableitungen
Wir betrachten zunächst eine Funktion, die von geht. Ein Beispiel ist die Temperaturfunktion: Wir messen in Abhängigkeit vom Ort die Temperatur in unserem Zimmer, um zu beurteilen, wie effektiv die Heizung ist. Bewegen wir das Thermometer in eine bestimmte Richtung, bemerken wir eine Veränderung der Temperatur. Diese ist die so genannte Richtungsableitung. Die Richtungsableitungen in spezielle Richtungen, nämlich die der Koordinatenachsen, nennt man auch die partiellen Ableitungen.
Insgesamt lassen sich für eine Funktion in Variablen insgesamt partielle Ableitungen errechnen:
Die einzelnen partiellen Ableitungen einer Funktion lassen sich auch gebündelt als Gradient oder Nablavektor anschreiben. Partielle Ableitungen können wieder differenzierbar sein und lassen sich dann in der so genannten Hesse-Matrix anordnen. Analog zum eindimensionalen Fall sind die Kandidaten für Extremstellen da, wo die Ableitung Null ist, also der Gradient verschwindet. Ebenfalls analog benutzt man die zweite Ableitung, also die Hesse-Matrix, zur Bestimmung des exakt vorliegenden Falles. Im Gegensatz zum eindimensionalen ist allerdings die Formenvielfalt in diesem Falle größer. Mittels einer Hauptachsentransformation der durch eine mehrdimensionale Taylor-Entwicklung im betrachteten Punkt gegebenen quadratischen Form lassen sich die verschiedenen Fälle klassifizieren.
Ist eine Funktion durch eine implizite Gleichung gegeben, so folgt aus der verallgemeinerten Kettenregel, die für Funktionen mehrerer Variablen gilt:
.
Für die Ableitung der Funktion ergibt sich daher:
- mit .
Totale Differenzierbarkeit
Eine Funktion , wobei eine offene Menge ist, heißt in einem Punkt total differenzierbar (manchmal auch nur differenzierbar), falls eine lineare Abbildung existiert, sodass
- gilt.
Für den eindimensionalen Fall stimmt diese Definition mit der oben angegebenen überein. Die lineare Abbildung ist bei Existenz eindeutig bestimmt, hängt also insbesondere nicht von der verwendeten Norm ab. Die Tangente wird also durch die lokale Linearisierung der Funktion abstrahiert. Die Matrixdarstellung der ersten Ableitung von nennt man Jacobi-Matrix. Es handelt sich um eine -Matrix, im Fall erhalten wir den oben beschriebenen Gradienten.
Zwischen den partiellen Ableitungen und der totalen Ableitung besteht folgender Zusammenhang: Existiert in einem Punkt die totale Ableitung, so existieren dort auch alle partiellen Ableitungen. In diesem Fall stimmen die partiellen Ableitungen mit den Koeffizienten der Jacobi-Matrix überein. Umgekehrt folgt aus der Existenz der partiellen Ableitungen in einem Punkt nicht zwingend die totale Differenzierbarkeit, ja nicht einmal die Stetigkeit. Sind die partiellen Ableitungen jedoch zusätzlich in einer Umgebung von stetig, dann ist die Funktion in auch total differenzierbar.
Wichtige Sätze
- Satz von Schwarz: Die Differentiationsreihenfolge ist bei der Berechnung von partiellen Ableitungen höherer Ordnung unerheblich, wenn alle partiellen Ableitungen bis zu dieser Ordnung (einschließlich) stetig sind.
- Satz von der impliziten Funktion: Funktionsgleichungen sind lösbar, falls die Jacobi-Matrix bezüglich bestimmter Variablen invertierbar ist.
Verallgemeinerungen
- In vielen Anwendungen ist es wünschenswert, Ableitungen auch für stetige oder sogar unstetige Funktionen bilden zu können. So kann beispielsweise eine sich am Strand brechende Welle durch eine partielle Differentialgleichung modelliert werden, die Funktion der Höhe der Welle ist aber noch nicht einmal stetig. Zu diesem Zweck verallgemeinerte man Mitte des 20. Jahrhunderts den Ableitungsbegriff auf den Raum der Distributionen und definierte dort eine schwache Ableitung. Eng verbunden damit ist der Begriff des Sobolew-Raums.
- In der Differentialgeometrie werden gekrümmte Flächen untersucht. Hierzu wird der Begriff der Differentialform benötigt.
- Der Begriff der Ableitung als Linearisierung lässt sich analog auf Funktionen , offen mit Banachräume, übertragen. heißt in differenzierbar, wenn ein stetiger linearer Operator existiert, so dass
Differentialgleichungen
Die wichtigste Anwendung der Differentialrechnung neben dem Bestimmen von Maxima und Minima ist in der mathematischen Modellierung physikalischer Vorgänge. Wachstum, Bewegung oder Kräfte haben alle mit Ableitungen zu tun, ihre formelhafte Beschreibung muss also Differentiale enthalten. Typischerweise führt dies auf Gleichungen, in denen Ableitungen einer unbekannten Funktion auftauchen, eben genau Differentialgleichungen.
Beispielsweise verknüpft das Newtonsche Bewegungsgesetz
die Beschleunigung eines Körpers mit seiner Masse und der auf ihn einwirkenden Kraft . Das Grundproblem der Mechanik lautet deshalb, aus einer gegebenen Beschleunigung auf die Ortsfunktion eines Körpers zurückzuschließen. Diese Aufgabe, eine Umkehrung der zweifachen Differentiation, hat die mathematische Gestalt einer Differentialgleichung zweiter Ordnung. Die mathematische Schwierigkeit dieses Problems rührt daher, dass Ort, Geschwindigkeit und Beschleunigung Vektoren sind, die im allgemeinen nicht in die gleiche Richtung zeigen, und dass die Kraft – je nach Anwendungsfall – von der Zeit oder/und vom Ort abhängen kann.
Da viele Anwendungen mehrdimensional sind, sind dort partielle Ableitungen sehr wichtig, mit denen sich partielle Differentialgleichungen formulieren lassen. Mathematisch kompakt werden diese mittels Differentialoperatoren beschrieben und analysiert.
Literatur
- Schulbücher:
- Differentialrechnung ist ein zentraler Unterrichtsgegenstand in der Sekundarstufe II und wird somit in allen Mathematik-Lehrbüchern behandelt.
- Lehrbücher für Studenten der Mathematik und benachbarter Fächer (Physik, Informatik):
- Richard Courant: Vorlesungen über Differential- und Integralrechnung 1, 2. Springer, 1. Aufl. 1928, 4. Aufl. 1971
- Otto Forster: Analysis 1, 2. Vieweg Verlag, 4. Auflage, 1983
- Konrad Königsberger: Analysis 1, 2. Springer Verlag, 3. Auflage, 1995
- Steffen Timmann: Repetitorium der Analysis 1, 2. Binomi Verlag, 1. Auflage, 1993,
- Lehrbücher für Studenten mit Nebenfach/Grundlagenfach Mathematik (z.B. Studenten der Ingenieur- oder Wirtschaftswissenschaften):
- Rainer Ansorge und Hans Joachim Oberle: Mathematik für Ingenieure. Wiley-VCH, Band 1, 3. Auflage, 2000
- Lothar Papula: Mathematik für Naturwissenschaftler und Ingenieure Band 1