Es waren zwei Königskinder
Es waren zwei Königskinder ist eine Volksballade, die den griechischen, antiken Erzählstoff von der „Schwimmersage“ bearbeitet (Hellespont, Dardanellensage). Mit dem Römer Ovid und dem spätgriechischen Dichter Musaios wurde sie als Dichtung von „Hero und Leander“ überliefert und danach international verbreitet.
Textanfang einer Variante
1. Es waren zwei Königskinder,
die hatten einander so lieb,
sie konnten beisammen nicht kommen,
das Wasser war viel zu tief.
2. „Ach Schätzchen, könntest du schwimmen,
so schwimm doch herüber zu mir!
Drei Kerzen will ich anzünden,
und die soll’n leuchten zu dir.“
3. Das hört ein falsches Nönnchen [nicht: eine falsche Norne],
die tat, als wenn sie schlief;
sie tät die Kerzlein auslöschen,
der Jüngling ertrank so tief.
[...]
17 Strophen, aufgezeichnet in Zürich, Schweiz, 1912
Handlung der Volksballade
In runden Klammern stehen Handlungselemente verschiedener Varianten (vergleiche Variabilität (Volksdichtung)), erklärende Zusätze in eckigen Klammern. - Zwischen zwei Burgen ist ein tiefer See (die See = Meer; Fluss). Die Jungfrau schreibt einen Brief, der Jüngling schreibt ebenfalls [Hero und Leander nach Ovid]. Er will zu ihr hinüberschwimmen; sie stellt ein Licht auf, um ihm im Wasser die Richtung zu zeigen. Ein böses Weib, ein falsches Nönnchen, wie es im Text heißt, löscht die Kerze; der edle Ritter ertrinkt. Daraus kann man nicht willkürlich eine falsche Norne machen, in der Nordischen Mythologie eine schicksalsbestimmende Frau, obwohl diese Idee dahinter stehen mag. Aber alle Volksballadentexte dieses Liedtyps sprechen ausdrücklich von einer Nonne.
Der folgende Dialog, eingebunden darin die früh überlieferte „Elsleinstrophe“, mit den wechselnden Strophen direkter Rede, „Ach Elslein...“ und „Ach Mutter...“, gehört zum Kern der Handlung. Mit den verschiedenen Ausreden, dass ihr „der Kopf weh tue“ (sie hat Bauchschmerzen [bedingt durch die gleiche, prägende Funktion des Dialogs vermischt sich der Text hier mit einer anderen Volksballade von der „Schönen Jüdin“], gelingt es dem Mädchen, das Haus zu verlassen. Sie macht einen „Abendgang“ [in anderen Volksballaden ist das ein „gefährlicher“ Spaziergang, der „Abend“ ist dafür eine typische Zeit] und findet den toten Ritter. Verzweifelt ertränkt sie sich selbst.
Überlieferung
Die Volksballade von den „Königskindern“ ist ein klassisches Beispiel für ein altüberliefertes Lied; die Tradierung reicht kontinuierlich vom 15. bis ins 20. Jahrhundert. Eine der jüngsten Aufzeichnungen thematisiert in parodierter Form den Protest gegen ein Kernkraftwerk am Kaiserstuhl, 1975. Zugleich ist es einer der populärsten Texte, welches sich in der großen Anzahl von Varianten spiegelt. In zahlreichen Anthologien der Gattung „Ballade“ steht der Text als Modell-Beispiel.
Ovid als Erzählstoff wird in Mittelalter und Renaissance immer wieder aufgegriffen. Der älteste Hinweis auf diese Volksballade ist eine kurze Textmarke [mehr nicht] „Elzeleyn, lipstis elzeleyn...“ zu einer Melodie im „Glogauer Liederbuch“, um 1480. Diese Melodie zieht sich weiter durch die gedruckte Überlieferung bei etwa Hans Gerle (1532), Newsidler (1536) und Schmeltzel (1544), und sie ist eine der Melodietypen zu den „Königskindern“ mit dem Textanfang „Elslein, liebstes Elslein, wie gern wär ich bei dir...“ Sie ist ebenfalls Quelle für viele Tonangaben (Melodieverwendung für andere Texte) vom 15. bis in das 20. Jahrhundert.
Mit dem Anfang „Es warb ein schöner jüngling, vber ein braiten see...“ steht das Lied bei Forster (1540). Achim von Arnim benützt diesen Textanfang und dichtet 1806 für „Des Knaben Wunderhorn“ selbst weiter mit einer „mystifizierenden Herkunftsangabe“ (Heinz Rölleke), wie sie für diese Textedition der Romantiker typisch ist.
Neben verschiedenen Tradierungssträngen wie auf gedruckten Liedflugschriften (vergleiche Flugblatt) und in Gebrauchsliederbüchern (etwa: Liederbuch für deutsche Künstler, 1833; Reisert, studentisches Kommersbuch, 1896; Lahrer Commersbuch, 1953 und öfter; sehr häufig in Liederbüchern des Wandervogels und der Bündischen Jugend) gibt es eine große Anzahl von Aufzeichnungen aus mündlicher Überlieferung (auch relativ frühe, etwa aus Schleswig-Holstein 1814). Zumeist können sie zwei Großgruppen mit dem Liedanfang „Ach Mutter...“ (Dialog-Teil) und dem geläufigen „Es waren zwei Königskinder...“ zugeordnet werden.
Neben dem hochdeutschen Text gibt es eine niederdeutsch-niederländische Form „Et wasen twei Kunigeskinner...“ (zum Beispiel bei Reifferscheid, Westfalen 1879, als Nr. 1 in seiner Sammlung; niederländischer Liedtyp: van Duyse Nr. 43; so auch in Breuers „Zupfgeigenhansl“, 1913/1930 und öfter).
Internationale Parallelen
Eine dänische Überlieferung kennen wir handschriftlich um 1650 und auf Liedflugschriften 1689; schwedisch ebenfalls handschriftlich 1572/73 und in jüngerer Zeit vielfach nach Aufzeichnungen aus mündlicher Überlieferung abgedruckt (zum Beispiel von Otto Andersson aus dem schwedischsprachigen Teil von Finnland, 1934). Es gibt Belege in den baltische Sprachen (Estland, Lettland), auf Sorbisch, Polnisch und Slowenisch. – Neben dem Französischen (Liedtyp: Donciex Nr. 22) ist das Lied in weiteren romanischen Sprachen überliefert.
Mit der weiten Verbreitung des Liedstoffes ändern sich Details des Inhalts. Der Text wird seiner neuen Umgebung angepasst. Auffallend ist etwa der Milieuwechsel beim Überschreiten ethnischer Grenzen. Die deutschen Versionen spielen in einem höfischen Milieu, während die in den slawischen Sprachbereich von Mähren und Schlesien übernommenen Fassungen fast ausschließlich eine Kulisse von Dorf und Flussufer haben.
Hinweise zur Interpretation
In der antiken Fassung will Leander über den Hellespont schwimmen, um die Priesterin Hero aufzusuchen. In einer Sturmnacht erlischt die Lampe, Leander ertrinkt. Beim Anblick des toten Geliebten stürzt sich Hero vom Turm. Auch wenn ein großes Schicksal behandelt wird, ist das Ergebnis in der Volksballade ein enggeführtes, „familiarisiertes“ Geschehen im Dialog zwischen verständnisloser Mutter und verliebter Tochter. Die Sängerinnen und Sänger auch um 1912 [siehe obigen Textanfang] konnten sich in dieser Kleinräumigkeit alltäglicher Probleme wiedererkennen. Spannung wird nicht erläuternd aufgebaut, sondern in der abrupten Szenenfolge steuert das Geschehen auf die Katastrophe zu: Tod des Ritters, Selbstmord der Königstochter. Eine andere Möglichkeit scheint nicht vorstellbar zu sein. Von Ideologie und Mentalität her fordert der Liedtext angepasste Passivität, er ruft zum Leiden und Erdulden auf.
Ein „böses Schicksal“ trennt die Liebenden; die Rolle der scheinbaren Widersacherin „falsche Nonne“ ist relativ schwach ausgeprägt. Sie ist keine selbständig handelnde Person, sondern Werkzeug; sie ist keinesfalls eine Verkörperung des Bösen, sondern hat die Erzählfunktion einer Schädigerin (wie im Märchen). 1912 möchte man zum „Schätzchen“; drei Kerzen sollen helfen, aber ein „falsches Nönnchen“ verhindert es. Schon die Verkleinerungsform relativiert diese Rolle, doch die Folgen jener allzu aufmerksamen Nachbarin sind tragisch. Während andere sich über den (arbeitsfreien) Sonntagmorgen freuen, hat die Königstochter verweinte Augen. Sie diskutiert mit ihrer Mutter, findet aber keinen Vorwand zum Weggehen. Erst als die Mutter zur Kirche geht, sieht sie ihre Chance. Den Fischer bezahlt sie mit ihrer Krone und mit dem Ring dafür, dass er den Ertrunkenen birgt. Beides, Krone und Ring, weltliche Ehre und Eheversprechen, braucht sie nun nicht mehr. Sie begeht Selbstmord, und der Abschied von Vater und Mutter enthält damit auch den Vorwurf an diese (nicht an die nebensächliche Nonne). Das ist die Zielrichtung ihrer Klage: So sollen Eltern ihre Kinder nicht behandeln. Liebende soll man nicht behindern.
Ideologischer Kernpunkt ist der Generationen-Konflikt. Die Schwierigkeiten, die dabei auftauchen, werden nicht individuell gelöst, sondern in stereotypen, unpersönlich starr wiederholten Dialogteilen gleichsam allgemeingültig gemacht und eingefroren. Direkte Rede ist die gängige Erzählform der Volksballade, hier aber auch ein Spiegelbild für das Aneinander-Vorbeireden im Generationen-Konflikt zwischen besorgten Eltern und unangepassten Kindern. Mit dem Liedinhalt wird bürgerliche Anpassung eingeübt und milieukonforme Sozialisation betrieben. Sänger und Sängerin „lernen“ soziale Verhaltensmuster, die eine traditionsgebundene Gesellschaft schätzt. Das vermischt sich - widersprüchlich vielleicht - mit Kritik an solchem Denken. Die Ballade diskutiert den Konflikt zwischen den Generationen. Eine Lösung bietet sie allerdings nicht.
Hinweise zur literarischen Wirkung
Eine Nachdichtung steht bei F. M. Böhme, Volksthümliche Lieder (1895), Nr. 362, aus Goethes „Sesenheimer Liederbuch“ von 1771; Goethe war im Elsass durch Herder auf diese Volksdichtung aufmerksam gemacht worden. Neben „Graf und Nonne“ und anderen Volksballaden haben diese die Hochliteratur erheblich beeinflusst (vergleiche zur Kunstballade). Friedrich Schiller schreibt eine Kunstballade „Hero und Leander“, aber ohne Bezug zu den „Königskindern“.
Die Romanze von Ludwig Hölty, „Hero und Leander“, handschriftlich 1769/70, fußt ebenso direkt auf das griechische Epos des Musaios (das Hölty in Teilen übersetzte); der Abstand zur Königskinder-Volksballade ist gewaltig. Zitiert wird das Lied jedoch von Heinrich Heine, in: Reise von München nach Genua, 1829, im Kapitel XII: „Es ist eine veraltete Geschichte, die auch jetzt niemand mehr glaubt...“
Engelbert Humperdincks lange vergessene Märchenoper „Königskinder“ (New York 1910) wird 2007 am Opernhaus in Zürich neu aufgeführt und gewinnt durch die neue Interpretation als eine Erfahrung von Fremdenfeindlichkeit (beide Titelfiguren werden von der Gesellschaft abgelehnt, weil man an ihre Identität nicht glaubt) überraschende Aktualität.
Literatur (Auswahl)
- Artikel „Hero und Leander“. In: Enzyklopädie des Märchens, Band 6 (1990), Sp. 845-851.
- Otto Holzapfel: Das große deutsche Volksballadenbuch, Artemis & Winkler, Düsseldorf 2000, S. 206-213 (mehrere Varianten; mit Kommentar).
- Otto Holzapfel: Lied-Verzeichnis, Band 1-2, Olms, Hildesheim 2006 (Eintrag zu „Es waren zwei Königskinder...“ mit weiteren Hinweisen und jeweils aktualisierte CD-ROM im Volksmusikarchiv des Bezirks Oberbayern; ISBN 3-487-13100-5).