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Wutbürger

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Wutbürger ist ein Schlagwort des deutschen Feuilletons, das Personen des bürgerlichen Milieus bezeichnen soll, die gegen als staatliche Willkür empfundene Entscheidungen mit zivilem Ungehorsam und Demonstrationen protestieren. Der vorher kaum verwendete Begriff wurde durch den Essay Der Wutbürger des Journalisten Dirk Kurbjuweit in der Ausgabe 41/2010 des Magazins Der Spiegel geprägt und popularisiert.[1]

Wutbürger wurde 2010 in Deutschland „Wort des Jahres“, gefolgt von Begriffen wie Stuttgart 21, Sarrazin-Gen, Cyberkrieg, WikiLeaks oder schottern, die sich teilweise in thematischer Nähe zum Wutbürger befinden.

Begriff

In seinem „Spiegel“-Artikel vom 11. Oktober 2010 definiert Dirk Kurbjuweit den „Wutbürger“ unter Bezugnahme auf die zu diesem Zeitpunkt aktuellen Debatten um Thilo Sarrazin und das Stuttgarter Bahnhofsprojekt Stuttgart 21 als wohlhabenden konservativen Menschen, der „nicht mehr jung“, früher gelassen und „staatstragend“, jetzt aber „zutiefst empört über die Politiker“ sei. Er breche „mit der bürgerlichen Tradition, dass zur politischen Mitte auch eine innere Mitte gehört“ wie etwa Gelassenheit oder Contenance. Weiter sieht er in beiden Debatten trotz thematischer Unterschiede „Parallelen“, da es jeweils „um Zukunftsvergessenheit“ gehe. Beide Proteste seien „Ausdruck einer skeptischen Mitte, die bewahren will, was sie hat und kennt, zu Lasten einer guten Zukunft des Landes“, da die „nächste Moderne“ von „chinesischen Dimensionen“ bestimmt werden würde.

Kurbjuweit nahm Bezug auf einen Artikel der Süddeutschen Zeitung zu einer Lesung Sarrazins, in der es im Umgang zu Kritikern seiner Thesen hieß: „Das gediegene Münchner Bürgertum hat sich schrecklich danebenbenommen“ - „Da wurde gezischt, gebuht und lautstark dazwischengerufen.“ - „In der Münchner Reithalle herrschte ein Hauch von Sportpalast. Gutgekleidete Grauköpfe ereiferten sich nicht nur, sie geiferten.“ und verglich dieses mit den Protesten gegen Stuttgart 21, die ebenfalls von Bürgerlichen getragen würden, „darunter CDU-Wähler und Rentner.“ Auch sie triebe „die nackte Wut, auch sie brüllen und hassen.“[1]

Der Ausdruck Wutbürger lässt sich in einigen Medien bereits seit 2007 als Bezeichnung für Mitglieder der rechtspopulistischen Wählervereinigung Bürger in Wut nachweisen.[2][3][4]

Rezeption

Resonanz fand die Neuprägung des Begriffs unter anderem in einem Artikel von Hannes Nussbaumer, der am 15. Oktober 2010 in der Schweizer Zeitung Tages-Anzeiger veröffentlicht wurde. Nussbaumer schreibt darin ausdrücklich, dass der Begriff „Wutbürger“ vom „Spiegel“ kreiert worden sei.[5] Nussbaumer hält ebenfalls fest, dass der Wutbürger vor allem „in Sorge um seine eigene Welt“ wie seinen Job, seine Familie etc. sei, während seine Identifikation mit Staat und Gesellschaft eher gering ausfalle. Er stehe politisch aber nicht automatisch rechts, sondern habe „keine starke ideologische oder parteipolitische Bindung“.[5]

Adam Soboczynski dagegen bezeichnete in einer Besprechung über das Buch Der kommende Aufstand in der Zeit den Wutbürger als reaktionär, nicht konservativ, da „er insgeheim von einem glühenden Misstrauen gegenüber dem Parlamentarismus und demokratischen Institutionen geprägt ist, die Partizipation strukturieren“. Man wolle sich „nicht in den Niederungen der Parteien engagieren, sondern den Meinungsbildungsprozess in Volksabstimmungen abkürzen“ und man wolle keine Regierung mehr, „die auf diskrete Kommunikation angewiesen ist, sondern feiert WikiLeaks.“ Minderheiten wie Migranten und Raucher sollen durch Bürgerbefragungen gegängelt werden, „solange der Staat sie unnötigerweise noch schützt“.[6] Mathias Greffrath resümierte in seiner Kolumne Das Schlagloch in der taz, dass er in seiner Verteidigung der „formalistischen Aspekte der Demokratie“ selbst formalistisch bliebe: „Die 15-jährige Vorgeschichte der Wut interessiert ihn ebenso wenig wie ihr Untergrund aus ökonomischen Umwälzungen und politischer Erosion.“ Das sei schade, denn „erst wenn die Kritik an der Wut mit einer am Verfall der politischen Institutionen verbunden wird“, würde „ein Schuh draus.“ [7]

Der Sozialpsychologe Harald Welzer nannte den Begriff in der taz bezüglich der Proteste gegen Stuttgart 21 „denunziatorisch formuliert“. Die Protestbewegung sei heterogen, „von der Rentnerin bis zum Schüler.“ Es sei gar nicht klar, „was die im Einzelnen an gesellschaftlichen Visionen und Vorstellungen haben“. Dahinter verberge sich vielmehr „eine Reflexion darüber, was aus den Verkehrsformen unseres Parlamentarismus und unserer Gesellschaft geworden ist.“ [8] Gangolf Stocker, Sprecher des Aktionsbündnisses gegen Stuttgart 21, kritisierte die Wortschöpfung als „albern“: „Die Menschen, die gegen Stuttgart 21 demonstrieren, bestehen nicht nur aus Wut, sondern sie gehen für etwas, für die Alternative Kopfbahnhof 21, und für mehr Basisdemokratie auf die Straße.“[9]

Die Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) begründete die Wahl zum Wort des Jahres 2010 damit, dass die Neubildung „von zahlreichen Zeitungen und Fernsehsendern“ verwendet wurde, „um einer Empörung in der Bevölkerung darüber Ausdruck zu geben, dass politische Entscheidungen über ihren Kopf hinweg getroffen werden“. Das Wort dokumentiere „ein großes Bedürfnis der Bürgerinnen und Bürger, über ihre Wahlentscheidung hinaus ein Mitspracherecht bei gesellschaftlich und politisch relevanten Projekten zu haben“.[10]

Einzelnachweise

  1. a b Dirk Kurbjuweit: Der Wutbürger. In: Der Spiegel. Nr. 41, 2010, S. 26–27 (online).
  2. Jede Stimme zählt taz vom 20. November 2007
  3. Bürger in Wut Zeit Online vom 6. Juli 2008
  4. Benno Schirrmeister: Westentaschen-Schill von der Weser. In: taz.de. 8. Juli 2008, abgerufen am 25. Oktober 2010: „Auf Listenplatz zwei der Wutbürger steht (…)“
  5. a b Hannes Nussbaumer: Wer abstimmt, hat ein Ventil. In: Tages-Anzeiger. 15. Oktober 2010, abgerufen am 25. Oktober 2010.
  6. Wir Antidemokraten Zeit Online vom 2. Dezember 2010
  7. Bürgerträume am Heizpilz taz vom 7. Dezember 2010
  8. "Die Zukunft wird sehr kleinteilig sein" taz vom 23. Oktober 2010
  9. "Wutbürger" ist das Wort des Jahres Zeit Online vom 17. Dezember 2010
  10. Pressemitteilung der Gesellschaft für deutsche Sprache vom 17. Dezember 2010.