Ein Rechtsstaat ist ein Staat, in dem die öffentliche Gewalt an eine in ihren Grundzügen unabänderliche und im Ganzen auf Dauer angelegte objektive Wert- und Rechtsordnung gebunden ist. Im Vergleich zum absolutistischen Staat die Macht des Staates umfassend durch Gesetze determiniert, um die Bürger vor Willkür zu schützen (formeller Rechtsstaatsbegriff). Ein Rechtsstaat moderner Prägung ist darüber hinaus auf die Herstellung und Erhaltung eines materiell gerechten Zustands gerichtet (materieller Rechtsstaatsbegriff). Objektive Wertentscheidungen haben – anders als subjektive Rechte des Einzelnen – die Funktion einer Begrenzung der Gesetzgebung durch festgeschriebene Prinzipien.
Die Begrenzung der Staatsgewalt erschöpfte sich ursprünglich in der formellen Betrachtung des Rechtsstaats. Allein das positive Recht (im Gegensatz zum Naturrecht) sollte Maßstab der Rechtsbindung der Staatsgewalt sein. Dieser Gesetzespositivismus ist für die Rechtssicherheit weiterhin sehr bedeutend, wurde bereits sehr früh als unzulänglich gesehen, so dass die materielle Komponente des Rechtsstaats hervorgehoben wurde:
„…a legislative act contrary to the Constitution is not law.“
„...ein Gesetzgebungsakt in Widerspruch zur Verfassung hat keine Gesetzeskraft.“
Spätestens mit Inkrafttreten der Nürnberger Gesetze im Dritten Reich hatte sich nur zu deutlich gezeigt, dass positives Recht als formeller Maßstab dazu missbraucht werden konnte, selbst schwerste Menschenrechtsverletzungen durch das formell geltende Recht zu legitimieren. In Wahrheit legte es die Diskrepanz zwischen Legalität und Legitimität.
Deshalb entwickelte sich in der Rechtswissenschaft ab 1945 der materielle Rechtsstaatsbegriff dahin gehend fort, dass Menschenrechten als Ausdruck des Naturrechts einen korrigierenden, gar maßgebenden Einfluss eingeräumt wurde, der dem Rechtspositivismus vorgreifen soll. Durch die Erweiterung des Grundrechtsschutzes als Mitwirkungs- und Abwehrrechte gegen den Staat und als objektiv wertender Maßstab für Gesetze ist die materielle Durchdringung des Rechtsstaats in vielen Verfassungen weit gehend konkretisiert.
Der Begriff »Rechtsstaat« tauchte im deutschsprachigen Raum erstmals 1832 bei Robert von Mohl auf[2] und wurde dort als Gegenbegriff zum aristokratischen Polizeistaat verwendet. Die Idee stand im Kern schon lange Zeit davor fest und ist im Verlässlichkeitsgebot des Römischen Rechts zu sehen. In der Neuzeit erfuhr sie starken Einfluss durch die Verfassung der Vereinigten Staaten:
„The Government of the United States has been emphatically termed a government of laws and not of men. It will certainly cease to deserve this high appellation, if the laws furnish no remedy for the violation of a vested legal right.“
„Die Staatsgewalt in den Vereinigten Staaten wird mit Nachdruck als das Regieren der Gesetze und nicht als Regieren von Männern definiert. Sie würde diesen hohen Ruf verlieren, wenn die Gesetze keinen Rechtsbehelf für die Verletzung eines verbürgten Rechts bereitstellten.“
Rechtsstaatsprinzip in der Bundesrepublik Deutschland
Das Rechtsstaatsprinzip ist im Grundgesetz (GG) nicht ausdrücklich genannt. Der Begriff Rechtsstaat taucht lediglich an einer Stelle (Artikel 28 GG) auf, an der es nicht um das Rechtsstaatsprinzip selbst geht, sondern um das Homogenitätsprinzip, das für die Länder ebensolche Grundprinzipien wie das Rechtsstaatsprinzip sicherstellen soll.
Ausgangspunkt für die Beschreibung des Rechtsstaatsbegriffs des Grundgesetzes ist Artikel 20 Absatz 3 GG:
- »Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden.«
Aus dieser Formulierung lassen sich bereits zwei wichtige Ausprägungen des Rechtsstaatsprinzips ableiten: die Gewaltenteilung und die Rechtsbindung der Staatsorgane.
Diese Kernaussagen zum Rechtsstaatsprinzip sind, wie die anderen Staatsformmerkmale aus Artikel 20 GG, durch Artikel 79 Absatz 3 GG für die Geltungsdauer des Grundgesetzes garantiert, dürfen also nicht einmal durch eine Verfassungsänderung angetastet werden.
Zusammen mit den ergänzenden Regelungen, etwa der Rechtsweggarantie in Artikel 19 Absatz 4 und den Verfahrensgarantien in den Artikeln 97 und 101 bis 104 GG, ergeben sich aus dem Grundgesetz Einzelaussagen zum Rechtsstaat, die sich mit ihrer übergreifenden Bedeutung für Grundrechtsschutz und Staatsorganisation kaum in ein geschlossenes Begriffssystem einordnen lassen.
Gewaltenteilung
Die Staatsorganisation ist nach dem Grundgesetz auf die drei Gewalten Legislative (gesetzgebende Gewalt), Exekutive (ausführende Gewalt) und Judikative (rechtsprechende Gewalt) verteilt. Innerhalb der Gewalten ist zum Teil eine weitere Unterteilung festgelegt. So wird in Deutschland zum Beispiel die Legislative von Bundestag und Bundesrat, die Exekutive von Bundeskanzler, Bundesregierung und Bundespräsident ausgeübt. Diese horizontale Gewaltenteilung auf der Ebene des Bundes wird in der Struktur der Staatsorganisation durch eine vertikale Gewaltenteilung ergänzt: Bund, Länder und Gemeinden beschränken den Umfang der zentralen Staatsgewalt des Bundes durch eigene fachliche Zuständigkeiten, wobei sie ihrerseits ihre Hoheitsgewalt horizontal aufteilen.
Zweck der Gewaltenteilung ist die gegenseitige Kontrolle der Staatsorgane. Am deutlichsten zeigt sich das an der Judikative, die das Verwaltungshandeln als Bestandteil der Exekutive beurteilt, die aber auch im Einzelfall Gesetze für nichtig erklären kann.
Die ursprünglich von Montesquieu vorgesehene Trennung der Gewalten wird nach dem Konzept des Grundgesetzes an vielen Stellen nicht strikt eingehalten. Am Beispiel der Gesetzgebung zeigt sich, dass Legislative und Exekutive eng zusammenarbeiten: regelmäßig legt die Bundesregierung (Exekutive) einen Gesetzentwurf vor, der vom Parlament (Legislative) beschlossen und vom Bundespräsidenten (Exekutive) ausgefertigt wird. In der Praxis ist die Nähe zwischen Regierung und Parlamentsmehrheit so überdeutlich, dass eher von einer Gewaltenteilung zwischen Regierungsmehrheit und Opposition ausgegangen werden kann. Die Trennung der Gewalten ist deshalb tatsächlich nur gegenüber der Judikative deutlich ausgeprägt. Richter werden zwar von der Exekutive ernannt oder von der Legislative gewählt, sind in ihrer Tätigkeit aber durch die richterliche Unabhängigkeit aus Artikel 97 GG vor einer politischen Einflussnahme geschützt.
Berechenbarkeit staatlichen Handelns
Der Rechtsstaatsbegriff des Grundgesetzes umfasst eine Reihe von Grundsätzen, die der Berechenbarkeit staatlichen Handelns dienen:
- Gesetzmäßigkeit (Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes)
- Rückwirkungsverbot (Vertrauensschutz)
- Verhältnismäßigkeit
Gesetzmäßigkeit
Die Gesetzmäßigkeit oder Rechtsbindung staatlichen Handelns folgt unmittelbar aus Artikel 20 Absatz 3 GG: »Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden.«
Daraus sind zwei Grundsätze abgeleitet worden:
- Es muss eine Normenhierarchie geben, die es einem Staatsorgan verbietet, gegen höherrangiges Recht zu handeln (Vorrang des Gesetzes) und
- Exekutive und Judikative dürfen nicht ohne ein Gesetz handeln, sondern sind von einer Ermächtigungsgrundlage abhängig (Vorbehalt des Gesetzes).
Rückwirkungsverbot
Der Vertrauensschutz ist eine wichtige Ergänzung der rechtsstaatlich gebotenen Rechtssicherheit. Man soll darauf vertrauen dürfen, dass die Rechtslage nicht rückwirkend zum eigenen Nachteil geändert wird. Am deutlichsten formuliert das Artikel 103 Absatz 2 GG für das Strafrecht: Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde.
Das absolute Rückwirkungsverbot ist jedoch auf das Strafrecht beschränkt. Im Verwaltungsrecht können rückwirkende Gesetze zulässig sein, besonders wenn sie eine unechte Rückwirkung bewirken, weil sie lediglich in laufende Verhältnisse einwirken. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn die Prüfungsordnung nach Aufnahme des Studiums geändert wird.
Verhältnismäßigkeit
Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist eine materielle Komponente des Rechtsstaatsbegriffs und dient dem Schutz vor übermäßiger oder unangemessener Beeinträchtigung der Rechte des Einzelnen. Die Rechtsbindung der Staatsorgane allein bietet nicht in jedem Einzelfall ausreichend Schutz, so dass es im Rahmen des Grundrechtsschutzes eines weiteren Kontrollmittels bedarf. Das Gebot der Verhältnismäßigkeit gilt für alle staatlichen Maßnahmen (also unter anderem auch für Gesetze, Verwaltungsakte und Gerichtsurteile).
Eine staatliche Maßnahme ist nur dann verhältnismäßig, wenn sie einen legitimen Zweck verfolgt und dabei
- geeignet,
- erforderlich und
- angemessen, notwendig
ist.
Die Eignung ist an dem Ziel der staatlichen Maßnahme zu messen, man muss also zunächst wissen, zu welchem Zweck die Maßnahme ergriffen werden soll. Geeignet ist eine staatliche Maßnahme, sofern sie überhaupt den verfolgten Zweck verwirklichen kann (Zwecktauglichkeit). Weiter ist die Maßnahme erforderlich, wenn kein (gleich wirksamer) schonenderer Eingriff in das Recht des Betroffenen möglich ist. Angemessen (oder verhältnismäßig im engeren Sinn) ist eine Maßnahme, wenn sie kein auffälliges Missverhältnis zwischen dem verfolgten Ziel und dem bewirkten Grundrechtseingriff erkennen lässt, d.h. nicht »mit Kanonen auf Spatzen geschossen« wird.
Grundrechte
Die Existenz von Freiheits- und Gleichheitsrechten im ersten Teil des Grundgesetzes ist eine materielle Komponente des Rechtsstaatsbegriffs. Grundrechte sind nicht nur Abwehrrechte des Einzelnen, auf die sich der Einzelne erst berufen müsste, sondern »binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht« (Artikel 1 Absatz 3 GG). Das Bundesverfassungsgericht hat die Grundrechte deshalb zum objektiven Wertmaßstab für staatliches Handeln erklärt, was sich besonders in der Überprüfung von Gesetzen auswirkt, weil darin nicht nur formelle Gründe wie die Zuständigkeit und ein ordnungsgemäßes Gesetzgebungsverfahren, sondern auch die Angemessenheit eines Grundrechtseingriffs einbezogen werden.
Das Rechtsstaatsprinzip garantiert allerdings nicht die Existenz jedes einzelnen Grundrechts in seiner ursprünglichen Reichweite. Einzelne Grundrechte können durch Verfassungsänderung beschränkt werden (Artikel 19 Absatz 1 GG). Es darf nur nie der »Wesensgehalt« eines Grundrechts angetastet werden.
Sicherungsmechanismen
Die in Artikel 20 Absatz 3 GG enthaltene Gewaltenteilung ist ein wichtiger Sicherungsmechanismus für den Rechtsstaat: die Judikative kontrolliert Legislative und Exekutive. Das ist wichtig, damit Fehler nachträglich korrigiert werden können, reicht aber nicht aus. Denn damit allein könnte der Staat selbst bestimmen, ob überhaupt ein Verfahren eingeleitet wird. Das Grundgesetz sieht deshalb in Artikel 19 Absatz 4 GG eine Rechtsweggarantie vor: »Wird jemand durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt, so steht ihm der Rechtsweg offen.«
Auch diese Rechtsweggarantie allein ist jedoch noch keine Garantie für ein faires Verfahren. Deshalb sieht das Grundgesetz eine Reihe von Verfahrensgarantien (»Justizgrundrechte«) vor:
- Unabhängigkeit der Richter (Artikel 97 GG)
- Verbot von Ausnahmegerichten (Artikel 101 Absatz 1 Satz 1 GG)
- Anspruch auf den gesetzlichen Richter (Artikel 101 Absatz 1 Satz 2 GG)
- Anspruch auf rechtliches Gehör (Artikel 103 Absatz 1 GG)
- Verbot der Mehrfachbestrafung (Artikel 103 Absatz 3 GG)
- Garantien bei Freiheitsentziehungen (Artikel 104 GG)
- ↑ Begründung im Fall Marbury gegen Madison
- ↑ Die deutsche Polizeiwissenschaft nach den Grundsätzen des Rechtsstaates, 1832/34
- ↑ Begründung des im Fall Marbury gegen Madison