Daodejing

anonym veröffentlichte Sammlung von Spruchkapiteln
Dies ist eine alte Version dieser Seite, zuletzt bearbeitet am 3. August 2005 um 16:39 Uhr durch Kura-okami-no-kami (Diskussion | Beiträge) (Ethik im Daodejing: das Nicht-Eingreifen). Sie kann sich erheblich von der aktuellen Version unterscheiden.

Das Daodejing (Vorlage:Zh-vtpw) ist eine Sammlung philosophischer und mystischer Aphorismen und Sinnsprüche, die Laozi zugeschrieben wird. Sie entstand um 400 v. Chr. in China. Die heutige Textgestalt stammt aus dem 3. Jahrhundert n. Chr.

Dao (Tao) bedeutet „Weg, Methode, Prinzip, der rechte Weg“, De (Te) kann man mit „Kraft, Wirkkraft, Charisma“ oder „Tugend, Güte, Qualität“ übersetzen, und Jing (King) bezeichnet einen Leitfaden bzw. einen klassischen Text. Das Daodejing ist also das Buch vom Weg und der Tugend. Der Text wird auch Laozi genannt, nach dem legendären Weisen, dem es zugeschrieben wird. Er offenbart eine vielschichtige Lehre und Philosophie, in deren Mittelpunkt wohl eine individualistische Herrschafts- und Verhaltenslehre mit utopistischen Zügen steht. Das Werk gilt als die Offenbarung und Gründungsschrift des Daoismus, obwohl dieser verschiedene Strömungen umfasst, die sich von der Lehre des Daodejing erheblich unterscheiden können. Trotzdem wird es von den Anhängern aller daoistischen Schulen als heiliger Text angesehen.

„Daodejing“ auf Chinesisch
„Daodejing“ auf Chinesisch

Urheberschaft und Textgestalt

Der Name Laozi heißt wörtlich übersetzt „der alte Meister“ und bezeichnet den Autor des Daodejing. Ob es einen Denker namens Laozi wirklich gegeben hat, wird heute jedoch bezweifelt. Seine Biografie ist von Legenden umrankt und äußerst umstritten. Laozi soll im 6. Jahrhundert v. Chr. zur Zeit der Streitenden Reiche gelebt haben, die von Unruhen und Kriegen geprägt war. Sie stellt eine Blütezeit der chinesischen Philosophie dar, weil viele Gelehrte sich Gedanken machten, wie wieder Frieden und Stabilität erreicht werden könnten. Der Legende nach war Laozi ein kaiserlicher Archivar, der den Wirren der Zeit entfliehen und in den Bergen seine Ruhe finden wollte. An der Grenze, so die Überlieferung, bat ihn der Grenzwächter darum, der Welt seine große Weisheit nicht vorzuenthalten, woraufhin Laozi ihm das Buch übergab.

Über die genaue Entstehungszeit des Daodejing gehen die Meinungen der Forschung sehr auseinander: Die Mutmaßungen reichen von 800 bis 200 vor Christus. Wahrscheinlich ist der Text aber um 400 v. Chr. entstanden. Zwar finden sich Zitate aus dem Daodejing in vielen anderen Überlieferungen dieses Zeitraums, es lässt sich aber nicht mit Sicherheit klären, wer wen zitiert hat.

Den Titel Daodejing bekam das Werk erst von dem Han-Kaiser Han Jindi (156140 v. Chr.). Auch die heute gebräuchliche Einteilung in 81 Abschnitte erhielt der Text wahrscheinlich erst lange nach seiner Entstehung. Man vermutet, dass der Text die schriftliche Fassung einer älteren mündlichen Überlieferung ist und er viele ältere Überlieferungen aufgegriffen und integriert hat.

Der Text weist folgende Charakteristika auf:

  • Er stellt sowohl eine Art Leitfaden zur Persönlichkeitsentwicklung als auch einen politischen Leitfaden zur Herrschaft und zur Entwicklung des Staates dar.
  • Sein Stil und Wortschatz sind typisch für das klassische Chinesisch (entstanden zwischen ca. 550300 v. Chr.)
  • Die durch die linguistische Struktur des klassischen Chinesisch bereits vorhandene Informationsdichte wird durch die Form des Textes als Gedicht noch verstärkt. Es besteht eine extreme Kontextabhängigkeit zur Interpretation des Textes. Diese dichte Struktur wird durch unverständliche, rätselhafte Textstellen, die schwierig oder gar nicht zu verstehen sind, noch erhöht.
  • Die überlieferte Form des Textes ist nicht die einzige, die je existierte. In einem Grab in Mawangdui wurde eine Textfassung gefunden, die aus dem 1. Jahrhundert v. Chr. stammt und teilweise vom tradierten Text, der erst später fixiert wurde, abweicht. Gleichermaßen gibt es den vor kurzem entdeckten, sogenannten Guodian-Text, der aber noch nicht genügend in der Fachliteratur Beachtung gefunden hat, um daraus Schlüsse ziehen zu können.

Übersetzungen

Der Text ist vermutlich einer der am häufigsten übersetzten chinesischen Texte. Es gibt allein 35 englische Übersetzungen. Der Umgang mit Übersetzungen dieses Textes ist problematisch: Schon im Chinesischen bereiten Überlieferungsschäden und inhaltliche Vieldeutigkeit den Interpreten Schwierigkeiten, weshalb mehrere hundert Kommentare zum Text entstanden sind. Durch die Übersetzung in eine andere Sprache verliert die Schrift nochmals an Klarheit und schließlich lässt es sich kaum vermeiden, dass der Übersetzer in dem Bestreben, einen lesbaren Text zu liefern, mit seiner Übersetzung zugleich eine Deutung vorlegt.

Den folgenden Ausführungen liegen diese Übersetzungen zugrunde:

1) Laotse: Tao te king, übersetzt von Richard Wilhelm, München 1991 (W),

2) Lao-tse: Tao-Tê-King, übersetzt von Günther Debon, Stuttgart 1979 (D).

Dao und De

Der heutige Titel des Werks – „Das Buch vom Dao und vom De“ – verweist auf die beiden zentralen Begriffe der Weltanschauung und Lehre Laozi. Es gibt verschiedene Übersetzungen dieser beiden Wörter; relativ verbreitet sind „Weg“ für Dao und „Tugend“ oder „Kraft“ für De. Die Begriffe finden in allen Richtungen chinesischer Philosophie Verwendung, erhalten im Daodejing aber eine besondere Bedeutung. Hier wurde der Begriff Dao erstmals im Sinne einer höchsten Wahrheit und eines umfassenden Prinzips gebraucht.

Anders als andere chinesische philosophische Texte geht das Daodejing weder definitorisch noch anschaulich erklärend vor, sondern beschränkt sich auf dunkle, oft paradoxe Andeutungen und assoziative Verknüpfungen. Zum Beispiel behauptet der erste Satz des Textes gleich, dass das Dao, von dem man sprechen kann, nicht das ewige Dao sei. Trotzdem will das Daodejing natürlich auch vom ewigen Dao sprechen – aber das kann nur sehr indirekt geschehen.

Diese Art und Weise, wie der Leser die ganze Zeit um unbestimmte, leere Wörter, also um „nichts“ kreisen muss, um zu verstehen, entspricht dem wesentlichen Inhalt der Schrift: Es geht um ein Nichts, ein Unsagbares, Unbegreifbares, dass den Ursprung und Mittelpunkt der Welt bildet. Dieses „Nichts“ ist das Dao, von Wilhelm mit „Sinn“, von Debon mit „Weg“ übersetzt. Indem ein Mensch sein Leben nach dem Dao ausrichtet, erlangt er zunehmend De, von Wilhelm als „Leben“, von Debon als „Tugend“ übersetzt. Das De ist in der Sprache des klassischen Chinesisch ursprünglich eine Art Charisma oder Wirkkraft. Dies geht wahrscheinlich auf Vorstellungen einer Kraft zurück, wie sie im China der Shang-Dynastie mit der Gestalt der Schamanen assoziiert war, die eine magische Kraft besaßen, die heute und in älteren Zeiten mit dem Begriff des Qi (Ch'i) verbunden ist. Diese Kraft wird also erlangt, wenn man das Dao verwirklicht.

Das Werk versucht, sich diesem Unnennbaren sprachlich anzunähern. Immer wieder weist es jedoch darauf hin, wie unzulänglich dieser Versuch bleiben muss (z.B. Kapitel 5). Als Ursprung und Quelle allen Seins durchzieht das Dao alle Erscheinungen der Welt, es durchdringt als Prinzip alles, was es gibt. Da es immer in dieser Welt und gleichzeitig immer jenseits von dieser Welt ist, ist es Sein und Nicht-Sein zugleich. So ist es in allem wirksam und doch wie leer, es ist das Eigentliche und ist doch nichts. Diese paradoxe Aussage veranschaulicht Laozi anhand von Gleichnissen:

Das Tao ist wie die Luft zwischen den Speichen des Rades, es ist nichts und doch das, was das Rad zum Rad macht. Es ist wie die Leere im Innern eines Topfes, durch die der Topf erst nützlich wird. Wie Löcher in der Wand als Tür und Fenster dienen, dient das Tao, indem es nicht ist. (Kap. 11)

Der Mensch, so Laozi, kann die Wirkung des Dao auf zweierlei Weise erkennen: Zum einen, indem er die Erscheinungen der Welt beobachtet und das Dao am Werke sieht; zum anderen, indem er seine Sinne verschließt und sich von allen Erscheinungen der Welt abkehrt. Auf diese Weise kann er das Dao unmittelbar erleben.

 
Tai Chi, das Symbol für „individuelles“ Yin und Yang

Von der ersten Weise zeugen die bei Laozi zahlreichen Gleichnisse aus Natur und menschlicher Gesellschaft: Das Wasser bahnt sich seinen Weg, indem es nachgibt und unten bleibt. Ein Mensch, der viel besitzt, zieht Räuber und Feinde an (Kap. 8 u. 9). Wer die Welt beobachtet, so vermittelt es Laozi, wird feststellen, dass sie sich unentwegt verändert, also stetem Wechsel unterworfen ist. In diesem Wechsel aber wird ein grundlegendes und unveränderliches Gesetz wirksam. Es ist das Gesetz vom Ausgleich der Gegensätze. (Schwer und leicht vollenden einander, lang und kurz gestalten einander, hoch und tief verkehren einander, Kap. 2). Hier greift Laozi eindeutig auf eine ältere Tradition zurück, wie sie im Yijing (I Ging), dem „Buch der Wandlungen“ festgehalten worden ist. Im Yijing wird das Treiben der Welt aus der Wechselwirkung von Yin und Yang erklärt, d.h. zweier gegensätzlicher, jedoch komplementärer Prinzipien, wovon das eine männlich, aktiv, hell etc. ist (Yang) und das andere weiblich, passiv, dunkel etc. (Yin).

Weithin bekannt ist das Symbol Taiji, welches symbolisch Yin und Yang in einem Kreis vereinigt. Der Kreis selbst symbolisiert die Ureinheit dieser beiden Kräfte, welche bei Laozi das Dao ist. Wer die Wechselwirkungen der äußeren Welt studiert und das dahinterliegende Prinzip erkannt hat, kann dieses Prinzip wiederum auf die Welt anwenden. (Was du vernichten willst, das musst du erst richtig aufblühen lassen. Wem du nehmen willst, dem musst du erst richtig geben. W36).

Ethik im Daodejing: das Nicht-Eingreifen

Eine wesentliche Handlungsanweisung, die sich aus der Kenntnis des Tao ergibt, ist die des Wu Wei, des Nicht-Eingreifens. Diese Forderung Laozis nach Nicht-Handeln in allen Lebensbereichen erscheint dem westlichen Leser zunächst kurios und radikal. Sie beruht auf der Einsicht, dass das Dao, welches in allem wirksam ist, von selbst zum Ausgleich aller Kräfte und damit zur optimalen Lösung drängt. Tun ist für Laozi die Manipulation des natürlichen Gleichgewichtes durch den menschlichen Verstand. Jede Manipulation hat darum eine Gegenbewegung zur Folge, die das gestörte Gleichgewicht wiederherzustellen sucht. (Das Unglück ist´s, worauf das Glück beruht, das Glück ist´s, worauf das Unglück lauert. Wer erkennt aber, dass es das Höchste ist, wenn nicht geordnet wird? W58) Indem der Mensch nur das tut, was sich fast wie von selbst ergibt, indem er spontan den natürlichen Gegebenheiten entspricht, greift er nicht in das Wirken des Dao ein und wählt damit den segensreichsten Weg. Ein solcher Mensch lässt sowohl von persönlichen Wünschen und Begierden, als auch von gesellschaftlich anerkannten Zielen und Regeln ab. Insofern versucht ein solcher Mensch auch nicht mehr, moralisch gut zu sein. Das moralisch Gute richtet sich nämlich gegen ein moralisch Schlechtes, und indem ein Mensch das Gute betont, ruft er das Schlechte erst hervor. Dieses Prinzip überträgt Laozi auch auf Staatsführung und Gesetzgebung:

Wer Gesetze schafft, provoziert den Gesetzesbruch, wer dem Volk Verstand beibringt und in sein natürliches Treiben eingreift, schadet ihm. Darum ist der beste Herrscher, der vom Volk nicht bemerkt wird, denn dieser enthält sich der Manipulation und lässt damit dem Tao seinen Lauf. (65)

Hiermit steht Laozi in starkem Gegensatz zu der einflussreichen Sittenlehre des Konfuzius. Während Konfuzius Sitte und Gesetz als Ausformungen der letzten Wahrheit hochhielt und pflegte, verwarf Laozi alle Sitten als Verfallserscheinungen. Erst wenn das Dao verloren sei, so Laozi, erfänden die Menschen Sitten und Gebote. Das Festhalten an den Sitten entferne den Menschen aber noch weiter vom natürlichen Tun (38). Dass das Daodejing mit dem Konfuzianismus verbunden ist und eine Gegenposition zu diesem darstellt, lässt sich daran ablesen, dass viele Textstellen sich direkt auf die dem Konfuzius zugeschriebenen Werke beziehen. Der berühmte Anfang des Textes, in dem das Dao als unaussprechbar dargestellt wird, bezieht sich wohl direkt auf Textstellen im Werk der Konfuziusschüler, in denen der Meister sich explizit und ausführlich über sein Dao, seinen Weg auslässt. Desgleichen gibt es konfuzianische Textsstellen, in denen Konfuzius von der herausragenden Wichtigkeit der „Namen“ redet, von denen Laozi wiederum sagt, sie seien nicht die ewigen Namen.

Ein Mensch, so Laozi, der von gewolltem Tun ablässt, wird nachgiebig und weich. Er stellt sich an die unterste Stelle und erlangt dadurch die Oberhand. Weil er weich und biegsam ist wie ein junger Baum, überlebt er die Stürme der Zeit; weil er niemandem im Weg steht, wird er nicht angegriffen; weil er nicht streitet, kann niemand mit ihm streiten. Auf diesem Wege erwirbt ein Mensch De, d.h. die Fähigkeit, in Übereinstimmung mit dem Ursprung des Lebens zu leben. Doch der Ursprung des Lebens schließt, wie oben beschrieben, auch den Tod in sich ein. So kann ein „Heiliger“ oder „Berufener“ (Zhenren wörtlich: der wahre Mensch, was sich primär auf den Herrscher bezieht), wie Laozi einen solchen Menschen nennt, nicht dem irdischen Tod entgehen. Und doch heißt es bei Laozi, ein solcher Heiliger habe „keine sterbliche Stelle“ (W50).

Ethik im Daodejing: die Menschenliebe

Das Daodejing fordert aber nicht nur das Nicht-Eingreifen, sondern auch das Eintreten für den Mitmenschen, die Güte und Nachsicht, ähnlich der christlichen Nächstenliebe und Feindesliebe.

Dazu das Kapitel 62:

Das Dao ist die Zuflucht der zehntausend Dinge.
Es ist ein Schatz für den guten Menschen
und ein Schutz für den schlechten Menschen.
Durch Freundlichkeit wirst du geachtet,
und gutes Tun schafft gute Beziehungen.
Auch wenn ein Mensch schlecht ist,
lass ihn nicht fallen.
Aber schicke keine Geschenke, wenn der Kaiser gekrönt wird
oder wenn die höchsten Minister ihre Ämter erhalten;
sende auch kein Gespann mit vier Pferden,
sondern verhalte dich ruhig
und weise nur auf das Dao hin.
Warum verehrten schon die Alten das Dao?
Hieß es nicht,
dass man mit Hilfe des Daos
bekam, was man wollte,
und die Folgen nicht zu tragen brauchte,
wenn man einen Fehler beging?
Darum verehrt die Welt das Dao.

Erfahrung des Dao und Erlangung des De

Gemäß Laozi sollte ein Mensch das Dao erfahren. Er beobachtet (mittels Meditation) nicht die Welt in ihrem Wandel, sondern das Wirken des Dao in seiner Ewigkeit. (Darum führt die Richtung auf das Nicht-Sein zum Schauen des wunderbaren Wesens W1) Hier wird jener Aspekt des Dao gesucht, der über das irdische Sein hinausweist und vom Tod und Vergehen des Einzelnen unberührt bleibt. Zu diesem Zweck verschließt der Suchende seine Sinne vor den Eindrücken der Außenwelt und dringt zum Innersten seiner selbst vor:

Man muss seinen Mund schließen und seine Pforten zumachen, seinen Scharfsinn abstumpfen, seine wirren Gedanken auflösen, sein Licht mäßigen, sein Irdisches gemeinsam machen. (W56)
Ohne das Tor zu verlassen, kannst du das Erdreich erfassen; Ohne durchs Fenster zu spähn, kannst du den Himmel sehn. Je weiter wir hinausgegangen, desto geringer wird unser Verstehn. (D47)

Diese Wendung nach innen, die Suche nach dem, was von der äußeren Welt unbeeinflusst bleibt und diese übersteigt, entspricht dem mystischen Weg anderer Religionen. Angestrebt wird eine Vereinigung mit dem Höchsten, ein Einswerden mit dem Ursprung, wodurch der Mensch allen irdischen Bedrängnissen entrückt und Teil der Ewigkeit wird. Darum misst ein Mensch, der zum unmittelbaren Erlebnis des Dao vorgedrungen ist, seinem irdischen Tod keine Bedeutung mehr zu. Er ist tatsächlich unsterblich in dem Sinne, dass er schon zu Lebzeiten in der Ewigkeit des Dao wandelt.

Leer und nachgiebig wie das Dao selbst, übt der „Berufene“ natürlicherweise „De“. Diese hohe Tugend wirkt in der irdischen Welt aber nicht besonders prächtig. Im Gegenteil, der Heilige erscheint wie ein Bettler, ein Dummer, ein Verrückter, ein Stummer (W20,45). Auch ist sein Leben nicht frei von Traurigkeit. Er leidet darunter, dass er unter den „Weltmenschen“ nicht mehr heimisch ist, im Vergleich zu ihnen kommt er sich trübe und unnütz vor (W20). Trost findet er bei der „Mutter“, dem nährenden Ursprung aller Dinge, der ebenso wirr und trübe ist wie er (W20/21). Der Ursprung wird bei Laozi häufig als weiblich oder mütterlich umschrieben. Der Religionswissenschaftler Friedrich Heiler vermutet, dass Laozi aus einem mutterrechtlichen Kulturgebiet stammte (F. Heiler: „Die Religion der Chinesen“, in: F.H.: „Die Religionen der Menschheit“, 1991, 5. ).

Ein Mensch, der über De verfügt, leuchtet dem Daodejing zufolge zwar nicht in den Augen seiner Mitmenschen, doch wirkt er auf diese überaus wohltuend. Er fügt niemandem Schaden zu, er übt Güte gegenüber Freunden und Feinden, er verlangt nichts für sich, sondern fördert durch sein Nicht-Tun den segensreichen Lauf aller Dinge. Dem Suchenden ist er ein Vorbild, dem weltlichen Menschen kein Hindernis.

Aus Laozis zahlreichen Ratschlägen, wie ein Staat nach innen und nach außen zu führen (bzw. nicht zu führen) sei, geht hervor, dass die Suche eines Menschen nach De nicht in die strikte Abgeschiedenheit führen muss. Zwar können Laozis Empfehlungen für den „Herrscher“ auch mystisch interpretiert werden, d.h. als Anweisungen, wie der unruhige Geist gesammelt werden könne, doch Laozis eindringliche Warnungen vor Krieg, ausbeuterischer Herrschaft, übertrieben grausamen Gesetzen und pompösem Hofleben sind auch konkret gemeint und belegen das Interesse des Mystikers für die gesellschaftliche Realität. Darum bringt der Berufene nach Laozi das Tao in und durch alle menschlichen Aufgabenbereiche zur Vollendung: Als Individuum, Familienoberhaupt, Bauer, Lehrer oder politische Persönlichkeit dient er dem Dao und damit dem Wohl der Allgemeinheit.

Das Daodejing und der Daoismus

Die Religion, die heute als Daoismus bekannt ist und Laozi als Gott verehrt (siehe:Drei Reine), ist keine direkte Umsetzung des Daodejing, obgleich sie mit diesem Berührungspunkte hat und den Text als mystische Anweisung zur Erlangung des Dao versteht. Sie rührt jedoch auch aus den alten schamanistischen und animistischen religiösen Traditionen Chinas und dem Bereich der chinesischen Naturphilosophie her, deren Weisheiten und Vokabular wahrscheinlich auch im Daodejing zitiert werden. Es gibt also traditionell mehrere Lesarten des Textes. Zum einen wurde der Text als Anleitung für den Heiligen oder Weisen verstanden, womit man den Herrscher meinte, der durch seine Verwirklichung des Dao und die Strahlkraft seines De zum Wohl der Welt beiträgt. Der Text stellt in dieser Lesart eine Staats- und Gesellschaftslehre dar.

Zum anderen wurde aber durch chinesische Kommentatoren wie Heshang Gong, Xiang Er und Jiejie um 200 bis 400 n. Chr. systematisch eine andere Sicht formuliert, die den Text als mystische Lehre zur Erlangung von Weisheit, Zauberkräften und Unsterblichkeit auffasst. Wahrscheinlich handelt es sich tatsächlich bei vielen Textstellen, die unverständlich erscheinen, wie der Erwähnung vom „Geist des Tales“ oder des „dunklen Weiblichen“, oder „das Eine umfassen“ um Anspielungen auf Praktiken der Langlebigkeit, Meditationstechniken und bestimmte kosmologische Vorstellungen, die bereits vor der Entstehung des Daodejing verbreitet waren, und die auch im späteren Daoismus eine große Rolle spielten.

Schreibweisen

In der chinesischen Schrift gibt es durch eine Schriftreform zwei mögliche Schreibweisen für das Wort. Auch für die Umschrift in das lateinische Alphabet gibt es verschiedene Varianten, die sich im Laufe der Zeit entwickelt haben. Mehr und mehr wird heute die Pinyin-Umschrift verwendet.

Pinyin: Dao4 De2 Jing1 (Dàodéjīng)
Wade-Giles: Tao Te Ching
Chinesisch (vereinfacht): 道德经
Chinesisch (traditionell): 道德經
deutsche Schreibweise nach R. Wilhelm: Tao-Te-King

Referenzen

Literatur

  • Laotse: Tao Te-King, übers. u. hrsg. von Richard Wilhelm. Marix, Wiesbaden 2004 (orig. 1910, Eugen Diederich Verlag). ISBN 393771507X
  • Laotse: Tao-tê-King, übers. u. hrsg. von Günther Debon. Reclam, Stuttgart 1985 (orig. 1961, Reclam). ISBN 3-15-006798-7
  • Jacobs, Jörn: Textstudium des Laozi: Daodejing; (Referenzausgabe mit Anmerkungen sowie Anhängen für die praktische Arbeit) Frankfurt Main 2001. ISBN 3-631-37254-X
  • Kalinke, Viktor (Hrsg.): Studien zu Laozi, Daodejing, deutsch-chinesische Ausg. d. Daodejing in 2 Bänden. Edition Erata, Leipzig 1999. ISBN 393401500X (Band 1) und ISBN 3934015018 (Band 2)