Ton Steine Scherben

deutsche Rockband
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Ton Steine Scherben (im Jargon der linksautonomen und alternativen politischen Szene oft auch kurz „Scherben“ genannt) war eine der ersten und einflussreichsten deutschsprachigen Rock-Bands der 1970er und frühen 1980er Jahre, die mit den ausdrucksvollen emotional-politisch gefärbten Texten ihres Sängers und Frontmanns Rio Reiser zu einem musikalischen Sprachrohr des linksalternativen Spektrums, beispielsweise der Hausbesetzerbewegung, und zu einer Kultband der entsprechenden Szene ihrer Zeit in Westdeutschland wurde.

Gründung, Namensgebung und Bedeutung

Ton Steine Scherben wurde 1970 in Berlin von den Bandmitgliedern R.P.S. Lanrue (eigentl. Ralph Peter Steitz), Rio Reiser (eigentl. Ralph Moebius), Wolfgang Seidel und Kai Sichtermann gegründet. Der Name leitete sich angeblich aus dem Zitat "Was ich fand, waren Ton, Steine, Scherben" des Troja-Entdeckers Heinrich Schliemann ab. Das war zumindest die Version, die Rio Reiser gerne erzählte. Im Buch "Keine Macht für Niemand" erzählt der Bassist Kai Sichtermann die wahrscheinlichere Version, dass sich der Name bei einem Brainstorming aus dem Namen "VEB Ton Steine Scherben" entwickelt hat. Dieser Name war an den Namen der westdeutschen Industrie-Gewerkschaft "Bau Steine Erden" angelehnt.

Musik und Slogans der Band waren stilbildend für deutsche Rockmusik, den deutschsprachigen Punk und Teile der Neuen Deutschen Welle. Bei ihrem rockigen Stil hatte die Gruppe den Anspruch, eine neues Verständnis von Volksmusik zu kreieren - im Sinn einer eingängigen, verständlichen Musik für das Volk, indem sozial relevante Themen des "einfachen" Volkes in einem Musikstil aufgegriffen wurden, der der Zeit angemessen war. In diesem Zusammenhang hatten sie für die textlich-inhaltlich anspruchsvolle Rockmusik in Deutschland eine ähnlich prägende Bedeutung wie dies etwa sieben Jahre vor Gründung der "Scherben" in den USA für Bob Dylan und seinen nachfolgenden Einfluss auf die dortige kritische Folk- und Rockmusik der Fall war.

Die neue Band traf mit ihren hemmungslosen, rebellischen und radikalen Texten (z.B. mit ihrer ersten Single "Macht kaputt was euch kaputt macht") den Nerv einer Zeit, die im Zeichen der 68er-Bewegung und des gesellschaftlichen Aufbruchs stand. Ton Steine Scherben waren noch vor Udo Lindenberg die ersten Rockmusiker, die ausschließlich und von Anfang an deutsche Originaltexte sangen. Schon 1970 gründeten sie als Erste ihr eigenes Label ("David Volksmund Produktion") um ihre Veröffentlichungen unabhängig von der Plattenindustrie produzieren und vertreiben zu können. Damit hatten sie ein Höchstmaß an Freiheit, aber auch entsprechend geringen Profit, was trotz hoher Popularität zu permanenten finanziellen Problemen führte.

Musikalischer Stil und Wandel

Die Bandgeschichte ist nicht nur von kommuneartigem Lebensstil, politischen Vereinnahmungen (die von der Band stets abgelehnt wurden) und privaten Auseinandersetzungen gekennzeichnet, sondern auch vom steten Wandel. Gekennzeichnet waren die Produktionen jedoch immer von Geradlinigkeit und Offenheit, die im Wesentlichen auf den Texten und dem charismatischen Gesang Reisers beruhten.

Anfang der 1970er Jahre waren die Scherben mit ihren revolutionären Texten, die versuchten, die proletarische Jugend anzusprechen, Identifikationsfigur für anarchistische und linksradikale Kreise ("Der Kampf geht weiter", "Die letzte Schlacht gewinnen wir", "Menschenjäger"). Mit ihrer Musik lieferten sie den Soundtrack zu Hausbesetzungen und Demonstrationen. Es gibt Gerüchte, wonach das Doppelalbum "Keine Macht für niemand" von Geld aus Banküberfällen einer "Revolutionären Zelle" finanziert worden sei. Musikalisch bevorzugte die Band einen harten und sparsam instrumentierten Rhythm’n’Blues, für den es den Namen Punk damals noch nicht gab.

1974 verließen die Scherben Berlin und ließen sich auf einem Bauernhof in Fresenhagen (Nordfriesland) nieder. Der Umzug war eine Flucht vor dem immer größer werdenden Druck, bei jeder radikalen Aktion in Berlin die Protagonistenrolle übernehmen zu müssen und der Wunsch nach größerer künstlerischer Freiheit. Mit der Doppel-LP "Wenn die Nacht am Tiefsten..." (1975) erfolgt eine Hinwendung zu lyrischeren, melancholischeren Texten und ausgefeilteren musikalischen Arrangements, die gekonnt Jazz- und Folk-Elemente aufgreifen. In politischer Hinsicht ist deutliche Desillusionierung erkennbar, was den "Kampf" gegen das Establishment anbelangt. Diese mündet jedoch in den Glauben an eine Utopie, in der Liebe, Toleranz und Frieden herrschen. Kreativ hatte sich die Band von der radikalen Berliner Szene emanzipiert und wandte sich Ende der 1970er Jahre auch offen den Belangen der Schwulen-Bewegung zu.

"IV" von 1981 lässt sich musikalisch nur schwer (am ehesten im Bereich eines unkonventionellen New Wave) einordnen. Rio Reiser übt sich in beeindruckend subtilen und psychedelischen Wortspielen, in denen ein politischer Bezug nur noch indirekt erkennbar ist ("Der Turm stürzt ein", "Jenseits von Eden"). Durch die Scherben-Biografie "Keine Macht für Niemand" wurde bekannt, daß die Lieder auf der Grundlage des Tarot entstanden sind.

1982 wurde Claudia Roth (die spätere Grünen-Politikerin) Managerin der Scherben.

Mit ihrer letzten Platte von 1983 ("Scherben") wandten sich die Scherben wieder einem erdigen Rock und deutlicheren Aussagen zu, die aktuelle Probleme ("Mole Hill Rockers" zum Thema Arbeitslosigkeit) aufgreifen.

Nach einer erfolgreichen Tour, von der posthum zwei Live-Mitschnitte erschienen, lösten sich Ton Steine Scherben 1985 infolge kreativer Krisen und hohen Schulden (die Rio Reiser durch seine höchst erfolgreiche Solokarriere ab Mitte der 1980er Jahre abtrug) auf. Die Band wollte nach eigenen Aussagen keine "Musikbox" mehr sein, die auf Zuruf ihre "Parolenhits" spielen sollte.

Bekannteste Songs

  • "Keine Macht für Niemand" aus dem gleichnamigen Album von 1972, das wohl bekannteste Werk der Scherben
  • "Rauch-Haus-Song" erschien zuerst 1972 auf der Doppel-LP "Keine Macht für Niemand". Das Lied ist angelehnt an die Besetzung des leerstehenden Martha-Maria-Krankenhauses am Mariannenplatz in Berlin am 8. Dezember 1971. Die Besetzerinnen und Besetzer benannten das Haus in "Georg-von-Rauch-Haus" um, nach dem am 4. Dezember 1971 erschossenen Militanten Georg von Rauch.
  • "Mensch Meier", zuerst veröffentlicht auf Single 1971, später auf der Doppel-LP "Keine Macht für Niemand" (1972).
  • "Macht kaputt was euch kaputt macht", von der ersten LP ("Warum geht es mir so dreckig?") von 1971, als Single bereits 1970 erschienen.
  • "Halt dich an deiner Liebe fest", aus dem Doppelalbum "Wenn die Nacht am tiefsten..." von 1975, in dem Ton Steine Scherben ihre romantische Seite zeigen.
  • "Junimond", das zwar erst auf einem Rio-Reiser-Soloalbum 1985 veröffentlicht wurde, aber noch während der Ton-Steine-Scherben-Zeit entstand und auch damals schon gespielt wurde.

Cover-Versionen von Ton Steine Scherben-Liedern wurden bereits von zahlreichen Bands erstellt, darunter TotenmonD, Cochise, Klaus Lage, Marianne Rosenberg, Rocko Schamoni, Echt, Slime, Alan Woerner, Freundeskreis, Xavier Naidoo, Wir sind Helden, ZSK, Die Ärzte und Joachim Witt. Viele Coverversionen sind auf dem Rio-Reiser-"Familienalbum" zu finden, das 2003 erschien, dem Sampler "Viva L'Anarchia" (1997) oder "Keine Macht für Niemand - Die Erben der Scherben" (2001), auf dem unter anderem Nina Hagen zu hören ist.

Diskografie (ohne Singles)

  • Warum geht es mir so dreckig? (1971)
  • Keine Macht für Niemand (1972) - Doppel-LP
  • Herr Fressack und die Bremer Stadtmusikanten (1973) Ton Steine Scherben & Hoffmanns Comic Teater - Hörspiel
  • Wenn die Nacht am Tiefsten... (1975) - Doppel-LP
  • Teufel hast du Wind (1976) Ton Steine Scherben & Dietmar Roberg - Hörspiel
  • Mannstoll (1977) Ton Steine Scherben & Brühwarm
  • Entartet (1979) Ton Steine Scherben & Brühwarm
  • IV (1981) - Doppel-LP
  • Scherben (1983)
  • Auswahl I (1970-1981) (1983)
  • In Berlin 84 (live) (1985)
  • Live II (1996)
  • 18 Songs aus 15 Jahren (2004)

Literatur

  • Nishen, Dirk [Hrsg.] (1985): Ton Steine Scherben: Geschichten, Noten, Texte und Fotos aus 15 Jahren. Berlin. ISBN 3-88940-106-6
  • Sichtermann, Kai u. Johler, Jens u. Stahl, Christian (2003): Keine Macht für Niemand: Die Geschichte der Ton Steine Scherben. Berlin. ISBN 3-89602-468-X
  • Reiser, Rio u. Eyber, Hannes (1997): König von Deutschland. Erinnerungen an Ton Steine Scherben und mehr. Erzählt von ihm selbst und Hannes Eyber. Köln. ISBN 3-462-02589-9
  • Wolfgang Seidel: Scherben. Musik und Politik - Die Wirkung der Ton Steine Scherben. Mainz: Ventil Verlag, 2005. ISBN 3-931555-94-1.

Filme

  • Live Mitschnitt auf ARTE. Rio Reiser und Ton Steine Scherben. Das Leben die Schulden der Tod Kontakt
  • Land in Sicht. DVD 2003. Regie: Christian Wagner.