Die Wurzelrassen (engl. root races) sind ein Begriff aus der esoterischen Weltanschauung Helena Petrovna Blavatskys (1831–1891), der modernen oder anglo-indischen Theosophie. Blavatsky benannte damit innerhalb ihres eigenen Geschichtsbildes bestimmte Epochen der menschheitlichen Entwicklung. Mit der damals in der Anthropologie gültigen Theorie der Menschenrassen ist Blavatskys Rassenbegriff nur entfernt vergleichbar; die meisten der von ihr beschriebenen Rassen kamen in der Anthropologie nicht vor.
Im deutschsprachigen Raum wurden diese Ansichten vor allem durch Rudolf Steiner (1861–1925), den Begründer der Anthroposophie, bekannt, der sie zeitweilig übernahm und verbreitete.
Helena Petrovna Blavatsky
Der Begriff der Wurzelrasse stammt aus dem 1888 erschienenen Hauptwerk Blavatskys, der Secret Doctrine (deutscher Titel: Die Geheimlehre). Blavatsky bezeichnete damit sieben Epochen der menschlichen Entwicklung auf der Erde, in denen die „siebenfältige Natur“ des Menschen entfaltet werde. Die aktuelle (fünfte) Epoche – seit dem Ende der „atlantischen“ vor rund einer Million Jahren – nannte sie die „arische“ Wurzelrasse. Jede Wurzelrasse wird bei ihr wiederum in sieben Abschnitte, die sogenannten Unterrassen, unterteilt.
Rudolf Steiner
Im deutschen Sprachraum wurde die Lehre von den Wurzelrassen vor allem durch Rudolf Steiner verbreitet, der von 1902 bis 1913 die deutsche Sektion der von Blavatsky gegründeten Theosophischen Gesellschaft leitete und in seiner Aufsatz-Serie Aus der Akasha-Chronik (1904–1908) sowie in Vorträgen Blavatskys Lehren aufgriff, wobei er einige Jahre lang auch ihre Terminologie weitgehend übernahm. Steiner legte jedoch Wert darauf, die Theosophie – ab 1913 nannte er sie Anthroposophie – nicht als Epigone Blavatskys, sondern auf der Grundlage eigener „Geistesforschung“ eigenverantwortlich zu vertreten. In seinen späteren Publikationen tauchen die „Wurzelrassen“ nicht mehr auf. Steiner führte an ihrer Stelle die aus heutiger Sicht weniger anstößigen Begriffe „Epoche“, „Hauptzeitraum“ bzw. „Zeitalter“ ein. Blavatskys „Unterrassen“, welche die Wurzelrassen untergliedern sollen, nannte er „Kulturepochen“, „Kulturperioden“ oder „Kulturzeitalter“.[1]
Jeder der von ihm beschriebenen Zeiträume habe laut Steiner bestimmte Entwicklungsaufgaben, wobei er auch Rassen und Völker nannte, welchen der Hauptteil dieser Aufgaben zukomme. So obliege es beispielsweise den Ariern – unter denen er anders als die moderne Ethnologie und anders auch als beispielsweise die Nationalsozialisten – „unsere gegenwärtige Kulturmenschheit“ verstand, „die Denkkraft [...] zu entwickeln“.[2] Später differenzierte er diese Lehre noch weiter aus, indem er einzelnen Völkern bestimmte „Missionen“ zuordnete.[3]
Die Koppelung von Entwicklungszeiträumen an einzelne Rassen als Träger der Kulturen ließ er für vergangene Zeiträume gelten. Für zukünftige wies er sie zurück. Er betonte, dass die zunehmende Individualisierung des Menschen sich so weiter entwickeln werde, dass in Zukunft keine Reste von biologischen Bluts- und Rasse-Zusammenhängen mehr vorhanden seien.[4] An anderer Stelle ging er so weit, dem Begriff Rasse im Sinne einer festen Zugehörigkeit des einzelnen Menschen zu einer abgegrenzten Gruppe schon für die Gegenwart die Berechtigung abzusprechen. Was mit ihm heute noch verknüpft sei, seien Überbleibsel prähistorischer Zeiten.[5]
Siehe auch: Anthroposophie#Kosmische Evolution, Menschheitsentwicklung und Kulturepochen
Kritik und Rezeption
Blavatskys zyklisches Geschichtsbild beinhaltete eine Abwertung besonders der Lemurier, deren Rassenmischung nicht-menschliche Ungeheuer hervorgebracht habe.[6] Dieser (implizite) Rassismus wurde etwa in der Theozoologie eines Jörg Lanz von Liebenfels (1905) sowie später durch James H. Madole und seine National Renaissance Party (1960er/70er Jahre) in den USA aufgegriffen und gesteigert.[7]
Siehe auch: Anthroposophie#Rassismusvorwürfe
Belege
- ↑ So im Kapitel „Die Weltentwickelung und der Mensch“ in seiner Geheimwissenschaft im Umriss (1910)
- ↑ Rudolf Steiner: Aus der Akasha-Chronik. Dornach 1986, S. 32f
- ↑ Rudolf Steiner: Die Mission einzelner Volksseelen, Vortragszyklus von 1910. 5. Auflage, Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1982, ISBN 3-7274-1210-0
- ↑ „Es wird dahin kommen, dass alle Rassen- und Stammeszusammenhänge wirklich aufhören. Der Mensch wird vom Menschen immer verschiedener werden. Die Zusammengehörigkeit wird nicht mehr durch das gemeinsame Blut vorhanden sein, sondern durch das, was Seele an Seele bindet. Das ist der Gang der Menschheitsentwickelung.“ Rudolf Steiner: Die Theosophie des Rosenkreuzers, Vortragszyklus von 1907. 7. Auflage, Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1985, ISBN 3-7274-0990-8, S. 129
- ↑ „Deshalb sprechen wir auch von Kulturzeitaltern im Gegensatz zu Rassen. Alles das, was etwa verknüpft ist mit dem Rassenbegriff, ist noch Überbleibsel des Zeitraumes, der dem unseren vorangegangen ist, des atlantischen. Wir leben im Zeitraum der Kulturepochen. (...) Heute hat schon der Kulturbegriff den Rassenbegriff abgelöst.“ Rudolf Steiner: Die Apokalypse des Johannes, Vortragszyklus von 1908. 7. Auflage, Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1985, ISBN 3-7274-1040-X, S. 69
- ↑ Nicholas Goodrick-Clarke: The Occult Roots of Nazism. New York University Press 1992, S. 31, 21
- ↑ Nicholas Goodrick-Clarke: Im Schatten der Schwarzen Sonne. Arische Kulte, esoterischer Nationalsozialismus und die Politik der Abgrenzung. Marix, Wiesbaden 2009, ISBN 978-3-86539-185-8, S. 154–183
Weblinks
- Rudolf Steiner: Aus der Akasha-Chronik (als PDF-Datei)
- H.P. Blavatsky: Die Geheimlehre, Band II: Anthropogenesis (PDF, 4,8 MB)
- Peter Bierl: Die Wurzelrassen-Lehre als ein zentrales Element anthroposophischer Weltanschauung
- Bund der Freien Waldorfschulen: Die Überwindung des Rassismus durch die Anthroposophie (PDF; 43 kB)