Mathematischer Konstruktivismus
Die konstruktive Mathematik beschäftigt sich mit der Angabe von Algorithmen zur Berechnung von Objekten. Siehe konstruktiver Beweis. Der mathematische Konstruktivismus ist eine Richtung der Philosophie der Mathematik, die den Standpunkt vertritt, der Existenzbegriff solle auf berechenbare Objekte beschränkt werden.
Formal betrachtet handelt es sich um ein axiomatisches System, das weniger expressiv als die Mathematik. Jedoch ist es vollständig, widerspruchsfrei und konsistent mit ihr. Dies bedeutet, jeder gültige Beweis der konstruktiven Mathematik ist auch ein gültiger Beweis der Mathematik, aber nicht umgekehrt. Während die Mathematik auf der Betrachtung von Mengen aufbaut, basiert die konstruktivistische Mathematik auf der Betrachtung von berechenbaren Mengen.
Die konstruktive Mathematik definiert viele Begriffe anders als die Mathematik. (Dieser Artikel verwendet die mathematischen Bezeichnungen, da sie allgemein anerkannt sind. Weiterhin überschneiden sich die konstruktivistischen Bezeichnungen mit den Namen gängiger, davon unterschiedlicher mathematischer Konzepte und werden daher schnell missverstanden.)
konstruktivistische Bezeichnung |
mathematische Bezeichnung |
---|---|
Existenz/ Konstruierbarkeit |
Berechenbarkeit |
Menge | berechenbare Menge |
Folge | berechenbare Folge |
aktual/aktuell unendlich | nicht berechenbar (folglich auch unendlich) |
potentiell unendlich | unendlich, aber berechenbar |
Reelle Zahlen | geeignet zu wählende, berechenbare Teilmenge der berechenbaren Zahlen |
Reelle Zahl | ein Element der gerade betrachteten Teilmenge |
Konstruktionsmittel | Algorithmus |
Mathematik | berechenbare Mathematik |
Metamathematik | Mathematik |
indefiniter Quantor | Quantor über die Elemente einer nicht berechenbaren Menge |
Konstruktivismus wird oft verwechselt mit Intuitionismus, jedoch ist der Intuitionismus nur eine von mehreren Arten des Konstruktivismus.
Konstruktivistische Mathematik
Die konstruktivistische Mathematik benutzt die konstruktivistische Logik, bei der Wahrheit in enger Verbindung mit Beweisbarkeit steht. Um P∨Q konstruktiv zu beweisen, wird eins (oder beide) von P und Q bewiesen. Um konstruktiv zu beweisen, wird ein zusammen mit einem Beweis für angegeben. Um konstruktiv zu beweisen, wird ein Algorithmus angegeben, der für jedes einen Beweis von berechnet.
Im Konstruktivismus wird auch auf die Benutzung unendlicher Objekte (wie unendliche Mengen und Folgen) verzichtet. Die unendlichen Objekte, die berechenbar sind, werden als Algorithmus repräsentiert. Im Gegensatz zum Ultrafinitismus sind die Algorithmen jedoch nur auf Endlichkeit beschränkt, nicht auf eine maximale Länge.
Beispiele aus der Analysis
Eine mögliche Definition der reellen Zahlen in der Analysis benutzt Paare von Cauchy-Folgen der rationalen Zahlen. Diese Konstruktion ist jedoch nicht hinreichend in der konstruktivistischen Mathematik, da die Folgen unendlich sind.
Stattdessen können einige reelle Zahlen als Algorithmus repräsentiert werden, der aus einer positiven natürlichen Zahl ein Paar rationale Zahlen berechnet, so dass
und für größere das Intervall kleiner wird sowie die Schnittmenge der ersten Intervalle nicht leer ist. kann benutzt werden um eine beliebig genaue rationale Annäherung an die dadurch repräsentierte reelle Zahl zu berechnen.
Analog kann die reelle Zahl durch den Algorithmus repräsentiert werden, der für alle die größte natürliche Zahl berechnet so dass und dann das Paar ausgibt.
Entsprechend der Definition der reellen Zahlen lassen sich mit der zusätzlichen Einschränkung der Berechenbarkeit der Cauchy-Folgen die berechenbaren Zahlen definieren. Diese Zahlen bilden die Grundlage für die konstruktivistische Analysis und Algebra. Da die Menge der berechenbaren Zahlen selbst jedoch keine berechenbare Menge ist, betrachten Konstruktivisten immer nur berechenbare Teilmengen davon.
Da jeder Algorithmus notwendigerweise eine endliche Folge von Anweisungen aus einer endlichen Menge ist, gibt es eine bijektive Funktion . Also sind die berechenbaren Zahlen eine abzählbare Menge. Aus Cantors Diagonalbeweis folgt, dass die berechenbaren Zahlen eine niedrigere Kardinalität haben als die Menge der reellen Zahlen und somit eine echte Teilmenge von ihnen sind. Konstruktivisten vertreten den Standpunkt, diese Teilmenge enthielte alle reellen Zahlen, die man für Anwendungen brauche.
Standpunkt der Mathematiker
Traditionell sind Mathematiker misstrauisch, wenn nicht sogar kritisch gegenüber dem mathematischen Konstruktivismus eingestellt, größtenteils wegen der Einschränkungen, welche die konstruktive Analysis fordert. Diese Ansichten wurden von David Hilbert im Jahr 1928 deutlich in Die Grundlagen der Mathematik zur Sprache gebracht, "Den Mathematikern den Satz vom ausgeschlossenen Dritten wegzunehmen wäre das gleiche, wie dem Astronomen das Teleskop oder dem Boxer die Benutzung seiner Fäuste vorzuschreiben." [Rückübersetzung aus dem englischen] (Der Satz vom ausgeschlossenen Dritten lässt sich in der Konstruktivistischen Logik nicht herleiten; dadurch ist die konstruktivistische Mathematik zwar widerspruchsfrei, enthält aber nicht den Satzbestand der Mathematik.)
Errett Bishop versuchte 1967 in seiner Arbeit Foundations of Constructive Analysis diese Zweifel durch die Entwicklung eines großen Teils der Analysis nach konstruktivistischen Prinzipien zu entkräften. Jedoch sind nicht alle Mathematiker der Meinung, dass Bishop damit erfolgreich war, da das Buch notwendigerweise komplizierter war als klassische Texte über Analysis. In Deutschland versuchte Paul Lorenzen zwischen 1950 und 1990 eine operativ-konstruktive Mathematik einschließlich Analysis und Algebra zu entwickeln.
Unabhängig davon sehen jedoch nahezu alle Mathematiker keine Notwendigkeit, sich auf konstruktivistische Verfahren zu beschränken, selbst wenn dies möglich wäre.
Konstruktivistische Mathematiker
- Leopold Kronecker (Vorläufer, Ablehnung reeller Zahlen)
- L.E.J. Brouwer (Begründer des Intuitionismus)
- Paul Lorenzen (Hauptvertreter in Europa)
- Errett Bishop (englischsprachiger Hauptvertreter)
Siehe auch
- Mathematischer Intuitionismus
- Berechenbarkeit
- Berechenbare Zahlen
- Finitismus
- Ultrafinitismus
Weblinks
Konstruktivistische Literatur
- Lorenzen, Paul: Einführung in die operative Logik und Mathematik, Berlin/Göttingen/Heidelberg 1955
- Lorenzen, Paul: Formale Logik, Berlin 1958
- Lorenzen, Paul: Die Entstehung der exakten Wissenschaften, Berlin/Göttingen/Heidelberg 1960
- Lorenzen, Paul: Metamathematik, Mannheim 1962
- Lorenzen, Paul: Differential und Integral. Eine konstruktive Einführung in die klassische Analysis, Frankfurt 1965
- Lorenzen, Paul: Konstruktive Wissenschaftstheorie, Frankfurt 1974
- Lorenz, K; Lorenzen, Paul: Dialogische Logik, Darmstadt 1978
- Lorenzen, Paul: Lehrbuch der konstruktiven Wissenschaftstheorie, Zürich 1987, Stuttgart 2000 ISBN 3-476-01784-2
- Lorenzen, Paul: Elementargeometrie als Fundament der Analytischen Geometrie, Mannheim/Zürich/Wien 1983 ISBN 3-411-00400-2