Studentenverbindungen in der DDR

Geschichte studentischer Verbindungen in der Deutschen Demokratischen Republik
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DDR-Studentenverbindungen waren Studentenverbindungen, die während der Zeit der DDR an den Universitäten der DDR, zum Beispiel in Jena, Leipzig, Erfurt, Tharandt, Dresden, Freiberg, Magdeburg und Greifswald, gegründet worden sind. Nur in Ostberlin und in Rostock scheint es zu DDR-Zeiten keine derartigen Verbindungen gegeben zu haben.

Während unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs die traditionellen Studentenverbindungen als Hort der bürgerlichen Gesellschaftsschicht und damit des Klassenfeindes galten und verboten, bzw. in den Westen abgedrängt wurden, erkannte die SED-Führung spätestens in den 1980er Jahren zumindest in der Geschichte der politisch aktiven und revolutionären Burschenschaften gewisse „progressive Traditionslinien“, die von den „reaktionären Traditionslinien“ losgelöst und gesondert bewahrt werden könnten.

Diese teilweise ideologische Rückendeckung ermöglichte es einer Gruppe von wenigen neugegründeten Verbindungen bis zur Wende in der DDR zu überleben. Heute sind die meisten dieser Verbindungen in der Rudelsburger Allianz zusammengeschlossen

Sowjetische Besatzungszone

Die Studentenverbindungen stellten für die sowjetischen Besatzer und die deutsche kommunistische Führungsschicht der Nachkriegszeit - genauso wie zuvor schon für die Nationalsozialisten - eine „ewiggestrige“, konservative Gruppierung dar, die reaktionäre Ziele verfolgte und mit der keine Revolution zu machen sei. Deshalb hatten bereits die Nationalsozialisten alle Studentenverbindungen verboten und ihre Mitglieder in Kameradschaften innerhalb des Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbundes eingegliedert. Dabei gelangen aber an einigen Orten, zum Beispiel in Leipzig, heimliche und im Rahmen der Kameradschaft getarnte Wiedergründungen, so dass gegen Kriegsende durchaus an einigen Orten verbindungsstudentische Strukturen an den Universitäten bestanden.

Doch schon bald, nachdem die sowjetische Verwaltung ihre Arbeit aufgenommen hatte, war ersichtlich, dass eine Existenz auf dem Boden der sowjetischen Besatzungszone nicht möglich sein werde. Die hier ansässigen Verbindungen versuchten, möglichst viel an Material und historischen Erinnerungsstücken in den Westen zu schaffen und an einer Universität in der neu entstehenden Bundesrepublik eine neue Existenz aufzubauen. Die Berliner Verbindungen verlegten sich an die neugegründete Freie Universität Berlin oder an die Technische Universität Berlin im Westen der Stadt.

Die bereits im Berufsleben stehenden Mitglieder („Alte Herren“), die nicht in den Westen gingen, verhielten sich bedeckt und zeigten ihre Sympathie für das traditionelle Studentenwesen nicht in der Öffentlichkeit. Die im Westen wiedergegründeten Verbindungen hielten mit den „Alten Herren“ in der DDR nur auf sehr diskrete Weise Kontakt. So verschwand die verbindungsstudentische Kultur auf dem Gebiet der DDR innerhalb weniger Jahre völlig aus dem Bewusstsein der Bevölkerung.

DDR: Abkehr von der bürgerlichen Tradition

Interessanterweise sind bereits in der Frühphase der DDR ehemalige Verbindungsstudenten in der Führungselite des neuen Staates vertreten.

So war Heinrich Homann, von 1972 bis 1989 Vorsitzender der NDPD, in den Jahren 1960 bis 1989 stellvertretender Vorsitzender des Staatsrates, Mitglied beim Corps Thuringia Jena und beim Corps Brunsviga Göttingen.

Reinhold Lobedanz, Mitglied beim Corps Lusatia Leipzig, war von 1949 bis zu seinem Tode im Jahre 1955 Präsident der Länderkammer der DDR.

Sogar über Karl-Eduard von Schnitzler, Chefkommentator des DDR-Fernsehens und Moderator der Fernsehsendung „Der schwarze Kanal“, gibt es das – allerdings unbestätigte - Gerücht, er sei in den 1930er Jahren in Freiburg im Breisgau Mitglied einer schlagenden Verbindung gewesen.

Dies wurde in der DDR natürlich nicht thematisiert.

Bei den Studenten im Westen war der Bezug zu den östlichen Landesteilen nicht abgebrochen. Besonders enge Beziehungen bestanden bei den „Flüchtlings“-Verbindungen, den Verbindungen in Berlin oder bei den Verbindungen an den Universitäten in Grenznähe, wie Göttingen. So ist von Verbindungsstudenten aus Berlin bekannt, dass sie Fluchthilfe-Aktionen und Tunnelgrabungen unter der Mauer durchführten. Teilweise wurden Freunde und Verwandte mit Medikamenten und Lebensmitteln versorgt. Ein Corpsstudent wurde vor ein westdeutsches Gericht gestellt, weil er nach einer geplatzten Fluchthilfe-Aktion einen DDR-Grenzer bei einem Feuergefecht erschossen haben soll. Göttinger Verbindungsstudenten leisteten über Jahrzehnte ehrenamtliche Hilfe im wenige Kilometer entfernten Grenzdurchgangslager Friedland.

An den Universitäten in der DDR und in der jüngeren Bevölkerung verschwand das Wissen über die verbindungsstudentischen Traditionen gründlich. Nach der offiziellen Doktrin der SED-Führung war die DDR jetzt ein „Arbeiter- und Bauernstaat“ und die Universitäten standen endlich den Kindern der werktätigen Bevölkerung offen. Dies wurde als Sieg über das reiche Bürgertum gefeiert, wobei das Verbindungsstudententum als Symbol dieser verhassten Gesellschaftsschicht galt.

Deutlich wurde diese Haltung anhand einer „Kantate“, die auf Geheiß von Walter Ulbricht, dem SED-Generalsekretär und Staatsratsvorsitzenden der DDR, am 19. Oktober 1959 anlässlich des 550jährigen Bestehens der Universität Leipzig vorgetragen wurde:

Wo gestern nur Söhne der Reichen gesessen,
Wo gestern blasierte, zerschnittene Fressen
Vom Dunst des letzten Kneipens umweht,
Saß lernend der Bauer, da saß der Prolet.
Die Köchin begann jetzt, den Staat zu regieren
Und schickte den Sohn und die Tochter studieren,
So, wie es Wladimir Iljitsch geheißen:
Die Macht und die Bildung an sich zu reißen.
Es siegte bei dieser letzten Mensur
Die proletarische Diktatur.

Erneute Hinwendung zur studentischen Tradition

Erschließung studentischen Liedgutes

Doch bereits in den frühen 60er Jahren gab es erste zaghafte Versuche von Studenten in der DDR, etwas über die Traditionen zu erfahren. Hauptsächliches Interesse galt am Anfang dem alten studentischen Liedgut. Literatur stand nicht zur Verfügung und musste heimlich von privaten Dachböden zusammengesammelt werden. So kam auch mancher Couleurgegenstand ans Tageslicht, mit dem die Studenten der damaligen Zeit noch nicht viel anfangen konnten. Die wenigen alten Kommersbücher wurden dazu teilweise per Hand abgeschrieben. Kontakte zu bestehenden Verbindungen in der Bundesrepublik bestanden nicht und wurden offensichtlich zu der Zeit auch nicht gesucht.

Besonders in den Evangelischen und Katholischen Studenten-Gemeinden (ESG/KSG), wo altes, nicht-sozialistisches Liedgut gepflegt werden konnte, wurden zunehmend traditionelle studentische Lieder gesungen. Teilweise wurde auch versucht, die Lieder in öffentliche Veranstaltungen hineinzutragen, was aber schwierig blieb und nicht von allen Seiten gutgeheißen wurde.

Auch wurde die etwaige Entwicklung von eigenständigen studentischen Traditionen wirksam verhindert, da die sozialistische Jugend in der Freien Deutschen Jugend (FDJ) organisiert und damit von Partei und Staat kontrolliert sein sollte. Der Aufbau selbstverwalteter studentischer Strukturen stand dem Führungsanspruch der Partei im Wege.

Erwerb von Couleurgegenständen

Zeitzeugen berichten, dass interessierte Studenten begannen, durch verschlüsselte Zeitungsanzeigen alte Couleurgegenstände zusammenzusuchen. Auch an der Leihgarderobe des Dresdner Schauspielhauses kam eine Studentenmütze zum Vorschein, die von Näherinnen einer örtlichen Textilfabrik gegen Entgelt und Spenden von Westkaffee in größerer Zahl kopiert wurde.

Das Erscheinungsbild der Studenten während der heimlichen Zusammenkünfte glich zu der Zeit auch wohl mehr einem Verkleiden in historischen Kostümen und einem Nachspielen der Traditionen, zumal das Couleur noch wie auf den Dachböden gefunden kunterbunt gemischt getragen beziehungsweise laienhaft zusammengenäht wurde.

Trinken und Feiern

Neben dem Singen der alten Lieder wurden auch bald die alten Bräuche beim Trinken und Feiern nachgeahmt, soweit das auf dem Kenntnisstand der damaligen Zeit möglich war. Die ersten Kommerse in Couleur fanden dann auch auf den Studentenbuden oder in abgelegenen Waldhütten statt. An ein Auftreten in öffentlichen Lokalen war noch nicht zu denken.

Erste Gründungen

Während es in den 60er und 70er Jahren bei einer allgemeinen Pflege studentischer Traditionen bleib, wurden zu Beginn der 80er Jahre die ersten Verbindungen mit traditionellen Namen und unter zunehmender Verwendung traditioneller Identitätssymbole gegründet, alles natürlich heimlich. Ein Rückgriff auf früher an den betreffenden Hochschulorten beheimateten Verbindungen wurde nicht gemacht, die Informationen über die früheren Verhältnisse standen nur bruchstückhaft zur Verfügung. Auch bestanden in der ersten Hälfte der 80er Jahre noch keine Kontakte zu den „Flüchtlings“-Verbindungen oder deren Dachverbände im Westen. Auch hatten offensichtlich nie Kontakte zu den in der DDR lebenden Alten Herren früher dort ansässiger Verbindungen bestanden, die die Tradition hätten vermitteln können.

Im Jahre 1985 veröffentlichte der DDR-Autor Klaus-Dieter Stefan in Ostberlin noch sein Taschenbuch Blind wie zu Kaisers Zeiten - Säbel, Seidel, Schmisse: Neue "Burschenherrlichkeit", das im Klappentext verlauten ließ:

Sie sind keine Ritter von trauriger Gestalt im Kampf gegen Windmühlen. Sie sind nicht tragisch, nicht komisch, sondern kreuzgefährlich — wenn Widerstand sie nicht hindert. Sie saufen, grölen und fechten wie in alten Zeiten und schlagen sich durch bis ins Zentrum der Macht. Von der Mensur zum Minister oder Monopolisten, stets auf Kreuzzug gegen Fortschritt und Frieden. Sie sind Relikt und Realität in einem und sorgen für Schlagzeilen wie selten zuvor — Burschenschaften und Korporationen in der BRD.

Dem Autor und der SED-Führung waren die bisherigen Entwicklungen in der DDR wohl entgangen oder sie wollten mit dieser Veröffentlichung noch gegensteuern, was aber offensichtlich nicht gelang. Dazu hatten sich im Untergrund bereits die Strukturen zu sehr verfestigt. Schon im nächsten Jahr wagten sich die Vertreter der neuen DDR-Verbindungen an überregionale Treffen und riskierten ein Auffliegen ihrer Bestrebungen.

1986

Am 29. Mai 1986 fand ein erstes offizielles Zusammentreffen von Vertretern verschiedener Verbindungen aus Dresden, Erfurt, Freiberg, Halle, Jena, Leipzig und Magdeburg in Schmiedeberg im Gasthaus "Zur Schmiede" statt.

In diesem Jahr erschien auch die erste Auflage des ersten in der DDR publizierten Studentenliederbuchs, herausgegeben vom Jenaer Universitäts- und Studentenhistoriker Günter Steiger. Die Liedersammlung Gaudeamus igitur. Laßt uns fröhlich sein. Historische Studentenlieder erlebte bis 1989 insgesamt drei Auflagen.

1987

Datei:DDR-Briefmarke Wartburgfest.jpg
DDR-Briefmarke: Mit der Vereinnahmung der Tradition des Wartburgfestes der studentischen Burschenschaften von 1817 versuchte die SED-Führung die Geschichte des deutschen Freiheitskampfes in ihrem Sinne umzuschreiben.

Am 20. Juni 1987 richtete die Verbindung (später K.D.St.V.) Salana Jenensis den ersten „Allianzkommers“ der DDR-Studentenverbindungen auf der Rudelsburg aus. Bei dieser Veranstaltung waren nur 19 Teilnehmer anwesend, die teilweise mit Flößen und in Zinkbadewannen auf der Saale angereist waren. Sie folgten bei der Saalefahrt einer von ihnen entdeckten Tradition (auf alten Stichen ersichtlich) Jenenser Studenten, welche gern auf der Saale fuhren. Dieser Kommers war die erste offizielle, bei der Polizei angemeldete traditionelle Studentenveranstaltung in der Geschichte der DDR.

Die staatlichen Stellen reagierten: Im Herbst 1987 wollte die FDJ zum ersten Mal seit 20 Jahren wieder das Jubiläum des Wartburgfestes von 1817 begehen, auf dem Burschenschafter zum ersten Mal einer breiten Öffentlichkeit ihre Ideen von Freiheit, Bürgerrechten und deutscher Einheit präsentierten.

Doch bereits am Wochenende vor der FDJ-Jubiläumsveranstaltung, vom 18. bis zum 20. Oktober 1987, dem eigentlichen Jubiläumsdatum, feierten mehrere DDR-Studentenverbindungen auf Einladung der Salana Jenensis einen Festkommers in Eisenach. Der Kneiport lag auf dem Wartenberg, im Vereinslokal der Kleingartenanlage "Am Ziegelfeld". Der Kommers wurde von einem Einsatzkommando der Deutschen Volkspolizei zeitweise unterbrochen, konnte aber dann doch weitergeführt werden. Am folgenden Tag zogen die Teilnehmer in Couleur auf die Wartburg und anschließend zum Burschenschaftsdenkmal. Dieses Denkmal konnte erstmals von den Teilnehmern betreten werden. Auch hier tauchte Volkspolizei auf.

 
Wartburg um 1900

Die offizielle Jubiläumsveranstaltung der FDJ wurde eine Woche später in typischer DDR-Manier im Blauhemd der FDJ durchgeführt, im Umfeld wurde aber von mehreren Seiten versucht, traditionelle Lieder und altes Couleur in der Öffentlichkeit zu zeigen, was von den Offiziellen auch zu einem gewissen Grad toleriert wurde.

In diesem Jahr gab der Zentralrat der FDJ im Verlag Junge Welt in Ostberlin das FDJ-Studentenliederbuch heraus, das linientreue, sozialistische Lieder mit traditionellen Kommersliedern in einem Band vereinte. Diese Ausgabe wäre ohne die Vorarbeit des Jenaer Studentenhistorikers Günter Steiger nicht denkbar gewesen.

1988

Im Januar 1988 wurde seitens der SED-Führung der Kulturbund-Freundeskreises "Studentische Kulturgeschichte" gegründet, der aber nur bis Mai 1989 bestand. Damit sollte sichergestellt werden, dass die neuen Tendenzen unter der Oberhoheit der staatlichen Stellen blieben. Die Entstehung einer Selbstverwaltung - wie bei Studentenverbindungen seit jeher Grundprinzip - sollte verhindert oder rückgängig gemacht werden. Zeitzeugen berichten, dass diese Vereinnahmung nicht ausreichend gelang, denn gerade diese traditionelle Selbstbestimmung der Verbindungen war der Grund für ihre Neugründung in der DDR.

Der zweite Allianzkommers fand im Jahre 1988 in der Burg Saaleck statt, da die Gaststätte auf der Rudelsburg unerwarteter Weise geschlossen hatte. Manche Quellen bringen die Vermutung zum Ausdruck, dass offizielle staatliche Stellen damit versucht hätten, die Veranstaltung platzen zu lassen, ohne sie offiziell verbieten zu müssen.

1989

Der dritte Kommers im Jahre 1989, an dem über 100 Personen aus Ost und West teilnahmen, wurde sogar in der regierungskonformen Presse angekündigt. So schrieb die Zeitung "Der Morgen", Organ der Blockpartei LDPD, Lokalausgabe Halle, am 19. Mai 1989:

Auf der Rudelsburg
Echo auf "Gaudeamus"-Ruf: Interesse an Tradition
Unter der Überschrift "'Gaudeamus' mit bunten Kappen" konnten wir unseren Lesern am 20. Dezember 1988 aus Halle von der Gründung einer dort der Hochschulgruppe des Kulturbundes zugeordneten Arbeitsgemeinschaft "Studentische Kulturgeschichte" berichten, deren Absicht es ist, die fortschrittlichen Traditionen studentischer Freizeitgestaltung, wie sie etwa an das Wartburgtreffen der Studenten 1817 erinnern, zu pflegen. Das Beispiel in Halle hat Schule gemacht: Im ständigen Kontakt mit FDJ-Studentenklubs der halleschen Martin-Luther-Universität konnten erste Ergebnisse der Belebung studentischer Kulturgeschichte erzielt werden, wozu u.a. auch eine Sammlung der Attribute früherer akademischer Geselligkeit gehören. Inzwischen haben sich aus weiteren Universitäts- und Hochschulstädten in der DDR Kommilitonen zusammengefunden, die ebenfalls Interesse an einer solchen Arbeit im Rahmen des Kulturbundes der DDR haben. Am 20./21. Mai holen die Kommersbrüder wieder ihre bunten Mützen aus dem Regal und treffen sich auf der Rudelsburg zu einer Wanderung nach Jena. Das ist die Gründung einer Dachorganisation im Rahmen der Kulturbund-Arbeit, die durch Gedankenaustausch Beiträge zur Geschichte der Universitäten und Hochschulen in der DDR leisten wird, vorgesehen. ...

Nach dieser offiziellen Darstellung ging die Initiative von der FDJ aus, die nach "Interessenten" suchte, die mitmachen wollten. Der Anklang, den diese Idee fand, wurde als Erfolg der FDJ gepriesen, obwohl sie doch als Protest gegen den "Einheitsbrei" der regierungskonformen Jugendorganisation ihren Anfang genommen hatte. Diese offizielle Version machte auch die Westmedien misstrauisch, die in dem Prozess eine Maßnahme der SED-Führung sahen, deutsche Geschichte im Sinne des Sozialismus umzufärben und sich die Traditionen einzuverleiben.

So schrieb "Die Welt" am 25. Mai 1989, wenige Tage nach dem dritten Allianzkommers:

SED will mit Burschenschaften werben
Die thüringische Rudelsburg, historische akademische Versammlungsstätte im Dreieck Naumburg-Weimar-Jena, hatte eine denkwürdige Gesellschaft in ihren Mauern. Studenten aus Leipzig, Halle, Jena und anderen Hochschulorten in der "DDR" fanden sich zu einem vorbereitenden Gründungskommers hoch über der Saale ein. Unter den Zaungästen waren Aufpasser des Staatssicherheitsdienstes, aber der erste "Allianzkommers Rudelsburg 1989" war vorschriftsmäßig bei der Polizei in Naumburg angemeldet worden.
Mit bunten Mützen und Bändern, wie sie die Studenten vor dem Krieg auch in Mitteldeutschland trugen, zogen über einhundert Angehörige neuer "DDR"-Verbindungen auf die Burg. ...
In der "DDR" bestehen bereits etwa zehn Korporationen, die allerdings nicht mit den in der Bundesrepublik Deutschland existierenden Studentenverbindungen vergleichbar sind. Die neuen "DDR"-Verbindungen setzen auch nicht die Tradition ehemaliger mitteldeutscher Korporationen fort. Ihre Gründung wurde nur unter der Auflage gestattet, daß sie sich in die Arbeitsgemeinschaften für studentenhistorische Kulturgeschichte bei den jeweiligen Hochschulkreisleitungen des Kulturbundes und in die Studentenklubs der Universitäten eingliedern.
Die SED will mit der Akzeptanz kontrollierter burschenschaftlicher Geschichte unter der akademischen Jugend für ihre Politik werben. Deshalb überraschte es in den Universitäten nicht, daß die Zeitung der Liberaldemokratischen Partei in ihrem Lokalteil in Halle am 19. Mai das Treffen auf der Rudelsburg ankündigte. Die Zeitung hatte dem Vernehmen nach einen entsprechenden Hinweis von SED-Stellen erhalten, es sei opportun, die Veranstaltung zu publizieren: Es werde eine Dachorganisation gegründet. Dazu kam es allerdings nicht bei dem Kommers auf der Rudelsburg, der von dem Vertreter der Leipziger Verbindung "Saxonia" geschlagen wurde. Unter den Studenten wurde nämlich die Absicht der SED vermutet, eine Dachorganisation sofort mit V-Leuten zu unterwandern. Deshalb wurde eine sorgfältige Personenauswahl verlangt und die "Konstituierung" der "Allianz" auf den Juni 1990 vertagt - zugleich 175. Wiederkehr des Gründungsjahres der Ur-Burschenschaft Jena, die auf ihre Farben die Beseitigung des Partikularismus in Deutschland geschrieben hatte.
Die neuen Verbindungen wollen sich unter Wahrung der fortschrittlichen Traditionen deutscher Geschichte für die Gestaltung der Zukunft in Europa einsetzen. Das betonte auch der Festredner, der den Jenaer Philosophen Immanuel Hermann Fichte ("Reden an die deutsche Nation") zitierte. An der Kneiptafel wurden Biergläser mit aufgeklebtem Gorbatschow-Foto geschwenkt. Das warf den Beobachtern die Frage auf, ob der "Allianzkommers" eine ähnliche Bedeutung erlangen könnte wie im Jahre 1815 die Jenaer Ur-Burschenschaft?

In derselben Ausgabe der Zeitung "Die Welt" schrieb derselbe Journalist einen Kommentar zu dem Thema, in dem er einerseits die Versuche der SED anprangert, die Bestrebungen zur Gründung selbstverwalteter studentischer Zusammenschlüsse in traditionellen Formen für undemokratische Zwecke zu vereinnahmen, andererseits aber seiner Hoffnung Ausdruck verlieh, dass die jungen Leute das werden verhindern können:

Kommentar: Jena 1989
Von den mitteldeutschen Universitäten war bisher über das Selbstbestimmungsrecht nichts zu vernehmen. Nicht einmal Reformen in der "DDR" wurden diskutiert. Daß sich vor wenigen Tagen auf der thüringischen Rudelsburg Studenten mehrerer Universitäten offen nach Anmeldung bei der Polizei trafen, verdient deshalb besondere Beachtung. Gewiß versucht die SED seit einiger Zeit die akademische Jugend durch Tolerierung eigener Verbindungen im Rahmen des kommunistischen Kulturbundes für sich einzunehmen. Dazu gehört die Akzeptanz burschenschaftlicher Geschichte. Aber das kostet die Partei-Ideologen Volten, denn die Farben der Freiheit, die die Burschenschaften trugen, haben nichts mit denen des heutigen totalitären Regimes auf einem Teil des deutschen Bodens gemeinsam. Warum sonst hätte die SED eigens in die schwarz/rote, mit Gold verzierte Fahne des Wartburgfestes das Hammer-und-Zirkel-Emblem einprägen lassen? Auf der Wartburg ist 1817 die Einigkeit der studentischen Jugend gegen Fremdherrschaft und für die Einheit der deutschen Nation demonstriert worden. Über eineinhalb Jahrhunderte später suchen nun erneut Studenten nach Wegen, die Teilung unseres Landes zu mildern und zu überwinden.
Die Botschaft der Versammelten aus Leipzig, Halle und Jena und anderen Universitätsorten lautete beim "Allianzkommers", daß sie sich nicht den SED-Vorstellungen von einer organisierten Studentenschaft zu unterwerfen gedenken. ...

Auch die in Westdeutschland ansässigen Burschenschaften hatten es nicht leicht, zwischen den Bestrebungen der jungen Leute, sich von der Gängelung seitens SED und FDJ zu lösen, und dem Versuch der DDR-Führung, die Geschichte des deutschen Freiheitsbewegung für sich zu vereinnahmen, zu unterscheiden. So wetterte ein Vertreter einer braunschweigischen Burschenschaft in einem Leserbrief in der Zeitung "Die Welt" vom 8. Juni 1989 gegen die neuen Aktivitäten und beanspruchte die Tradition für seinen Verband:

Ein mißglückter Versuch
...
Erich Honeckers immer deutlicher werdende Versuche, sein Regime als einzig legitimen Nachfolger deutscher Geschichte darzustellen, erreicht mit der Einverleibung der burschenschaftlichen Freiheitsbewegung einen neuen Höhepunkt der Dreistigkeit. ...
Doch der Ostberliner Mauerwächter möge sich nicht täuschen. Seine Auffassung von deutscher Demokratie hat mit den noch heute gültigen Zielen der Urburschenschaft nichts, aber auch gar nichts gemein. Seine "DDR"-Burschenschaften sind ein Witz, auch wenn ihren Mitgliedern der Freiraum begrenzt selbständigen Denkens gegönnt sei.
Die deutschen Burschenschafter, die heute wieder mehr als 20 000 Akademiker und Studenten in den freien Teilen Deutschlands zählen, haben seit fast 175 Jahren im Auf und Ab deutscher Geschichte unter ihren Farben Schwarz-Rot-Gold nicht für Einheit und Freiheit gekämpft, um sich so einfach usurpieren zu lassen. Was die deutsche Burschenschaft, im Gegensatz zu einigen westlichen Klinkenputzern, von den politischen Verhältnissen in Mitteldeutschland hält, wird sie nicht zuletzt auf ihrer diesjährigen Zentralveranstaltung zum 17. Juni in Fulda verdeutlichen. Und zur 175-Jahr-Feier im Mai 1990 in Berlin wird - wie auch in Zukunft - die Fahne der Urburschenschaft ohne das entehrende "Hammer und Zirkel"-Emblem dabei sein.

Die Entwicklung ließ sich nicht mehr aufhalten. Die SED verlor zunehmend die Kontrolle über die gesellschaftspolitische Entwicklung in der DDR. Die Vereinnahmung der DDR-Studentenverbindungen (wie selbst im Westen befürchtet) scheiterte am Machtverlust der Herrschenden. Die Ereignisse gipfelten am 9. November 1989 in der Maueröffnung.

1990

Am 10. Februar 1990 wurde dann von den Verbindungen, die sich regelmäßig auf der Rudelsburg getroffen hatten, die Rudelsburger Allianz gegründet. Die Allianzfarbe ist „weiß“ als „Summe aller Farben“, Wahlspruch „In varietate unitas!“ (deutsch: „Einheit in Vielfalt!“). Mitglieder können nur die Verbindungen werden, die vor dem 9. November 1989 eine Tradition in der DDR besitzen – „unabhängig von weltanschaulicher, politischer oder sonstiger Ausrichtung der einzelnen Verbindungen und ihrer Mitglieder und unabhängig von ihrer Zugehörigkeit zu den verschiedenen Dachverbänden“. Seitdem veranstaltet die Rudelsburger Allianz am ersten Samstag nach Pfingsten ihren Allianzkommers auf der Rudelsburg.

Wiedervereinigung

Nach der Wiedervereinigung im Oktober 1990 änderte sich die Situation für die DDR-Verbindungen. Bereits im Frühjahr und Sommer 1990 hatten die ersten Verbindungen, die ursprünglich auf dem Gebiet der DDR gegründet und in der Nachkriegszeit in den Westen gegangen waren, ihren Sitz wieder in die alte Heimat verlegt. Diese Verbindungen hatten meist über Jahrzehnte im Westen existiert und eine vergleichsweise zahlungskräftige Altherrenschaft. Praktisch alle hatten im Westen ein eigenes Korporationshaus besessen, das jetzt zugunsten des Ankaufs einer neuen Immobilie im Osten verkauft wurde. Für den potenziellen Nachwuchs war eine derartig ausgestattete Verbindung oft attraktiver als eine finanzschwache Neugründung. Es entstand eine neue Verbindungsszene, die DDR-Verbindungen waren keine Vorreiter und Exoten mehr, sondern galten jetzt eher als Nachahmer und Trittbrettfahrer. Und das, obwohl sie noch vor wenigen Monaten in der DDR als Experten für studentische Kulturgeschichte galten.

Die einzelnen Verbindungen reagierten unterschiedlich. Einige schlossen sich studentischen Dachverbänden aus dem Westen an, was aber nicht immer funktionierte. Einige versuchten, ihren Weg wie zu DDR-Zeiten weiter alleine zu gehen. Andere nahmen ein Angebot aus dem Westen an, als Aktive die Tradition einer Verbindung weiter zu pflegen, die aus dem Westen in den Osten verlegen wollte. Alle in der DDR gegründeten Verbindungen können heute Mitglied in der Rudelsburger Allianz werden, ganz gleich, für welche Lösung sie sich entschieden haben. Aber nicht alle haben dieses Angebot angenommen. Einige haben mittlerweile ihren Aktivenbetrieb eingestellt und existieren nur noch als Altherrenverband.

Von den verbliebenen Mitgliedsverbindungen der Rudelsburger Allianz wurde 1997 auf der Rudelsburg ein Gedenkstein zum zehnjährigen Jubiläum des ersten gemeinsamen öffentlichen Auftritts Studentenverbindungen in der Geschichte der DDR errichtet.

Siehe auch

Studentenverbindung, Geschichte der Studentenverbindungen, Liste verbindungsstudentischer Begriffe, Rudelsburger Allianz, Geschichte der DDR, Schwarz-Rot-Gold

Literatur

  • Gaudeamus igitur. Laßt uns fröhlich sein. Historische Studentenlieder, zusammengestellt, bearbeitet und kommentiert von Günter Steiger und Hans-Joachim Ludwig, 1. Auflage Leipzig 1986, 3. Auflage Leipzig 1989 [1]
  • Ein Deutschland ist, soll sein und bleiben. Festgabe der Friedrich-Schiller-Universität Jena zur 135. Wiederkehr des Wartburgfestes deutscher Studenten. 18./19. Oktober 1917 bis 18./19. Oktober 1952. Verfaßt und zusammengestellt von einem Kollektiv von Studenten und Aspiranten der Fachrichtungen Geschichte, Pädagogik und Germanistik, Jena 1952.
  • Henner Huhle, Zu dieser Zeit - kaum zu glauben, in: Einst und Jetzt, Jahrbuch des Vereins für corpsstudentische Geschichtsforschung, Band 36, 1991 (Bericht über die studentische Mensur in der DDR im Jahre 1989)
  • Klaus-Dieter Stefans, Blind wie zu Kaisers Zeiten - Säbel, Seidel, Schmisse: Neue "Burschenherrlichkeit", (nl-konkret Nr 65) Berlin (DDR), Neues Leben 1985 [2]
  • FDJ-Studentenliederbuch. Herausgegeben vom Zentralrat der Freien Deutschen Jugend über Verlag Junge Welt. Berlin 1987
  • Günter Steiger, Aufbruch - Urburschenschaft und Wartburgfest, Urania-Verlag, Leipzig 1967