Der Erwartungswert ist eine Größe innerhalb der Wahrscheinlichkeitstheorie. Heuristisch gesprochen ist der Erwartungswert einer Zufallsvariable jener Wert, der sich bei einer oftmaligen Wiederholung des zugrunde liegenden Experiments als Mittelwert der tatsächlichen Ergebnisse ergibt. Das Gesetz der großen Zahlen sichert uns in den meisten Fällen zu, daß der streng definierte Begriff mit der heuristischen Erläuterung übereinstimmt.
Im diskreten Fall errechnet sich der Erwartungswert als die Summe der Produkte aus den Wahrscheinlichkeiten jedes möglichen Ergebnisses des Experiments und den „Werten“ dieser Ergebnisse. Erwartungswerte müssen weder endlich noch mögliche Ergebnisse des Zufallsexperiments sein.
Definition
Erwartungswert einer diskreten Zufallsvariable
Wenn die Zufallvariable X diskret ist und die Werte x1, x2, ... mit den entsprechenden Wahrscheinlichkeiten p1, p2, ... annehmen kann, errechnet sich der Erwartungswert E(X) als:
Nimmt die Zufallsvariable X abzählbar unendlich viele Werte an, dann liegt eine unendliche Reihe vor.In diesem Fall existiert der Erwartungswert E(X) nur, wenn diese Reihe absolut konvergiert.
Erwartungswert einer stetigen Zufallsvariable
Bei einer stetigen Zufallsvariable ist der Erwartungswert über das Integral definiert. Hat die Zufallsvariable X eine Wahrscheinlichkeitsdichtefunktion f(x), so berechnet sich der Erwartungswert zu
Der Erwartungswert existiert aber nur, wenn das Integral konvergiert.
Allgemeine Definition
Allgemein wird der Erwartungswert wie folgt definiert: Ist X eine P-integrierbare (in manchen Definitionen reicht auch Quasiintegrierbarkeit, so dass der Erwartungswert nicht endlich sein muss) Zufallsvariable von einem Wahrscheinlichkeitsraum (Ω, Σ, P) nach , wobei B die Borelsche σ-Algebra über ist, so definieren wir
Ist die Zufallsvariable X diskret oder stetig verteilt, stimmt der Erwartungswert mit obigen Darstellungen überein.
Beispiele
Würfeln
Das Experiment sei das Würfeln mit einem Würfel. Die Zufallsvariable X ist die gewürfelte Augenzahl. Die Wahrscheinlichkeiten pi, eine der Zahlen 1, ..., 6 zu würfeln, sind jeweils 1/6.
Wenn man also 1000 Mal würfelt, die geworfenen Augenzahlen zusammenzählt und durch 1000 dividiert, ergibt sich mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Wert in der Nähe von 3,5. Bei einem einzigen Wurf wird man aber nie 3,5 erhalten.
St. Petersburger Spiel
Das sogenannte St. Petersburger Spiel ist ein Spiel mit unendlichem Erwartungswert: Man werfe eine Münze, zeigt sie Kopf, erhält man 2€, zeigt sie Zahl, darf man nochmals werfen. Wirft man nun Kopf, erhält man 4€, wirft man wieder Zahl, so darf man ein drittes mal werfen, usw. Man sieht sofort, dass der Erwartungswert
ist. Auch wenn man das Spiel noch so oft spielt, wird man am Ende nie eine Folge von Spielen haben, bei denen das Mittel aller Gewinne unendlich ist
Rechenregeln
Der Erwartungswert ist linear, da das Integral ein linearer Operator ist. Daraus ergeben sich die folgenden zwei sehr nützlichen Regeln:
Erwartungswert der Summen von n Zufallsvariablen
Lineare Transformation kX + d
Insbesondere:
Erwartungswert des Produkts zweier stochastisch unabhängiger Zufallsvariablen
Erwartungswerte von Funktionen von Zufallsvariablen
Wenn Y=g(X) wieder eine Zufallsvariable ist, so kann man den Erwartungswert von Y wie folgt berechnen:
- .
Auch in diesem Fall existiert der Erwartungswert nur, wenn konvergiert.
Bei einer diskreten Zufallsvariable verwendet man eine Summe:
Ist die Summe nicht endlich, dann muss die Reihe absolut konvergieren damit der Erwartungswert existiert.
Quantenmechanischer Erwartungswert
Ist die Wellenfunktion eines Teilchens in einem bestimmten Zustand und ist ein Operator, so ist
der quantenmechanische Erwartungswert von im Zustand . ist hierbei der Ortsraum, in dem sich das Teilchen bewegt, ist die Dimension von , und ein hochgestellter Stern steht für komplexe Konjugation.
Läßt sich als formale Potenzreihe schreiben (und das ist oft so), so verwendet man die Formel
Der Index an der Erwartungswertsklammer wird nicht nur wie hier abgekürzt, sondern manchmal auch ganz weggelassen.
Beispiel
Der Erwartungswert des Aufenthaltsorts ist
wobei wir die Wahrscheinlichkeitsdichtefunktion der Quantenmechanik im Ortsraum identifiziert haben. In der Physik schreibt man (rho) statt .
Siehe auch
- Varianz
- Gesetz der großen Zahlen
- Parameter (Statistik)
- Moment: Erwartungswerte der Potenzen einer Zufallsvariable.
- Momenterzeugende Funktion
- Charakteristische Funktion
Literatur
- Erich Härtter: Wahrscheinlichkeitsrechnung für Wirtschafts- und Naturwissenschaftler. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1974, ISBN 3525031149