Die musikalische Formenlehre ist ein Teilgebiet der Musiktheorie und beschäftigt sich mit der Geschichte und Eigenart von musikalischen Formen mit besonderem Schwerpunkt auf denen des Abendlands. Innerhalb der Epochen erfahren musikalische Formen oft zahlreiche Varianten und Erweiterungen; daher kann eine große Anzahl musikalischer Formen von der Musikwissenschaft nur epochenübergreifend sinnvoll beleuchtet werden.
Die wissenschaftliche Formenlehre des Abendlands basiert auf Dokumenten, die entweder beschreibend, oder selbst Notenschriften sind.
Im frühen Mittelalter finden sich die ersten derartigen Notenschriften in Werken des Gregorianischen Gesangs. Mit dem Beginn der Mehrstimmigkeit, wie sie von Leonin und Perotin an der Kirche Notre Dame in Paris erfunden wurde, entsteht das Organon und der Conductus. Parallel dazu existieren zu diesen kunstmusikalischen Formen auch bereits die erste populäre Musik in Form der Gesänge von Minnesängern, Troubadours und Trouvères, die meist auf einfachen Liedformen beruhen. Als notenschriftlose, oral tradierte Gesänge können sie nur deshalb heute rekonstruiert werden, weil sie von Komponisten oft tropiert wurden.
Die Epoche der Ars antiqua treibt insbesondere die Entwicklung der Dreistimmigkeit voran. Hier finden sich Pastoralen und geistliche Werke als Formen; zum Cantus und Tenor gesellt sich der Discantus als dritte Stimme.
Die anschließende Ars nova bringt geradezu eine Fülle an neuen Formen hervor, deren wichtigste neben der tradierten Messe die kirchenmusikalische Motette ist. Auch das politische Singspiel als Vorform der Oper nimmt hier seinen Anfang. Darüberhiaus entstehen das Virelais, die Ballade, die Caccia und das Rondo; höchst mathematisch und modern anmutend entwickelt sich zudem die Kompositionstechnik mittels modaler Figurationen. Die teilweise extremen Melismen von Ars-Nova-Werken findet ihren Höhepunkt in der Ars subtilior, eine Art Musica riservata, die voller verästelter, hochkomplexer Ornamentik ist.
Die Renaissance stellt dem in Extremformen mechanistischen Weltbild der Ars nova den menschlichen Ausdruck, insbesondere den der menschlichen Stimme entgegen und zentriert seine Formen, insbesondere das Madrigal und das Musikdrama (eine viel später aufgegriffene Vorform der Oper) um diese oft homophonen Formen. Außerdem bilden sich eine Reihe von kunstmusikalischen Tänzen und Masken (Masques) heraus, die trotz ihrer kunstmusikalischen Rafinessen zu profanen Anlässen gegeben wurden. Als Geheimlehre, nur oral von Lehrer zu Schüler tradiert, entsteht in dieser Epoche auch die Systematisierung expressiver Wendungen in Form der Figurenlehre.
Der Barock ist eine gespaltene Epoche, in der zwar wieder die strukturelle Komposition in kontrapunktischen Formen wie der Triosonate und Fuge dominiert, die jedoch auch als Nebenstrang Geistesgut der Renaissance bewahrt, etwa in Werken wie dem Charakterstück, der Fantasie (Fantasia) und Werken des empfindsamen Stils. Die Suite löst sich von einer als Folge loser Tanzstücke und wächst zu einer eigenständigen Form heran. Die Toccata wird zum Ausdruck höchster barocker Mechanistik. Als Epoche mit dominanter Ornamentik bildet sich im Barock zudem das Konzert und Concerto grosso aus dem geistlichen Konzert heraus. Passion und Oratorium enthalten Rezitative und Arien. Die Oper im eigentlichen Sinne entsteht und ist besonders in England und Frankreich beliebt.
In der Klassik entwickelten sich Sonate und Sinfonie und mit ihnen die Sonatenhauptsatzform. Die Entstehung des Kunstliedes fällt ebenfalls in diese Epoche. Ursprünglich als instrumentales Übungsstück gedacht, entsteht die Etüde, die sich jedoch schon bald von dieser Funktionalistik löst und zum eigenständigen musikalischen Genre heranwächst. Die Oper erfährt eine lange Reihe von Wandlungen und Varianten. Besonders bemerkenswert ist an der Klassik, dass sie sich als erste Epoche der Musikgeschichte ihrer Geschichtlichkeit bewußt ist. Dies zeigt sich insbesondere im "Zitieren" oder "Allusionieren" von Musik und Stilen, die nicht originär klassisch sind, sondern auf mittelalterliche Kirchenmusik sowie Musik des Barocks zurückgehen. Dies betrifft insbesondere natürlich auch die Formenwelt, etwa den Experimenten des späten Ludwig van Beethoven mit der Fuge oder den besonders geistreichen Sonaten des oft unterschätzten Joseph Haydn. Insofern sind eine Reihe von Werken aus der klassischen Epoche bereits formal hybrid.
In der Romantischen Epoche entwickelt sich neben der Sinfonie die Sinfonischen Dichtung und die Rhapsodie. Sonate, Lied und Kammermusik werden weiterhin gepflegt und teilweise extrem erweitert. Die Oper wird einerseits zur durchkomponierten Form; andererseits spaltet sich von ihr die Operette ab. Nocturnes und Arabesken entstehen aus dem Charakterstück, das zudem eigenständig weiterbesteht und in Klavierzyklen Eingang findet. Das Ballett entsteht. Richard Wagner tritt mit seinen Musikdramen in Erscheinung (ein Begriff, der das Dramma in musica der Renaissance referiert und das Gesamtkunstwerk anpeilt). Der Gedanke des Gesamtkunstwerks spielt überhaupt in der Spätromantik eine große Rolle, in der bereits an die technische Erweiterung der Musik durch Lichtorgeln und Geruchsorgeln gedacht wird. Überhaupt existiert besonders ab der mittleren und in der späten Romantik auch das Interesse an außereuropäischer Musik, die durch Weltausstellungen und Forschungsreisen an Einfluss gewinnt. Der musikalische Impressionismus etwa, wie er von Claude Debussy exponiert ist, ist ohne diese Einflüsse undenkbar. Andere Komponisten wiederum setzen ihre Schwerpunkte musikethnologisch.
Das 20. Jahrhundert bzw. die Moderne (als "klassische Moderne" für Werke vor 1945) bringt in der Kunstmusik zahlreiche neue Formen und Stile hervor. Nach einer frühen expressionistischen Phase dominieren Neoklassizismus und Dodekaphonie; nach dem zweiten Weltkrieg entstehen Serialismus und Aleatorik. Was die Formenlehre des 20. Jahrhunderts betrifft, so steht oft die Struktur im Vordergrund; die klassischen Formen der Musik genügen nur noch in Einzelfällen der vollständigen formalen Klassifizierung von Werken, denn die verschiedenen Struktursysteme wirken oftmals bereits selbst formbildend. Damit sind die Formen des 20. Jahrhunderts, ähnlich wie in der klassischen Epoche, oft ebenfalls hybrid. Eine Reihe neuartiger Instrumente entstehen zudem; diese sind entweder kuriose Einzelstücke oder entstammen der technischen Welt. Die Betrachtung eines Musikinstruments als Maschine und daher auch einer Maschine als Musikinstruments bringen Futurismus und Bruitismus hervor. Auch die Abspaltung der elektronischen Musikinstrumente von reinen Laborgeräten beginnt in dieser Zeit. Bemerkenswert bleibt dabei, dass Komponisten der Moderne gerade mit zunehmender Industrialisierung der Musik durch Plattenkonzerne oft Wege jenseits der großen Konsumströme beschreiten und nach neuen, offeneren Möglichkeiten des Hörens suchen. Den musikakademischen Hochschulen bleibt der Zugang zu dieser Gedankenwelt meist verschlossen, doch ist beachtlich, dass gerade die relativ frühen Werke der zeitgenössischen Musik ab Mitte der 80er-Jahre in großem Stil von zahlreichen U-Musikern aufgegriffen und referiert werden, was von Wachheit und Offenheit zeugt. Auch die Computermusik spielt zu Anfang des 21. Jahrhunderts bereits eine große Rolle. Die Geschichte der U-Musik und des Jazz bilden eigene geschichtliche Stränge, die, wenngleich sie ihre eigenen Formen hervorgebracht haben, zahlreiche Berührungspunkte mit der Musik der Moderne bilden.
Siehe auch: Musiktheorie, Musikwissenschaft
Literatur
- Jacques Handschin: Musikgeschichte im Überblick (1981), Heinrichshofen Verlag
- Guido Adler: Handbuch der Musikgeschichte (1930), Hans Schneider Verlag, Tutzing neu aufgelegt bei dtv, 3 Bde.
- Günter Altmann: Musikalische Formenlehre (1984), New York, Paris, London, Saur Editors, übersetzt im UTB-Verlag
- Ulrich Dibelius: Moderne Musik (1984), mehrbändig, Piper Verlag
- Klaus Schweizer: Orchestermusik des 20. Jahrhunderts seit Schönberg (1976), Reclam-Verlag
- Werner Oehlmann: Die Musik des 20. Jahrhunderts (1961), Walter der Gruyter Verlag, Berlin
- Hugo Riemann Musik-Lexikon, Sachteil (1967), B. Schott's Söhne, Mainz
- MGG Musik in Geschichte und Gegenwart, Hrsg. Friedrich Blume, Bärenreiter-Verlag, Kassel
- Eberhard Thiel: Sachwörterbuch der Musik (1977), Alfred Kröner Verlag, Stuttgart