Maßtheorie

Teilgebiet der Mathematik
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Die Maßtheorie ist ein Teilgebiet der Mathematik, das die elementargeometrischen Begriffe Streckenlänge, Flächeninhalt und Volumen verallgemeinert und es dadurch ermöglicht, auch komplizierteren Mengen ein Maß zuzuordnen. Sie bildet das Fundament der modernen Integrations- und Wahrscheinlichkeitstheorie.

Als Maß versteht man in der Maßtheorie eine Zuordnung von reellen oder komplexen Zahlen zu einem Teilmengensystem über einer Grundmenge. Die Zuordnung und das Teilmengensystem sollen dabei bestimmte Eigenschaften besitzen. In der Praxis ist häufig nur eine partielle Zuordnung von vornherein bekannt. Zum Beispiel ordnet man in der Ebene Rechtecken das Produkt ihrer Kantenlängen als Flächeninhalt zu. Die Maßtheorie untersucht nun einerseits, ob sich in konsistenter Weise und eindeutig diese Zuordnung auf größere Teilmengensysteme erweitern lässt, und andererseits, ob dabei zusätzliche gewünschte Eigenschaften erhalten bleiben. Im Beispiel der Ebene möchte man natürlich auch Kreisscheiben einen sinnvollen Flächeninhalt zuordnen und man wird gleichzeitig neben den Eigenschaften, die man von Maßen ganz allgemein verlangt, auch Translationsinvarianz fordern, das heißt, der Inhalt einer Teilmenge der Ebene ist unabhängig von ihrer Position.

Maße ordnen Mengen nichtnegative reelle Zahlen zu, wobei größere Mengen auf größere Zahlen abgebildet werden.

Motivation

Der komplizierte Aufbau der Maßtheorie wird dadurch verursacht, dass es nicht möglich ist, eine Maßfunktion zu finden, die beliebigen Teilmengen der reellen Zahlen (oder des n-dimensionalen reellen Raumes) ein sinnvolles Maß zuordnet, das zum Beispiel in der reellen Ebene dem klassischen Flächeninhalt oder im dreidimensionalen reellen Raum dem klassischen Volumen entspricht. Was dabei sinnvoll genau bedeutet, wurde erstmals im sogenannten Maßproblem von Henri Lebesgue in seiner Pariser Thèse 1902 beschrieben und entspricht im Fall der reellen Ebene mit dem Flächeninhalt als Maßfunktion den folgenden Forderungen:

  1. ein Quadrat mit der Kantenlänge eins hat den Flächeninhalt eins („Normiertheit“)
  2. die Verschiebung einer beliebigen Fläche ändert nicht ihren Flächeninhalt („Bewegungsinvarianz“)
  3. endliche und abzählbare Vereinigungen von disjunkten Flächen haben den gleichen Flächeninhalt wie die Summe aller Teilflächen ( -Additivität“)

1905 konnte Giuseppe Vitali zeigen, dass dieses Problem für beliebige Teilmengen nicht lösbar ist. Schränkt man jedoch die zu messenden Mengen ein und betrachtet nur ein bestimmtes Mengensystem, so kann man das Maßproblem lösen und auf diesem Mengensystem ein Maß mit den gewünschten Eigenschaften definieren (siehe Definition Maß weiter unten).

Einen anderen Weg wählte Felix Hausdorff, der das Inhaltsproblem formulierte, indem er die dritte Forderung abschwächte und sich auf endliche Vereinigungen beschränkte. Er konnte 1914 zeigen, dass dieses im Allgemeinen (Dimension  ) auch nicht lösbar ist. Ausnahmen bilden die reellen Zahlen und die reelle Ebene, für die es eine sogenannte Inhaltsfunktion gibt (siehe Definition Inhalt weiter unten).

Die Maßtheorie beschäftigt sich also mit verschiedenen Mengensystemen und den Inhaltsfunktionen, die man darauf definieren kann. Dabei werden nicht nur reelle Mengensysteme betrachtet, sondern abstrakte Mengensysteme erzeugt durch beliebige Grundmengen; womit sich, bei geringem Mehraufwand, die Ergebnisse besser in Funktionalanalysis und Wahrscheinlichkeitstheorie anwenden lassen.[1]

Definitionen und Beispiele

Die zu messenden Mengen fasst man in Mengensysteme zusammen, die unterschiedlich stark gegenüber Mengenoperationen abgeschlossen sind. Bedeutende Beispiele für Mengensysteme sind:

Halbring, σ-Algebra, Potenzmenge

Dabei ist die Potenzmenge das umfassendste aller Mengensysteme und enthält jede beliebige Teilmenge der Grundmenge. Am eingeschränktesten ist der Halbring, der die Grundlage des Lebesgue-Maßes bildet und nur ganz bestimmte Teilmengen enthält. Weit weniger eingeschränkt ist die σ-Algebra, die das wichtigste Mengensystem der Maßtheorie ist. Es gilt: Jede Potenzmenge ist eine σ-Algebra und jede σ-Algebra ist ein Halbring. Weitere in der Maßtheorie benutzte Mengensysteme sind:

Ring, Algebra oder Dynkin-System

Auf diesen Mengensystemen definiert man die Inhaltsfunktionen wie Inhalt, Prämaß, Maß oder Äußeres Maß.

Es folgen einige Definitionen der Grundbegriffe der Maßtheorie.

Inhalt

Eine Funktion  , die jeder Menge S aus einem Halbring   über   einen Wert   zuordnet, der entweder eine nichtnegative reelle Zahl oder   ist, heißt Inhalt, falls für diese Abbildung   gilt:

  • Die leere Menge hat den Inhalt null:  .
  • Der Inhalt ist endlich additiv. Sind also   endlich viele paarweise disjunkte Mengen aus   und ist   deren Vereinigungsmenge, dann gilt für den Inhalt  
 .

Eigenschaften

  • Monotonie: Sind   und   Mengen aus   mit  , so gilt  .
  • Fortsetzbarkeit: Man kann zu jedem Inhalt   auf   einen Inhalt   auf dem von   erzeugten Ring   konstruieren, indem man   definiert durch:
 
Aufgrund der Eigenschaften eines Halbringes gibt es für alle   Mengen   mit  .
  • Dann gilt für einen Inhalt   auf dem Ring  :
    • Subtraktivität: für   mit   gilt  
    •  
    • Subadditivität:  
    •  -Superadditivität: Seien   paarweise disjunkt mit  . Dann folgt aus der Additivität und Monotonie  

Nullmenge

Hauptartikel: Nullmenge

Eine Menge   aus   heißt Nullmenge, wenn   gilt.

Prämaß

Ein σ-additiver (oder abzählbar additiver) Inhalt heißt Prämaß. Sei   ein Inhalt, dann ist   ein Prämaß, wenn für jede Folge   abzählbar vieler paarweise disjunkter Mengen aus   mit   gilt:

 

Eigenschaften

  • Fortsetzbarkeit: Man kann auch zu jedem Prämaß   auf   ein Prämaß   auf dem von   erzeugten Ring   konstruieren, indem man   definiert durch:
  für  
  • Dann gilt für das Prämaß   auf dem Ring  :
    • Stetigkeit von oben: Ist   eine absteigende Folge von Mengen aus   mit   und ist   deren Durchschnitt, so ist  .
    • Stetigkeit von unten: Ist   eine aufsteigende Folge von Mengen aus   und ist   deren Vereinigungsmenge, so ist  .

Maß

Sei   eine Funktion, die jeder Menge S aus der σ-Algebra Σ über   einen Wert μ(S) in   zuordnet. Dieser Wert ist entweder eine nichtnegative reelle Zahl oder   (siehe unten wegen möglicher Verallgemeinerungen). Dann heißt   Maß falls gilt:

  • Die leere Menge hat das Maß null:  .
  • Positivität:   für alle  .
  • Das Maß ist abzählbar additiv (auch σ-additiv). Sind also E1, E2, E3, ... abzählbar viele paarweise disjunkte Mengen aus Σ und ist E deren Vereinigungsmenge, dann gilt für das Maß μ(E):
 .
Damit ist das Maß auch endlich additiv, indem man die Folge   paarweise disjunkter Mengen aus Σ wählt.

Somit ist jedes Maß auch ein Inhalt oder Prämaß und besitzt alle Eigenschaften, die dort aufgezählt wurden.

Eigenschaften

endlich

Ein Maß   heißt endlich, wenn gilt  . Aufgrund der Monotonie ist dies gleichbedeutend damit, dass für alle   gilt  .

σ-endlich

Ein Maß heißt σ-endlich (oder σ-finit), wenn es eine abzählbare Folge messbarer Mengen   gibt, die alle ein endliches Maß   besitzen und   überdecken. σ-endliche Maße haben einige schöne Eigenschaften, die gewisse Analogien zu den Eigenschaften separabler topologischer Räume aufweisen.

vollständig

Ein Maß heißt vollständig genau dann, wenn jede Teilmenge jeder Nullmenge in Σ enthalten ist.

Messraum, messbare Mengen

Sei   eine σ-Algebra aus Teilmengen von  . Dann nennt man das Paar (Ω, Σ) Messraum oder messbarer Raum.

Eine Funktion, die die Struktur eines Messraums erhält, heißt messbare Funktion.

Jedes Element   von   heißt messbar, da die charakteristische Funktion   messbar ist. Dabei ist zu beachten, dass man in der Maßtheorie zum einen von der Messbarkeit bezüglich eines Messraumes und zum anderen von der Messbarkeit nach Carathéodory bezüglich eines äußeren Maßes spricht. Letztere kann man aber äquivalent als Messbarkeit bezüglich des durch das äußere Maß induzierten Messraumes betrachten.

Beispiele für Messräume:

  • Jede Menge bildet mit ihrer Potenzmenge einen Messraum.
  • Sei A eine Teilmenge von Ω. Dann ist   die von A erzeugte σ-Algebra. Diese σ-Algebra ist zugleich die kleinstmögliche σ-Algebra, die A enthält.

Maßraum

Eine Struktur (Ω, Σ, μ) heißt Maßraum, wenn (Ω, Σ) ein Messraum und μ ein auf diesem Messraum definiertes Maß ist. Ein Beispiel für einen Maßraum ist der Wahrscheinlichkeitsraum   aus der Wahrscheinlichkeitstheorie. Er besteht aus der Ergebnismenge  , der Ereignisalgebra   und dem Wahrscheinlichkeitsmaß  .

fast überall

Eine Eigenschaft gilt fast überall (oder  -fast überall oder  -fast alle) in  , wenn es eine Nullmenge gibt, sodass alle Elemente im Komplement die Eigenschaft haben.

Also Eigenschaft   gilt fast überall in  , mit   und   gilt  .

Beachte, dass die Menge, wo sie nicht gilt, nicht unbedingt messbar ist. In der Stochastik wird auf dem Wahrscheinlichkeitsraum  , die Eigenschaft fast überall auch als fast sichere (oder  -fast sichere) Eigenschaft bezeichnet.

Vervollständigung

Es sei   das System aller Teilmengen von Mengen  , mit  , also aller Mengen, die von Nullmengen überdeckt werden. Ein Maßraum heißt vollständig, falls er alle Mengen in   enthält.

Das Tripel   nennt man Vervollständigung von  , man setzt:   (wobei   die symmetrische Differenz ist), und man setzt  .

Diese Definition ist sinnvoll, denn wenn   (mit  , dann ist  , somit  .

Es ist   und   ist vollständig; daher der Name Vervollständigung.

Äquivalente Definition

Eine äquivalente Definition der Vervollständigung ist:

  Es existieren   mit   und  .

Beispiele

  • Das Nullmaß, das jeder Menge S den Wert μ(S)=0 zuordnet.
  • Ein Beispiel für einen Inhalt ist der Jordaninhalt, mit dessen Hilfe man das mehrdimensionale Riemann-Integral definieren kann.
  • Das Zählmaß ordnet jeder Teilmenge S einer endlichen oder abzählbar unendlichen Menge die Anzahl ihrer Elemente zu, μ(S)=|S|.
  • Das Lebesgue-Maß auf der Menge der reellen Zahlen   mit der Borelschen σ-Algebra, definiert als translationsinvariantes Maß mit μ([0,1])=1.
  • Das Haar-Maß auf lokal kompakten topologischen Gruppen.
  • Ein Wahrscheinlichkeitsmaß oder normiertes Maß ist ein Maß mit μ(Ω)=1.
  • Das Zählmaß auf der Menge   der natürlichen Zahlen ist unendlich, aber σ-endlich.
  • Das kanonische Lebesgue-Maß auf der Menge   der reellen Zahlen ist ebenfalls unendlich, aber σ-endlich, denn   kann als Vereinigung abzählbar vieler endlicher Intervalle   dargestellt werden.
  • Das Lévy-Maß ist ein zufälliges Maß (random measure) und wird unter anderem benötigt, um Lévy-Prozesse zu charakterisieren. Es gibt die erwartete Anzahl an Sprüngen des Prozesses dieser Höhe im Einheitsintervall an.

Verallgemeinerungen

Eine mögliche Verallgemeinerung betrifft den Wertebereich der Funktion μ.

Eine andere Möglichkeit der Verallgemeinerung ist die Definition eines Maßes auf der Potenzmenge.

Historisch wurden zuerst endlich additive Maße eingeführt, die heute auch als Inhalte bezeichnet werden. Die moderne Definition, derzufolge ein Maß abzählbar additiv ist, erwies sich jedoch als nützlicher.

Ergebnisse

Der Satz von Hadwiger klassifiziert alle möglichen translationsinvarianten Maße im  : das Lebesgue-Maß ist ebenso ein Spezialfall wie die Euler-Charakteristik. Verbindungen ergeben sich ferner zu den Minkowski-Funktionalen und den Quermaßen.

Siehe auch

Literatur

  • Jürgen Elstrodt: Maß- und Integrationstheorie. 4. Auflage, Springer, Berlin 2005, ISBN 3-540-21390-2.
  • Heinz Bauer: Maß- und Integrationstheorie. 2. Auflage, De Gruyter, Berlin 1992, ISBN 3-11-013626-0 (Gebunden), ISBN 3-11-013625-2 (Broschiert).
  • D. H. Fremlin: Measure Theory, Band 1–5

Einzelnachweise

  1. Jürgen Elstrodt: Maß- und Integrationstheorie. 4. Auflage. Springer, Berlin 2005, S. 3–6