Kambrische Explosion
Als Kambrische Explosion wird die umfassende Umformung der Lebewelt zu Beginn des Kambriums vor etwa 540 Millionen Jahren bezeichnet. Es entstanden in geologisch kurzem Zeitraum viele neue Arten und es tauchen scheinbar unvermittelt die Baupläne fast aller mehrzelliger Tierstämme auf, die seitdem die Erde bevölkern. Darunter finden sich auch Gruppen, die schnell wieder ausstarben und bis heute nur schwer zuzuordnen sind.
Sind aus den Epochen vor dem Kambrium nur relativ wenige Abdrücke mehrzelliger Organismen und Einzeller überliefert, so finden sich ab dem unteren Kambrium eine Vielzahl von Formen vor allem mit Schalen- oder Außenskelett. Zwischenstufen, die eine Entwicklung zu diesen hin andeuten könnten, scheinen zu fehlen.
Noch im Ediacarium dominierten ausschließlich schalenlose Mehrzeller (Ediacara-Fauna), meist nach dem früher so genannten Vendium benannte Vendobionten, deren Einordnung häufig unklar ist, und von denen postuliert wurde, sie seien möglicherweise als eigentändiger Stammbaum des Lebens einzustufen. Obwohl von diesen schalen- und skelettlosen Tieren jeweils nur mehr oder weniger undeutliche und häufig schwer interpretierbare Abdrücke existieren, ist inzwischen erkennbar geworden, dass darunter sowohl urtümliche Quallen als auch Verwandte der Federkorallen vorkommen. Am weitesten entwickelt und im Zusammenhang mit der Kambrischen Explosion am interessantesten unter den ediacarischen Fossilien, ist die berühmte Kimberella, bei der es sich mit einiger Sicherheit um einen sehr urtümlichen Mollusken, also eine "Urschnecke" handelt. Ein weiteres Fossil, das als Vorläufer der kambrischen Fauna gelten kann ist Spriggina, ein segmentiertes Fossil, das wahrscheinlich einen anneliden Wurm darstellt, oder womöglich sogar einen Übergang zwischen den Anneliden und den aus diesen (im Sinne des Articulata Konzepts) abzuleitenden Arthropoden.
Im Lichte dieser Funde relativiert sich die so genannte Kambrische Explosion. Ein der Evolutionstheorie widersprechendes rätselhaftes plötzliches Auftreten von Bauplänen aus dem Nichts ist nur scheinbar. Die äußerst mangelhafte Überlieferung von Weichtieren macht das Auftauchen von hartteiltragenden Tieren umso auffälliger, weil diese sich im Gegensatz zu ihren Vorläufern ganz wesentlich besser erhalten haben.
Gerade über diesen letzteren Punkt, der den Kern des Problems der Kambrischen Explosion zu bilden scheint, ist viel diskutiert worden. Vielleicht bewirkte eine langsame Änderung der Chemie des Meerwassers, dass ab einem bestimmten Punkt genügend Kalk zum Aufbau von Schalen verfügbar war. Die erste Ausbildung von Hartteilen muss tiefgreifende Änderungen in der Nahrungskette ausgelöst haben, denn nun waren alle Tiere gezwungen, Zähne, Schalen oder Außenskelette zu bilden, wenn sie gegen die im folgenden immer rasanter gepanzerte Konkurrenz bestehen wollte. Die Herausbildung von Hartteilen bot im selben Augenblick die Chance, neue oder stark abgewandelte Baupläne zu erproben, die nunmehr einer Stütze nicht mehr zu entbehren brauchten. Interessant ist, dass geologisch gesehen gleichzeitig mit kalkigen Außenskeletten auch phosphatische Schalen entstanden.
Eine Rolle in der Diskussion um die Kambrische Explosion spielt auch die von manchen für global gehaltene Eiszeit im oberen Präkambrium, mit deren Ende sich am Beginn des Kambriums eine Unzahl neuer Lebensräume aufgetan haben muss.
In der dem Ediacarium folgenden untersten Stufe des Kambriums, im Tommotium, erscheinen erstmals Tiere mit Schalen, vor allem frühe Mollusken. Die Tommotium-Fauna wird auch "small shelly fauna" genannt, denn es sind vorwiegend kleine, nur millimetergroße Fossilien überliefert.
Darauf wiederum folgt die Kambrische Explosion im engeren Sinne, innerhalb von 20 Millionen Jahren breiten sich die Gliederfüßer massiv aus und werden zur vorherrschenden Gruppe in der damaligen Fauna. Vor allem zu nennen sind die Trilobiten, aber auch seltsam anmutende Formen wie Wiwaxia (wahrscheinlich ein bizarrer Annelide) oder der räuberische Anomalocaris (wahrscheinlich zu den Arthropoden zu stellen) sowie erste Vorläufer der Wirbeltiere, darunter Pikaia.
Die Kambrische Explosion wurde unter anderen durch Stephen Jay Goulds Buch Zufall Mensch. Das Wunder des Lebens als Spiel der Natur popularisiert und dramatisiert. Er bezeichnet die oben erwähnten, nur im Kambrium nachgewiesenen Tierfamilien dort als "einmalig", "rätselhaft" oder "erstaunlich" und hat damit zwar den Verdienst, das Thema einer breiten Öffentlichkeit nahegebracht zu haben, aber auch für bedeutende Verwirrung gesorgt. Er wurde häufig vom sensationshungrigen Laienpublikum so verstanden, dass hier eine Art von "Aliens" das Kambrium bevölkert hätte, die mit der heutigen Biologie nichts zu tun gehabt hätten, unvermittelt eingesetzt und rätselhaft wieder verschwunden wie ein Spuk; ein Bild, das sich heute wesentlich differenzierter darstellt.