Vollständige Induktion
Vollständige Induktion ist eine mathematische Beweismethode, nach der eine Aussage für alle natürlichen Zahlen bewiesen wird. Da es sich um unendlich viele Zahlen handelt, kann solch ein Beweis nicht für alle Einzelfälle durchgeführt werden. Er wird daher in zwei Etappen durchgeführt: als Induktionsanfang für eine kleinste Zahl (meist 1 oder 0) und als Induktionsschritt, der aus der Aussage für eine variable Zahl die entsprechende Aussage für die nächste Zahl logisch ableitet. Dieses Beweisverfahren ist von grundlegender Bedeutung für die Arithmetik und Mengenlehre und damit für alle Gebiete der Mathematik.
Veranschaulichung
Die vollständige Induktion erfasst durch den variablen Induktionsschritt beliebig viele Schritte, die man von 1 aus konkret durchführen kann. Das verdeutlicht die Graphik links. Diese Methode ist mit dem Dominoeffekt vergleichbar: Wenn der erste Dominostein fällt und durch jeden fallenden Dominostein der nächste umgestoßen wird, so wird schließlich jeder Dominostein irgendwann umfallen. Im Unterschied zum Domino, bei dem zwar beliebig viele, aber immer endlich viele Steine vorliegen, gibt es aber unendlich viele natürliche Zahlen, so dass keine beliebig lange konkrete Induktion alle Zahlen erreicht. Nur über den variablen Induktionsschritt wird die Induktion vollständig und erreicht tatsächlich alle Zahlen.
Etymologie und Geschichte
Die Bezeichnung „Vollständige Induktion“ leitet sich ab von lat. inductio (= ‚Herein-‘ oder ‚Hinaufführung‘). Der Beiname „vollständig“ signalisiert, dass es sich hier im Gegensatz zur philosophischen Induktion, die aus Spezialfällen ein allgemeines Gesetz erschließt und kein exaktes Schlussverfahren ist, um ein anerkanntes deduktives Beweisverfahren handelt. Das Induktionsprinzip steckt latent bereits in der von Euklid überlieferten pythagoreischen Zahlendefinition: Zahl ist die aus Einheiten zusammengesetzte Menge.[1] Euklid führte aber noch keine Induktionsbeweise, sondern begnügte sich mit intuitiven, exemplarischen Induktionen, die sich aber vervollständigen lassen. Auch andere bedeutende Mathematiker der Antike und des Mittelalters hatten noch kein Bedürfnis nach präzisen Induktionsbeweisen. Vereinzelte Ausnahmen im hebräischen und arabischen Sprachraum blieben ohne Nachfolge.[2][3] Das Interesse an induktiven Beweisen erwachte erst allmählich in der Neuzeit. Der erste bekannte explizite Beweis per vollständiger Induktion (unten ausgeführt) findet sich 1575 in dem Werk Arithmeticorum Libri Duo von Franciscus Maurolicus,[4] ohne dass dort aber das Beweisverfahren erörtert wird. Das allgemeine Induktionsprizip mit Induktionsanfang und Induktionsschritt thematisierte erst Blaise Pascal in seinem Traite au Trinagle Arithmetique von 1654.[5] Zur Verbreitung von Induktionsbeweisen trug ab 1686 Jakob Bernoulli wesentlich bei.[6] Das Beweisverfahren wurde dann 1838 von Augustus De Morgan erstmals als „Induktion“ oder „sukzessive Induktion“ bezeichnet.[7] 1888 prägte schließlich Richard Dedekind in seiner Schrift Was sind und was sollen die Zahlen? den Begriff „Vollständige Induktion“.[8] Über dieses Werk aus der Gründerzeit der Mengenlehre wurde sie zum allgemein bekannten, etablierten Beweisprinzip, auf das seither kein Zweig der Mathematik mehr verzichten kann. Ein Jahr später, 1889, formulierte Giuseppe Peano den ersten formalisierten Kalkül für die natürlichen Zahlen mit einem Induktionsaxiom, aus dem das Beweisschema der vollständigen Induktion herleitbar ist.[9] Er zeigte mit formaler Strenge, dass aus seinen Zahlaxiomen, zu denen das Induktionsaxiom gehört, die ganze Arithmetik bis hin zu den reellen Zahlen ableitbar ist. Dadurch machte er die fundamentale Bedeutung und die Leistungskraft der Induktion voll bewusst.
Definition
Seit Richard Dedekind ist die vollständige Induktion folgendermaßen festgelegt:
- Um zu beweisen, dass ein Satz für alle natürlichen Zahlen n gilt, genügt es zu zeigen, dass er für n=1 gilt und dass aus der Gültigkeit des Satzes für eine Zahl n stets seine Gültigkeit auch für die folgende Zahl n+1 folgt.[8]
Als formale Schlussregel mit dem Ableitungsoperator lautet die vollständige Induktion für eine Aussage :
Als Induktionsanfang gilt hierbei der Beweis von und als Induktionsschritt der Beweis von mit der Induktionsvoraussetzung . Der Induktionsanfang lautet , falls man die Null zu den natürlichen Zahlen zählt, was manchmal vereinbart wird. Zur Beweisvereinfachung wird der Induktionsschritt oft nicht von auf durchgeführt, sondern von auf ; dies ist lediglich eine Notationsänderung.
Herleitung
Die vollständige Induktion kann aus Axiomen für die natürlichen Zahlen hergeleitet werden. Am bekanntesten ist die Ableitung aus dem fünften Peano-Axiom, dem sogenannten Induktionsaxiom, das mit 1 als kleinster Zahl folgendermaßen lautet: Ist ein Element von und ist mit aus stets auch aus , dann ist eine Teilmenge von . Hieraus ergibt sich die vollständige Induktion für als Menge aller natürlicher Zahlen , die die Aussage erfüllen.
Auch in anderen Konzepten der natürlichen Zahlen sind die Peano-Axiome und damit auch das Beweisverfahren der vollständigen Induktion herleitbar, zum Beispiel bei der Definition der natürlichen Zahlen
- als von 1 erzeugte geordnete Halbgruppe, die der zitierten pythagoreischen Zahlendefinition entspricht[1]
- als frei von 1 erzeugtes Monoid[10]
- als kleinste induktive Menge, das heißt, als kleinste Menge, die das Unendlichkeitsaxiom von Zermelo erfüllt
- als Menge der endlichen Ordinalzahlen
Beispiele
Peano bewies 1889 mit vollständiger Induktion die grundlegenden Rechenregeln für die Addition und Multiplikation: das Assoziativgesetz, Kommutativgesetz und Distributivgesetz.[11][12]
Summe ungerader Zahlen (Maurolicus 1575)
Die schrittweise Berechnung der Summe der ersten ungeraden Zahlen legt die Vermutung nahe: Die Summe aller ungeraden Zahlen von 1 bis ist gleich dem Quadrat von :
- 1 = 1
- 1 + 3 = 4
- 1 + 3 + 5 = 9
- 1 + 3 + 5 + 7 = 16
Der allgemeine Satz lautet: . Für diesen Satz formulierte Maurolicus 1575 den ältesten Beweis mit vollständiger Induktion.[4] Ein Beweis mit heute geläufigen Rechenregeln liest sich folgendermaßen:
Der Induktionsanfang gilt wegen .
Beim Induktionsschritt ist zu zeigen: Wenn , dann . Er ergibt sich über folgende Gleichungskette, bei der in der zweiten Umformung die Induktionsvoraussetzung angewandt wird: .
Gaußsche Summenformel
Die Gaußsche Summenformel lautet: Für alle natürliche Zahlen gilt
Der Induktionsanfang ergibt sich unmittelbar:
Der Induktionsschritt für beliebige natürliche Zahlen wird über folgende Gleichungskette gewonnen, bei der die Induktionsvoraussetzung bei der zweiten Umformung angewandt wird:
Bernoullische Ungleichung
Die Bernoullische Ungleichung lautet: Für reelle Zahlen mit und natürliche Zahlen gilt
- .
Der Induktionsanfang gilt hier wegen . Den Induktionsschritt gewinnt man über folgende Ableitung, die im zweiten Schritt die Induktionsvoraussetzung anwendet:
Varianten
Induktion mit beliebigem Anfang
Der Induktionsbeweis ist auch für Aussagen möglich, die nicht für alle natürlichen Zahlen, sondern nur für alle Zahlen ab einem gewissen Anfangswert gelten. Dies ist die allgemeinere Beweistechnik von Dedekind.[8] Beispielsweise lässt sich die Ungleichung für natürliche Zahlen zeigen:
- Der Induktionsanfang für ergibt sich mit .
- Der Induktionsschritt gilt aufgrund folgender Ableitung, die im zweiten Schritt die Induktionsvoraussetzung anwendet:
- .
Die endlich vielen Fälle, die solch ein allgemeinerer Induktionsbeweis nicht abdeckt, können einzeln untersucht werden. Im Beispiel ist die Ungleichung für und offenbar falsch.
Induktion für ganze Zahlen (positiv und negativ)
Der Induktionsbeweis ist auch für Aussagen möglich, die nicht nur für alle natürlichen Zahlen, sondern auch für alle negativen Zahlen gelten. Dafür beginnt man mit einem beliebigen Startwert und beweist den positiven Induktionsschritt von n nach n+1 und anschließend den Induktionsschritt in negativer Richtung von n nach n−1. Beim Induktionsanfang 0 kann man den zweiten Induktionsschritt auch von n nach −n zeigen.
Induktion mit mehreren Vorgängern
Manchmal ist es notwendig, im Induktionsschritt die Gültigkeit für mehrere Vorgänger vorauszusetzen. Der Induktionsanfang ist dann für mehrere Startwerte durchzuführen. Mit Startwerten und kann man die Formeln für und als Induktionsvoraussetzung nehmen (vergleiche den Beweis der Formel von Binet für die Fibonacci-Folge). Als Induktionsvoraussetzung kann auch die Gültigkeit der Aussage für alle Zahlen , die größer oder gleich dem Startwert und kleiner oder gleich sind, angenommen werden. Diese Induktion zweiter Art[13] lässt sich aus der vollständigen Induktion ableiten.
Ein einfaches Beispiel ist der Beweis, dass jede natürliche Zahl einen Primzahl-Teiler hat. Induktionsanfang: 2 ist durch die Primzahl 2 teilbar. Induktionsschritt: Die Aussage sei für alle mit erfüllt. Ist nun eine Primzahl, so ist selbst der gesuchte Teiler. Ist keine Primzahl, so gibt es zwei Zahlen mit und . Beide Zahlen erfüllen also die Induktionsvoraussetzung. Insbesondere besitzt einen Primzahl-Teiler . teilt auch und ist somit ein Primzahl-Teiler von .
Ein anderes Beispiel, bei dem die Gültigkeit der Induktionsvoraussetzung für alle Vorgänger verwendet wird, ist der Beweis des Zeckendorf-Theorems[14].
Vorwärts-Rückwärts-Induktion
Cauchy führte 1821 eine Induktionsvariante ein, bei der der vorwärts gerichtete Induktionsschritt Sprünge macht (etwa von n nach 2n) und die entstehenden Lücken anschließend durch einen rückwärts gerichteten Induktionsschritt von n nach n−1 gefüllt werden.[15][16]
Transfinite und strukturelle Induktion
Die vollständige Induktion ist von natürlichen Zahlen verallgemeinerbar auf Ordinalzahlen; bei Ordinalzahlen, die mächtiger als die natürlichen Zahlen sind, spricht man dann von transfiniter Induktion.
Die Induktion ist auch übertragbar auf sogenannte fundierte Mengen, die eine der Zahlenordnung vergleichbare Ordnungstruktur aufweisen; hier spricht man zuweilen von struktureller Induktion.
rekursive oder induktive Definition
Die rekursive Definition - früher auch induktive Definition genannt[17] - ist ein der vollständigen Induktion analoges Verfahren, bei der ein Term durch einen Rekursionsanfang und einen Rekursionsschritt definiert wird. Ein konstruktiver Beweis mit vollständiger Induktion kann eine rekursive Berechnung ersparen. Zum Beispiel erspart die Gaußsche Summenformel eine rekursive Berechnung der Summe über den Rekursionsanfang und den Rekursionsschritt .
Die rekursive Definition hat wie die Induktion allerlei differenzierte Varianten.
Weblinks
- http://henked.de/begriffe/induktion.htm Vollständige Induktion
- http://www.emath.de/Referate/Induktion-Aufgaben-Loesungen.pdf Umfangreiche Aufgabensammlung zur vollständigen Induktion mit Lösungen
- Vollständige Induktion einfach erklärt auf YouTube
Einzelnachweise
- ↑ a b Euklids Elemente VII, Definition 2. Dazu: Wilfried Neumaier: Antike Rhythmustheorien, Kap. 1 Antike mathematische Grundbegriffe, S. 11f
- ↑ Rabinovitch: Rabbi Levi Ben Gershon and the Origins of Mathematical Induction, in: Archive for History of Exact Sciences 6 (1970), S. 237-248
- ↑ Rashed, Roshdi: L'induction mathématique: al-Karajī, as-Samaw'al, in: Archive for History of Exact Sciences 9 (1972): 1–21
- ↑ a b Maurolycus: Arithemticorum Liber primus, S. 7, Proposition 15a.digital
- ↑ Blaise Pascal: Traite au Triangle Arithmetique, S. 7, Consequence douziesme, Le 1. (Induktionsanfang), Le 2. (Induktionsschritt), digtial
- ↑ Lexikon bedeutender Mathematiker, Leipzig 1990, Artikel „Jakob Bernoulli“ S. 48
- ↑ De : Artikel Induction (Mathematics) in: Penny Cyclopædia XII (1838), S.465f
- ↑ a b c Richard Dedekind: Was sind und sollen die Zahlen?, Brauschweig 1888, §6 Satz 80, Originalwortlaut: Satz der vollständigen Induktion (Schluss von n auf n'). Um zu beweisen, dass ein Satz für alle Zahlen n einer Kette m0 gilt, genügt es zu zeigen, daß er für n = m gilt und daß aus der Gültigkeit des Satzes für eine Zahl n der Kette m0 stets seine Gültigkeit auch für die folgende Zahl n’ folgt. ...Am häufigsten wird der Fall auftreten, wo m=1, also m0 die volle Zahlenreihe N ist.
- ↑ Peano: Arithmetices principia nova methodo exposita, 1889, in: G. Peano, Opere scelte II, Rom 1958, S. 20-55
- ↑ Felscher: Naive Mengen und abstrakte Zahlen I, S. 130-132
- ↑ Peano: Arithmetices principia nova methodo exposita, 1889, in: G. Peano, Opere scelte II, Rom 1958, S. 35f, 40f
- ↑ ausführliche Beweise auch in: Edmund Landau: Grundlagen der Analysis, Leipzig 1930
- ↑ Lutz Warlich: Grundlagen der Mathematik für Studium und Lehramt: Mengen, Funktionen, Teilbarkeit, Kombinatorik, Wahrscheinlichkeit . S 69. ISBN 3-8334-5337-0
- ↑ Der Satz von Zeckendorf
- ↑ Cauchy: Analyse algebrique, Paris 1821, S. 457ff, Beweis der Ungleichung vom arithmetischen und geometrischen Mittel [1]
- ↑ Eine Vorwärts-rückwärts-Induktion ist auch der Beweis der jensensche Ungleichung. Jensen: Sur les fonctions convexes et les inégalités entre les valeurs moyennes, in: Acta Math. 30, 175–193, 1906
- ↑ Referenzfehler: Ungültiges
<ref>
-Tag; kein Text angegeben für Einzelnachweis mit dem Namen Hausdorff.