Interoperabilität im Schienenverkehr
Unter Interoperabilität versteht man im Schienenverkehr, dass Schienenfahrzeuge möglichst durchgängig zwischen verschiedenen Schienennetzen verkehren können, insbesondere zwischen den Eisenbahnnetzen verschiedener Staaten.
Vor allem in Europa gibt es viele historisch gewachsene, nationale Bahnsysteme. Unterschiedliche technische Standards behindern einen grenzüberschreitenden Bahnverkehr. Deshalb ist bei internationalen Zügen meistens ein Lokwechsel im Grenzbahnhof nötig. In besonders schwierigen Fällen müssen Fahrgäste umsteigen oder Güter umgeladen werden. Aufwändige nationale Zulassungsverfahren erschweren die Verwendung von Mehrsystemfahrzeugen, die auf verschiedenen Bahnnetzen verkehren können. Um dem entgegen zu wirken, fördern die EU und andere Organisationen die Einführung von international normierten Systemen (ERTMS), die den Bahnbetrieb in Europa vereinheitlichen sollen. Hierzu wurden auch EG-Richtlinien zur Interoperabilität des transeuropäischen Hochgeschwindigkeitsbahnsystems (96/48/EG) und zur Interoperabilität des konventionellen transeuropäischen Eisenbahnsystems (2001/16/EG) erlassen, die inzwischen in der Richtlinie 2008/57/EG über die Interoperabilität des Eisenbahnsystems in der Gemeinschaft zusammengefasst wurden und auf deren Basis technische Spezifikationen mit Gesetzescharakter veröffentlicht werden, denen neue Bahnanlagen und Fahrzeuge genügen müssen.
Hintergrund
Der Grund für die mangelnde Interoperabilität im europäischen Schienenverkehr liegt in der Geschichte. Der technische Fortschritt führte zu immer verbesserten Systemen, die den älteren überlegen waren. Jede Bahngesellschaft führte die jeweils modernste, wirtschaftlichste Technik ein -- falls sie nicht schon ein älteres System verwendete, zu dem Kompatibilität gefordert war. Die Regierungen griffen kaum regulierend ein, schon gar nicht für eine Harmonisierung der Bahnsysteme mit dem Ausland.
Ein Beispiel ist das Stromsystem der Bahn in Dänemark. Die Nachbarländer Deutschland, Schweden und Norwegen sowie Österreich und die Schweiz einigten sich schon Anfang des 20. Jahrhunderts auf 15 kV 16 2/3 Hz Wechselstrom. Dänemark betrieb seine Züge weiter mit Dampf und Diesel. Als später mit der Elektrifizierung begonnen wurde, entschied man sich aus technischen Gründen für den Industriestandard 25 kV 50 Hz. Wegen der Insellage war eine Interoperabilität mit dem Festland kein wirkliches Thema. Das änderte sich mit dem Bau der Öresundverbindung und der Elektrifizierung der Bahnstrecke Neumünster–Flensburg-Padborg auf deutscher Seite, bei der Systemtrennstellen auf der schwedischen Seite des Öresundes und an der deutsch-dänischen Grenze in Padborg nötig wurden.
Auf der anderen Seite sind die Kupplungen von Güterwagen europaweit kompatibel, jedoch technisch veraltet und unwirtschaftlich. Technische Neuerungen wie die Mittelpufferkupplung konnten sich nicht durchsetzen, weil immer Güterwagen über Grenzen fahren und mit den dortigen Fahrzeugen kuppelbar sein mussten. Die Kosten für eine umfassende Umstellung sind so groß, dass der unwirtschaftliche Betrieb weiter in Kauf genommen wird.
Technische Hindernisse
Spurweite
Eine einheitliche Spurweite ist die wichtigste Voraussetzung, damit Bahnfahrzeuge in verschiedenen Schienennetzen verkehren können. Lösungen, um dieses Hindernis zu überbrücken, sind beispielsweise Umspuranlagen, Mehrschienengleise und Rollwagen. Nachdem auf der iberischen Halbinsel (Spanien, Portugal, Stichwort Alta Velocidad Española) alle Neubaustrecken in Normalspur gebaut werden, und es immer noch Überlegungen gibt, auch den Bestand langfristig umzustellen, zeichnet sich in Europa ein klarer Trend zur Normalspur ab.
Siehe auch: Liste der Spurweiten
Lichtraumprofil
Ein zu kleines Lichtraumprofil verhindert, dass größere Fahrzeuge eine Strecke befahren können. Ähnlich verhält es sich mit der Wippenbreite von Stromabnehmern, nur dass hier wegen der Zick-Zack-Linie der Oberleitung zu breite und zu schmale Stromabnehmer ausgeschlossen werden müssen. Während eine Ausrüstung mit mehreren Stromabnehmern technisch relativ problemlos und günstig ist, ist bei Abweichungen vom Lichtraumprofil selbst eine Harmonisierung nur sehr teuer (Aufweitung von Tunnel, Vergrößerung Gleismittenabstand) zu bewerkstelligen. Insbesondere Großbritannien hat im Vergleich mit Resteuropa ein kleines Lichtraumprofil, zwischen den meisten mitteleuropäischen Ländern können moderne Lokomotiven, Güter- und Triebwagen eher problemlos ausgetauscht werden. Allerdings gibt es gewisse Einschränkungen (Begrenzungslinien, KLV-Verkehr) z. B. selbst innerhalb Deutschlands.
Stromsystem
Bei Eisenbahnen sind Gleich- und Wechselstrom mit unterschiedlichen Spannungen üblich. Den Übergang von einem Stromsystem in ein anderes nennt man Systemtrennstelle. Mehrsystemfahrzeuge können in verschiedenen Stromsystemen fahren und werden im grenzüberschreitenden Güterverkehr zunehmend Standard, ebenso im HGV-Verkehr (ICE 3M, TGV POS). Aufgrund des Energiebedarfs für Hochgeschwindigkeitsverkehr zeichnet sich bei Neubaustrecken ein klarer Trend zu 25kV/50Hz (außer in Ländern mit bestehendem 15kV/16,7Hz-Netz wie Deutschland) ab, insbesondere in Ländern mit relativ niedriger Gleichspannung (Niederlande, Südfrankreich) wird eine Umstellung des bestehenden Netzes immer wieder diskutiert, wäre aber entsprechend teuer.
Siehe auch: Liste der Bahnstromsysteme
Zugsicherung
Bei den Zugsicherungssystemen gibt es die größten Unterschiede zwischen den nationalen Eisenbahnnetzen. Da in den meisten Ländern bereits mehr als ein System verwendet wird, haben Mehrsystemlokomotiven bis zu zehn unterschiedliche Zugsicherungen eingebaut. Wegen Inkompatibilitäten müssen die fremden Zugsicherungen jeweils ausgeschaltet werden (bei Systemen mit Permanentmagneten, wie dem Integra-Signum, ist das nicht möglich). In Europa sollen die bestehenden, nationalen Zugsicherungssysteme durch den neuen Standard ETCS ersetzt werden.
Automatisierung
Auch bei Zugnummern-Meldeanlagen und Zuglenkung hat jeder Betreiber sein eigenes System. Das ERTMS soll in Zukunft auch das Verkehrsmanagement vereinheitlichen.
Übersicht
Land | Spurweite | Lichtraumprofil | Stromsystem | Wippenbreite | Zugsicherung |
---|---|---|---|---|---|
Deutschland
Österreich |
1435 mm | G2 EBO | 15 kV 16,7 Hz ~ | 1950 mm | Indusi, PZB, LZB |
Schweiz | 1435 mm | < G2 EBO
> UIC 505-1 |
15 kV 16,7 Hz ~ | 1450 mm | Integra-Signum, ZUB 121 |
Niederlande | 1435 mm | ≥ G2 EBO | 1500 V =
25 kV 50 Hz ~ |
1950 mm | ATB |
Belgien | 1435 mm | ≥ G2 EBO | 3000 V =
25 kV 50 Hz ~ |
1950 mm | TBL, Crocodile |
Luxemburg | 1435 mm | ≥ G2 EBO | 25 kV 50 Hz ~ | 1450 mm | Crocodile, TBL |
Frankreich | 1435 mm | UIC 505-1 | 1500 V =
25 kV 50 Hz ~ |
1950 mm
1450 mm |
Crocodile, TVM, KVB |
Italien | 1435 mm | UIC 505-1 | 3000 V =
25 kV 50 Hz ~ |
1450 mm | RS4 Codici, SCMT |
Spanien | 1668 mm
1435 mm (NBS) |
3000 V =
25 kV 50 Hz ~ |
ASFA, ZUB 121, LZB | ||
Portugal | 1668 mm | 25 kV 50 Hz ~ | EBICAB 700 | ||
Großbritannien | 1435 mm | < UIC 505-1 | 750 V =
25 kV 50 Hz ~ |
(DC Stromschiene) | AWS, TPWS |
Irland | 1600 mm | 1500 V = | |||
Dänemark | 1435 mm | ≥ G2 EBO | 25 kV 50 Hz ~ | 1800 mm | ATC |
Norwegen | 1435 mm | ≥ G2 EBO | 15 kV 16⅔ Hz ~ | 1800 mm | NSB |
Schweden | 1435 mm | ≥ G2 EBO | 15 kV 16⅔ Hz ~ | 1800 mm | ATC |
Finnland | 1524 mm *) | 25 kV 50 Hz ~ | EBICAB 900 | ||
Estland
Lettland |
1520 mm *) | 3000 V = | |||
Litauen | 1520 mm *) | 25 kV 50 Hz ~ | |||
Polen | 1435 mm | ≥ G2 EBO | 3000 V = | 1950 mm | SHP |
Tschechien
Slowakei |
1435 mm | ≥ G2 EBO | 3000 V =
25 kV 50 Hz ~ |
1950 mm | LS90 |
Ungarn | 1435 mm | ≥ G2 EBO | 25 kV 50 Hz ~ | 2050 mm | EVM 120 |
Slowenien | 1435 mm | 3000 V =
25 KV 50 Hz ~ |
*) Russische Breitspur
Identifizierung
Für eine einheitliche Identifizierung von Fahrzeugen, Behältern und Zügen hat die UIC für Bahnwagen und das Internationale Containerbüro verschiedene Nummernschemata standardisiert. So haben internationale Züge eine europaweit eindeutige Zugnummer. Die Bahnwagen haben eine europaweit einheitlich codierte UIC-Wagennummer. Die Container haben eine international einheitliche und genormte Behälternummer (BIC Code nach ISO 6346). Die Wechselbrücken haben bisher lediglich eine Größenkodifizierung, aber keine einheitliche Identifikation. Für Trailer gilt Entsprechendes, diese haben als Straßenfahrzeuge jedoch ein Fahrzeugkennzeichen.
automatische Leseverfahren
Die nationalen Bahnverwaltungen und die in diesen Unternehmen ausgebildeten Mitarbeiter der privaten Bahnunternehmen setzen moderne Managementmethoden des Transportwesens beispielsweise für die automatische Identifizierung von Bahnwagen und von Containern im Güterverkehr noch nicht ein. Es ist fraglich, ob ohne Generationswechsel eine Änderung eintreten wird.
Seit Anbeginn der Nummerung (Nummerierung) wird die Wagennummer visuell gelesen. das ist auch heute (2008) noch die Methode der Wahl. Kein Bahnunternehmen ist in der Lage, die Wagennummern automatisch und mit hinreichend geringer Fehlerquote (1 aus 10.000) zu lesen.
Mit OCR-Verfahren wird die Beschriftung (DB AG: Gerade Normschrift DIN 16 Variante DB) mit einer Fehlerquote geringer als 5% (1 aus 20) ausgelesen.
Barcode- Identifizierung
Ein eingeführtes System der Kennzeichnung mit Barcodes, die einfach die UIC-Nummer wiedergeben, ist nicht bekannt. Die geringe Unterstützung der Fehlerkennung durch lediglich Prüfziffern wäre nicht hinreichend für ein robustes Betriebskonzept.
Bei horizontaler Orientierung wäre das automatische Lesen durch Scannen bei Vorbeifahrt gut möglich. Bei vertikaler Orientierung wäre das automatische Lesen durch Scannen nur mit Kameraarrays bei Vorbeifahrt möglich.
Matrixcode-Identifizierung
Ein eingeführtes System der Kennzeichnung mit Matrixcodes, die einfach die UIC-Nummer wiedergeben, ist nicht bekannt. Beispielsweise wäre ein Data Matrix Code nach ISO/IEC 16022 ECC 200 gut geeignet. Diese Codes wären mit einem Kamerachip und Flash-Beleuchtung unabhängig von Witterungsbedingungen jederzeit gut zu erkennen.
Durch Fehlerkorrektur unter Verwendung der inhärenten Redundanz von 25% wäre es möglich, einen nur teilweise lesbaren Code sicher und zuverlässig zu rekonstruieren. Die gute Unterstützung der Fehlererkennung und -korrektur durch Redundanz ist der einzige Ansatz, der eine Kodierung der visuellen Erkennung von Anfang an überlegen macht. Eine visuell-manuelle Nachbearbeitung wäre bei entsprechender Verkettung der Daten aus Zugläufen entbehrlich.
Durch geeignete Farbwahl (Pigmente, Farbe, Träger, Auftragsverfahren) kann diese Kennzeichnung fälschungssicher und dauerhaft gestaltet werden.
RFID-Identifizierung
Für Zugsysteme ist teilweise und für einzelne Wagentypen eine RFID-Codierung eingeführt. Diese unterstützt aber in der regel nicht den Fahrbetrieb, sondern lediglich die Bewirtschaftung der Zugeinheiten in der Wartung und Instandsetzung.
Die allgemeine Einführung von RFID-Tags für alle Güterwagen wird wegen der geringen Bereitschaft zur Durchsetzung mit den großen Bahnunternehmen für vergleichbar wahrscheinlich gehalten, wie die Einführung der automatischen Kupplung, seit deren Erfindung durch Karl Scharfenberg 1904 bereits 104 Jahre ohne eine allgemeine Einführung vergangen sind.
Bei horizontaler Orientierung wäre das automatische Lesen von seitlich angebrachten RFID-Tags durch Scannen bei Vorbeifahrt gut möglich. Das Konzept muss eine Kennzeichnung enthalten, die entweder beiderseits angebracht wird (gutes Konzept weegen inhärenter Redundanz der Kennzeichen) oder mit beiderseitiger Lesung erfasst wird (teureres Konzept wegen überall erforderlicher Doppel-Antennenausrüstung). Bei doppelter Kennzeichnung muss eine Standardisierung der Nummernvergabe sicherstellen, dass RFID-Tags eineindeutige Identnummern tragen und zusätzlich eindeutige Wagennummern aufnehmen.
RTLS Lokalisierung
Die von Tochterunternehmen der DB AG seit Jahren betriebene Suche nach einer preisgünstigen und robusten Instrumentierung von Bahnwagen für die automatische Lokalisierung einschließlich der Identifizierung tritt auf der Stelle. Weder ist der Betreiber bereit, von seinen Vorgaben abzugehen, noch ist die Industrie in der Lage, die Preisvorstellungen der Betreiber zu erfüllen.
TAF-TSI
Die Bestimmungen der Europäischen Kommission in der Technische Spezifikation für die Interoperabilität (TSI) für Telematikanwendungen für Fracht (TAF) setzen die Eisenbahnverkehrsunternehmen (EVU) unter Druck, die Interoperabilität auf der Grundlage einheitlicher Vorgehensweisen bis zum verpflichtenden Termin allgemeiner Einführung nachhaltig zu verbessern.
Die Kommission hat mit der Verordnung (EG) Nr. 62/2006 der Kommission vom 23. Dezember 2005 über die technische Spezifikation für die Interoperabilität (TSI) zum Teilsystem Telematikanwendungen für den Güterverkehr des konventionellen transeuropäischen Eisenbahnsystems verabschiedet, veröffentlicht im Amtsblatt L13 vom 18. Januar 2006, S.1. Die begleitenden Dokumente unter Anhang A der Verordnung 62/2006 sind beigefügt (nur Englisch, pdf format):
- Anhang 1: Datendefinition und Meldungen (Document reference: AEIF_TAF_MesData_V11_041021-EN.doc)
- Anhang 2: Infrastrukturdaten und Fahrzeugdaten (Document reference: AEIF_TAF_DbsData_V10_040322-EN.doc)
- Anhang 3: Die Frachtbriefdaten und Beschreibung (Document reference: AEIF_TAF_ConData_V10_040622-EN.doc)
- Anhang 4: Die Zugtrassendaten und Beschreibung (Document reference: AEIF_TAF_PatData_V10_040622-EN.doc)
- Anhang 5: Abbildungen und Ablaufdiagramme der TAF TSI Meldungen (Document reference: AEIF_TAF_FigSeq_V10_040622-EN.doc)
- Anhang 6: TAF-Konfigurationsmanagement, Koncept und allgemeine Anforderungen (Document reference: AEIF_TAF_CofMgt_V10_040920-EN.doc).
Sichere Transportketten
Bei Kennzeichnung von Containern auf Bahnwagen an der Türseite im Sechserpack (3x2 TEU) wurden in USA 2005 Lesequoten von 60% nachgewiesen.
Organisatorische und rechtliche Erschwernisse
Zulassungen
Fahrzeuge – speziell Mehrsystemlokomotiven – brauchen in jedem Land eine nationale Zulassung. Das ist teuer und administrativ aufwendig.
Betriebsordnung
Jedes Land kennt andere Betriebsordnungen und Signalsysteme. Die Unterschiede in der Eisenbahnsignalisierung sind zum Teil erheblich und nicht mit den Unterschieden in der Straßensignalisierung vergleichbar. Personal, das international eingesetzt werden soll, braucht die Zusatzausbildung und entsprechende Prüfungen.
Betrieb
Betriebliche Unterschiede erschweren die Übergabe eines Zuges an eine fremde Bahngesellschaft und auch den Verkehr im Netzzugang.