Protophysik ist eine zwischen Mathematik und Physik angesiedelte Vorphysik der Messinstrumente, in der man sich Rechenschaft über die Bestimmung von Messinstrumenten verschafft und diese durch operative Normen bestimmt.
(Ein Hinweis für Kantianer: Dies ist eine philosophische Richtung, die an Kant anküpft, wobei die apriorischen transzendentalen Anschauungsformen hier durch normierte Messgeräte ersetzt werden.)
Dies wurde in Anschluss an Hugo Dingler
- für die Geometrie,
- die Zeitrechnung (Fachwort: Chronometrie) und
- die Wahrscheinlichkeitstheorie (Stochastik)
von Peter Janich, Paul Lorenzen und Rüdiger Inhetveen im Rahmen des Methodischen Konstruktivismus ab der zweiten Hälfte der 1960er Jahren ausgearbeitet. Dabei geht es um eine zirkelfreie Grundlage der empirischen Wissenschaften. Die durch operative Normen definierten Geräte sind nicht mehr selbst empirische Forschungsgegenstände, sondern Artefakte.
Protophysikalische Theorien
Protogeometrie: Ebene Gegenstände (Lineale) werden mittels Dreiplattenverfahren (Hugo Dingler) bestimmt. Das ist ein Verfahren, drei Plattenoberflächen wechselseitig aneinander (mit Sandpapier) zu schleifen. Ersichtlich werden Hohlräume oder Erhebungen dabei wechselseitig niveliert. Ein solches Verfahren ist natürlich ein Prototyp. Aber solche Prototypen erklären den Sinn der Ebnung (wie etwa bei einer Polierung).
Konstruktion der Geometrie: Was die Geometrie angeht, wird über das Formprinzip (Inhetveen 1983, Lorenzen 1983) eine Euklidische Geometrie konstruiert. Konstruktionsgleiche Figuren sind ähnlich (formgleich). Dabei wird auch das berühmte fünfte euklidische Axiom verwendet. Janich führt die Euklidische Geometrie schon protogeometrisch (also theoretisch vorgelagert) über eine Keil-Kerbe-Invarianz (Janich 1992) ein.
Protophysik der Zeit: Uhren werden als frei schubsynchrone Taktgeber definiert. Baugleiche Taktgeber (Kopien) werden nämlich versetzt gestartet. Gleichförmig geht eine solche Uhr, wenn sie gleichzeitig mit ihrer Kopie tickt (vgl Janich, 1980).
Stochastik: Für Zufallsgeneratoren (etwa Würfel oder Urnen) ist unter anderem (alles was eben die Zufälligkeit gewährleistet) ein wichtiges Kriterium, dass die Resultate vor dem Würfeln, Ziehen oder ä. durch kein Wissen unterscheidbar sind. Hat man 3 rote und 7 blaue Kugeln in einer Urne, so soll der "Zieher" nicht die Unterschiede erkennen, sondern blind ziehen. Auch die Güte von Zufallsgeneratoren kann durch statistische Vergleiche mit baugleichen Kopien überprüft werden (vgl Lorenzen 1985).
Andere Prototheorien: Von Peter Janich wurde der Ansatz auch auf andere Gebiete (Materie, Grundlagen der Biologie und Chemie usw.) ausgeweitet, so dass man im Methodischen Konstruktivismus allgemein von Protowissenschaften oder Prototheorien spricht.
Ausarbeitung
Abstraktion von der Endlichkeit: Die Abstraktion von der Endlichkeit der Geräte ist gleichzeitig eine Abstraktion von den (stofflich physikalischen) Geräten selbst. Aus ebenen Oberflächen werden Ebenen, aus Uhren Zeitabläufe und aus den Zufallsgeneratoren Wahrscheinlichkeiten sprachlich konstruierbar.
Verfahren und Ziele: Bei der Bestimmung der Geräte durch Normen ist es nicht wichtig, ob man einerseits Ziele, Kriterien oder so genannte Homogenitätsprinzipien für das Ideal der Geräte angibt (also etwa dass eben frei klappsymetrisch ist) - oder ob man andererseits Verfahren (wie das Dinglersche Dreiplattenverfahren) oder normierte und reproduzierbare Operationen angibt, die diese Kriterien erfüllen.
Das eine gewährleistet das andere. Geht man nämlich in den Verfahren genügend weit, so kommt man den Zielen beliebig nah. (Vergleich zur Mathematik: Benutze ich das Babylonische Wurzelziehen für die Quadratwurzel von 2 oft genug, so erfülle ich die Gleichung ² = 2 mit beliebig klein werdender Fehlertoleranz.) Platten, die man wechselseitig aneinander abgeschliffen hat, die passen hinterher frei klappsymetrisch aufeinander.
Hinweise zur Diskussion Protophysik vs. Relativitätstheorie
Einige Aussagen der Protophysik scheinen im Widerspruch zur Relativitätstheorie zu stehen. Das gilt für die Definition der Gleichzeitigkeit, als auch für die Überlegungen zur Geometrie, da eine euklidische Raumzeit mit der Allgemeinen Relativitätstheorie unverträglich zu sein scheint.
Auch liegt der Vergleich zwischen Protophysik und den antisemitischen Strömungen der Deutschen Physik nahe. Auch wenn die Protophysik heute nur an der sachlich-methodischen Frage interessiert ist, war Hugo Dinglers Rolle im Nationalsozialismus dubios opportunistisch.
Protophysiker, die den genannten Widerspruch zur Relativitätstheorie auflösen wollen, bestreiten die Mehrheitsmeinung der Physiker, dass die Konsequenz der Allgemeinen Relativitätstheorie eine tatsächliche Krümmung des Raums sei. Sie sehen im metrischen Tensor der Einsteinschen Feldgleichungen "nur" eine mathematische Beschreibung (vgl. Paul Lorenzens Interpretation 1978 der Physik Steven Weinbergs 1972). Die nichteuklidische "Geometrie" wird von den Protophysikern nicht als eigentliche Geometrie gedeutet, sondern als (geniales) mathematisches Hilfsmittel, um die aposteriorischen Effekte der (empirisch gut bestätigten) Relativitätstheorie zu beschreiben.
Literatur
- Dingler, H., Die Methode der Physik, München 1938
- Janich, P., Die Protophysik der Zeit, 1969, Frankfurt 1980²
- Weinberg, Steven: Gravitation and Cosmology: Principles and Applications of the General Theory of Relativity, New York 1972, ISBN 0471925675
- Böhme, G. (hrsg.), Protophysik - Für und wider eine konstuktive Wissenschaftstheorie der Physik, Frankfurt am M. 1976
- Lorenzen, P: Theorie der technischen und politischen Vernunft, Reclam Stuttgart 1978 ISBN 315009867X (Weinberginterpretation)
- Inhetveen, R.: Konstruktive Geometrie. Eine formentheoretische Begründung der euklidischen Geometrie, Mannheim/Zürich/Wien 1983
- Lorenzen, P.: Grundbegriffe technischer und politischer Kultur, Frankfurt am Main 1985
- Lorenzen, P.: Lehrbuch der konstruktiven Wissenschaftstheorie, Zürich 1987, Stuttgart 2000 ISBN 3-476-01784-2
- Lorenzen, P.: Elementargeometrie als Fundament der Analytischen Geometrie, Mannheim/Zürich/Wien 1983 ISBN 3-411-00400-2
- Janich, Peter: Die technische Erzwingbarkeit der Euklidizität, in ders. (Hrsg.): Entwicklungen der methodischen Philosophie, FaM 1992
- Janich, P.: Das Maß der Dinge - Protophysik von Raum, Zeit und Materie, Frankfurt am Main 2002