Religionskritik

Kritik am Glauben an Gott
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Religionskritik bezeichnet die rationale Infragestellung von religiösen Glaubensaussagen, Konzepten und praktischen Erscheinungsformen. So wie es verschiedene Religionen, Ausdrucksformen innerhalb einer Religion und Religionsbegriffe gibt, so ist auch die Kritik daran historisch vielschichtig. Der Artikel stellt philosophische, naturwissenschaftliche, sozialwissenschaftliche, psychologische und theologische Kritikansätze in Vergangenheit und Gegenwart dar.

Die Antwort auf Kritik, die sich von "außen" gegen eine empirische Religion richtet, kann von "innen" auf verschiedene Weise beantwortet werden. Die christliche Theologie hat seit dem 2. Jahrhundert für die Verteidigung der christlichen Lehren Begriff und Teildisziplin der Apologetik entwickelt; die reformatorische Theologie stellt demgegenüber seit dem 16. Jahrhundert heraus, dass Gottes Wort als einziger gültiger Maßstab des Christentums seinerseits eine Religionskritik auch an der Apologetik enthält.

Religionskritik in der Antike

Vorsokratische griechische Ursprungsphilosophie

Die abendländische Geistesgeschichte hat seit der griechischen Ursprungsphilosophie das Konzept der "Vernunft" (griech. λογος) ins Zentrum ihrer Reflexion gerückt. Die "Warum"-Frage, aus dem Staunen über den Kosmos geboren, nach seinem Grund und Sinn suchend, ist der Beginn dieser philosophischen Haltung. Damit begann "das Sterben der Götter": In allen Varianten griechischen Geistes war eine Kritik an überkommener Religion, am Mythos der Götterwelt, am Schein oder am falschen Sein des allzu selbstverständlich Gegebenen, an der Unvernunft möglich, angelegt und großenteils auch ausformuliert. Wissen stand tendenziell von vornherein gegen Glauben.

Schon die Vorsokratiker suchten den Urgrund aller Dinge (griech. αρχη) nicht jenseits der Welt, sondern in ihr. Thales von Milet (um 630-560 v. Chr.) fand ihn in einem einheitlichen Urstoff, für ihn das Wasser. Auch die Theogonie Homers und Hesiods sah "Okeanos" als Ursprung aller Götter: ein uralter Schöpfungsmythos, der auch hinter der biblischen Vorstellung von der "Urflut" (Gen. 1, 2) steht. Doch Thales transformierte diesen Gedanken von einer mythischen in eine wissenschaftliche Aussage mit Anspruch auf empirische Prüfbarkeit.

Sein Schüler Anaximander (um 610-547 v. Chr.) versucht aus dem damals zugänglichen Wissen erstmals ein konsistentes Weltmodell abzuleiten. Er kommt vom Gedanken der unendlichen Zeit (Werden und Vergehen) zum negativen Grenzbegriff des Grenzenlosen (griech. απειρον): Der Urgrund kann selber kein bekannter Stoff sein, da alle Stoffe zeitlicher Veränderung unterliegen. Er muss in Allem enthalten sein, ohne je wahrnehmbar und bestimmbar zu werden. Das schließt alle positiven Aussagemöglichkeiten über ihn aus.

Für Anaximenes (um 585 - 524 v. Chr.) dagegen muss die grenzenlose Ursubstanz bestimmbar sein, da sonst aus ihr keine konkreten Dinge entstehen könnten. Er findet sie in der "Luft", die alle Substanzen durchdringt und als ständige Bewegung ihre Qualitätsänderungen bewirkt.

Pythagoras (ca. 580 - 500 v. Chr.) führt die Veränderungen der Dinge nicht auf einen Urstoff, sondern auf mathematisch berechenbare Gesetzmäßigkeiten zurück. Diese sind dem Menschen erkennbar, weil seinem Geist das Zahlensystem innewohnt. Damit nahm er Platons Ideenlehre vorweg und begründete - ausgehend von den Proportionen der Obertonreihe - die Lehre der Sphärenharmonien. Er bekämpfte die Göttermythen Homers und lehrte eine unpersönliche Gottheit ohne menschliche Eigenschaften. Aber er glaubte unter ägyptischem Einfluss auch an die zyklische Wanderung der unsterblichen Seelen und übernahm Rituale aus dem Apolloskult und dem Orpheuskult.

Auch Xenophanes (570 - 475 v. Chr.) kritisiert den Anthropomorphismus der Homerischen Göttermythen und sieht darin Projektion ("jedes Volk stellt sich die Gottheit so vor, wie es selbst aussieht"). Er argumentiert ethisch gegen die Vielheit der Götter, die diesen unsittliches Verhalten zutraue, für die Reduktion des Göttlichen auf ein einheitsstiftendes Urprinzip. "Gott" muss ein einziges, umfassendes, alle Vorstellungen übersteigendes vollkommenes Verstandeswesen (griech. νους) sein: darin der Kugelform ähnlich.

Sein Schüler Parmenides (geb. um 540, Todesjahr unbekannt) stellt den Begriff des Seins (Οων) ins Zentrum seiner Reflexion und gibt der abendländischen Philosophie damit jahrhundertelang ihr Thema vor. Er geht (wie später Descartes, s.u.) vom Denken aus und schließt in einem klassischen Syllogismus das Nichtsein als undenkbar aus: Denken bedeutet Seiendes denken und ist nur als logisches Urteilen in Form des Aussagesatzes (Subjekt - Prädikat) möglich. Das "ist" im Urteilssatz beweist das Dasein des gedachten Gegenstandes. Das "Sein" ist nicht nur Objekt, sondern auch Mittel des Denkens, ja es denkt selber. Damit nimmt Parmenides den ontologischen Gottesbeweis schon vorweg.

Empedokles (um 483 - 423 v. Chr.) erkennt nur dem Stoff Sein zu, der bleibt. Werden ist Bewegung, die als Kraft auf quantitativ beständigen Stoff wirkt: Das begründete die mechanische Physik. Aber die Vielfalt des Werdens lässt sich unmöglich aus einem einzigen Urstoff erklären. So lehrt er die vier Elemente Feuer-Wasser-Erde-Luft, die sich ständig neu verbinden und trennen und so Werden und Vergehen erzeugen, ohne je das Gesetz der Stofferhaltung zu brechen: Das begründete die Chemie. Doch auch er hielt die Idee einer nichtstofflichen Geisterwelt fest und glaubte an die Seelenwanderung als Strafe des Schicksals für in diesem Leben begangene Verbrechen.

Bei Demokrit (460 - 390 v. Chr.) wird daraus eine konsistente materialistische Weltanschauung mit vier Grundaussagen:

  • Nichts existiert als Atome und leerer Raum.
  • Substanz besteht ewig und unveränderlich. Aus Nichts kann nichts entstehen.
  • Alles Werden ist mechanische Bewegung.
  • Nichts geschieht ohne Ursache: Das Kausalgesetz gilt universal.

Darauf baut er sein Weltbild auf, das etwa moderne Theorien der Planetenentstehung und den biologischen "survival of the fittest" (das Überleben der Stärksten) schon erstaunlich genau vordachte. Für Götter und Geister war nun kein Raum mehr: Auch die Seele ist feinstofflich und zerstreut sich nach dem Tod des Einzellebens.

Anaxagoras (um 500 - 428 v. Chr.) fragt nach dem wahren "ersten Bewegenden" des mechanischen Prozesses, das Demokrit offen ließ. Zugleich lehrt er andere, feste Elementarteilchen (spermata), aus denen auch Feuer und Luft sich zusammensetzen. Alles "entsteht" aus Allem, indem es sich neu mischt und scheidet; Eigenschaften sind nur Mischungsverhältnisse. Umso mehr fragt sich, was zur ständigen Neuordnung der Teilchen den Anstoß gibt: Es kann nicht in der Materie selbst liegen, sondern muss Geist (νους) sein, der alle Dinge sinnvoll und zweckmäßig ordnet. Er sah diese einfache, mächtige und wissende Essenz aber nicht als Gottheit, sondern als feinsten aller Stoffe, der so von allen übrigen Substanzen geschieden ist und sie doch alle umgibt, durchflutet und umherwirbelt. Nur der Mensch hat Anteil an diesem Wesen; darum kann er es erkennen und die Welt der Dinge, Pflanzen und Tiere beherrschen. - Anaxagoras wurde als "Atheist" angeklagt und verließ Athen deshalb.

Klassische griechische Philosophen

Aristoteles kritisiert mit seiner metaphysischen Fragestellung nach der prima causa (ersten Ursache) sowohl die gewöhnliche Naturreligion, die an eine Vielzahl menschenähnlicher Götter glaubt, als auch das mechanistische und atomistische Weltbild, das der Vielfalt der Erscheinungen nicht gerecht werde. Sein Begriff des notwendigen, aber transzendenten "unbewegten Bewegers" als Weltgrund kritisiert alle Ursprungsideen, die das Göttliche als Teil der Welt denken.

Stoiker, Skeptiker und Epikuräer

Die Stoa wiederum kritisiert mit ihrer aus Naturbeobachtung gewonnenen Idee der "providentia dei" (Vorsehung) eben jene Gottesvorstellungen, die einen Weltgrund von der Welt getrennt denken, als rationale Erfindung.

Die Skepsis kritisiert die metaphysische Kosmologie wie die empirische Teleologie (Zielgerichtetheit) als menschliche Konstrukte, die an der widersprüchlichen Naturerfahrung zerbrechen. Sie bestreitet die Möglichkeit eines metaphysischen Rückschlussverfahrens zum Erweis eines Weltgrundes oder der Sinnhaftigkeit der Welt.

Die Zielrichtung skeptischer Kritik ist also divergent: Sie kann den Gottesbegriff (als Reflexion auf den Weltgrund) ebenso bestreiten wie die Gotteserfahrung (als Reflexion auf das eigene Welterleben). Sie zielt in jedem Fall auf die Behauptung einer Notwendigkeit eines - wie auch immer gearteten - Gottes für die Welt und den Menschen. Dabei ist der Ansatz dieser Kritik seinerseits empirisch:

  • Ohne direkte Hinweise auf die Existenz überirdischer Wesen gibt es keine Notwendigkeit, ihre Existenz anzunehmen. Dies betrifft alle Religionen, die an Götter glauben, besonders aber personale Gottesvorstellungen.
  • Ohne direkte Hinweise auf die Existenz übernatürlicher Wirkungen gibt es keine Notwendigkeit, ihre Existenz anzunehmen. Dieser Kritikpunkt zielt auf religiöse Konzepte wie eine 'Weltkraft' oder einen 'Weltgeist', also auf der Natur und Geschichte inhärente Gottesvorstellungen.

Im Ergebnis kommt diese philosophische Kritik jedoch nicht über die allgemeine Skepsis an allen positiven Glaubensaussagen hinaus: Religion als Begegnung des Menschen mit einer existierenden oder gedachten Transzendenz ist philosophisch weder zu beweisen, noch zu widerlegen.

Epikur gibt dann erstmals eine rationale Erklärung für das Entstehen der Religion, die den Projektionsverdacht Feuerbachs (s.u.) schon vorwegnimmt: Ihre Lehren seien nur ein Abbild menschlicher Ideen, die keine äußeren Einwirkungen zu ihrer Erklärung benötigen. Die Götter der griechischen Mythologie erwiesen sich duch ihre anthropomorphen (menschenähnlichen) Züge als Wunschgebilde. Diese Kritik trifft auch das personal gedachte Gottesbild der Bibel, das den Schöpfergott mit menschlichen Eigenschaften ausstattet und vom "eifersüchtigen", "zornigen", "reuigen" und "liebenden" Gott spricht.

Religionskritik der Aufklärung

Naturwissenschaftliche Kritik an der Scholastik

Die Lehren vieler Religionen enthalten mehr oder weniger konsistente Grundannahmen über die Natur als Ganzes, über die Entstehung, aber auch die Zukunft ("Erlösung") der Welt und des Menschen. War damit ein Anspruch auf allgemeingültige deskriptive Wahrheit verbunden, dann geriet dieser auf der Ebene von Tatsachenprüfung unvermeidbar in die naturwissenschaftliche Kritik.

Die christliche Theologie hatte seit dem Zeitalter der Apologetik (2. Jahrhundert) versucht, christliche Glaubenssätze mit einem philosophischen Weltbild in Einklang zu bringen. Seit Thomas von Aquin wurde Offenbarung und rationale Welterkenntnis in ein gemeinsames umfassendes Lehrsystem integriert. Die kirchliche Scholastik hatte sich dem geozentrischen Weltbild verschrieben, das seit Phytagoras und Aristoteles als "bewiesen" galt.

Mit Kopernikus, Johannes Kepler und Galileo Galilei zerbrach dieses Weltbild und damit das Wahrheitsmonopol der katholischen Kirche. Die Emanzipation der experimentellen Naturwissenschaft ließ sich trotz theologischer Bevormundung nicht mehr aufhalten.

Autonomes Selbstbewusstsein, Kritik der Gottesbeweise und der Intoleranz

Mit Rene Descartes gewinnt die Antithese zwischen Philosophie und Theologie in der frühen Neuzeit an Schärfe: Erstmals begründet das denkende Subjekt Selbstbewusstsein autonom. Von der intuitiven Erfahrung des "cogito, ergo sum" (ich denke, also bin ich) aus gewinnt der Begriff Gottes nur noch sekundär stützende Funktion. Damit ist die Vorherrschaft der Scholastik mit ihrer Synthese von natürlicher Theologie und Offenbarung gebrochen.

Immanuel Kant führt die "Kritik der reinen Vernunft" durch: Alle metaphysischen Gottesbeweise überschreiten unzulässig die kategorialen Grenzen menschlicher Vernunft. Er beweist insbesondere die Unmöglichkeit des ontologischen Rückschlusses von der Essenz zur Existenz Gottes (Anselm von Canterbury), auf den er die übrigen Gottesbeweise zurückführt.

Gotthold Ephraim Lessing betrachtet Religion in Gestalt von Judentum, Christentum und Islam einerseits als historischen Ursprung, andererseits als zu überwindende Vorstufe einer selbsttätigen Vernunftreligion. Er fordert einerseits Toleranz und gegenseitige Achtung von den Weltreligonen (Nathan der Weise), andererseits Aufklärung des in Religionssystemen gefesselten Kinderglaubens zu Gunsten eines zukünftigen sittlichen Humanismus ("Erziehung des Menschengeschlechts").

Religionskritik im 19. Jahrhundert

Friedrich Schleiermacher versucht im Rahmen der romantischen Gegenbewegung zum Rationalismus das religiöse "Gefühl der schlechthinigen Abhängigkeit" den Gebildeten wieder nahezubringen. Er sieht das subjektive, nicht begrifflich fassbare Erleben der Unendlichkeit als rein rezeptive, passive Form des Selbstbewusstseins, die sich jedem aktiven kritischen Zugriff der Ratio entzieht. Damit greift er in gewisser Weise die mittelalterliche Mystik mit ihrer Kritik an veräußerlichten Religionsformen wieder auf. Er kritisiert von da aus den Dogmatismus und Konfessionalismus der protestantischen Staatskirchen, verlangt aber keine institutionelle Trennung von Staat und Kirche.

Im deutschen Idealismus versucht Hegel, das begrenzte subjektive Selbstbewusstsein - den religiösen Glauben - als Teilmoment der Selbstentfaltung des zu sich kommenden Weltgeistes dialektisch "aufzuheben". Damit macht er gegen die Romantiker die Arbeit des Begreifens, den Anspruch der Wahrheit auf das Ganze - die Totalität der erfahrbaren Dinge inklusive der menschlichen Geschichte - wieder geltend.

Ludwig Feuerbach, Schüler Hegels, wendet den zu-sich-selbst-kommenden Begriff kritisch gegen die Religion und "entlarvt" sie als Projektion: "Gott" ist nur der an den Himmel projizierte Selbstausdruck des endlichen Selbstbewusstseins, das sich Unendlichkeit ersehnt. Er entfaltet diese Kritik vor allem auch an Zentralgedanken der Theologie Martin Luthers: Die Inkarnation - "Gott wird endlicher Mensch" - ist eigentlich "nicht anderes als" der verkehrte Wunsch des Menschen, unendlich und unsterblich - wie Gott - zu werden. Indem er dies erkennt, kann die in der Religion fehlgeleitete Vernunft zur Humanisierung freigesetzt werden: In der zwischenmenschlichen Liebe findet der Mensch seine wahre Erfüllung. Damit lehnt Feuerbach das religiöse Element des menschlichen Selbstbewusstseins nicht per se ab, will es aber "übersetzen" und einsetzen für die Gestaltung eines humanen Zusammenlebens.

Nietzsche greift im Rahmen einer umfassenden Kulturphilosophie das von der Religion geprägte Menschenbild an, um dem Menschen einen Raum für neue Selbstbestimmung zu eröffnen. Der klischeehafte moralische Dualismus betrachte Menschen entweder prinzipiell als "gut", "perfekt" und "heilig" oder aber als "schlecht" bzw. "sündig" und verfehle damit die Realität: Diese Kritik trifft neben dem Christentum auch andere Religionen, vor allem das Judentum, aber auch den Neokantianismus, den Nietzsches Vater (ev. Pfarrer) vertrat.

In seiner Spätzeit spitzt Nietzsche seine Kritik auf den Kern der christlichen Botschaft zu ("Der Antichrist - Fluch auf das Christenthum"): Er sieht in der Anbetung eines Gekreuzigten eine barbarische Schwächung aller edlen Eigenschaften des Menschen, so dass er sich die Befreiung zum wahren Menschsein nur als totales Abstreifen des abendländischen Christentums vorstellen kann. In seiner Theorie vom "Übermenschen" gelangt er zu einer Verherrlichung des Dionysoskultes. In seiner Idee der "ewigen Wiederkehr aller Dinge" übernimmt er eine aus Indien stammende Reinkarnationslehre, die bei ihm ganz auf die Steigerung des Lebensgefühls und der Lebensmacht ausgerichtet ist. Diese anthropologische Stoßrichtung radikalisiert die Metapher vom "Tod Gottes", die Nietzsche von Jean Paul übernimmt und radikalisiert (in "Der Wanderer und sein Schatten", "Die Fröhliche Wissenschaft" und "Also Sprach Zarathustra").

Stand im 18. Jahrhundert die kirchliche Vormacht auf Welterklärung im Feuer der aufgeklärten Kritik, so rückte im 19. Jahrhundert die soziale Funktion der (vor allem christlichen) Religion in den Vordergrund des kritischen Interesses. Sie wird nun immer stärker als Sammlung von Methoden der Selbstberuhigung, Fremdkontrolle und Herrschaftssicherung angesehen. Vorausgegangen waren große Umbrüche im theoretischen Selbstverständnis von Religion, sowohl in der Theologie wie der Philosophie.

Karl Marx übernimmt Feuerbachs Religionskritik und sieht sie als notwendige Vorstufe der Gesellschaftskritik. In deren Verlauf kritisiert er zugleich Feuerbachs rein individualistischen, selbst noch dem Idealismus verhafteten Ansatz und stellt ihm seine berühmten "11 Thesen zu Feuerbach" entgegen, die in der 11. These gipfeln:

"Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt darauf an sie zu verändern."

Mit diesem Impetus begreift Marx in seinen Frühschriften Religion als :"...Protestation gegen das Elend...Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volkes."

Damit hat Marx bereits klar die Ambivalenz religiösen Bewusstseins ausgesprochen: Es ist für ihn - wie für Feuerbach - Ausdruck eines grundlegenden Mangels im sozialen Miteinander. Es kann sich daher sowohl als Protest gegen das Elend wie als Flucht aus dem Elend in einen illusionären Rausch, also als Selbsttäuschung und Beruhigung über das Elend äußern. In beidem verbirgt sich jedoch eine fundamentale Unfähigkeit, dessen wahre Ursachen zu entdecken und ihnen praktisch abzuhelfen. Darum geht Marx nun immer stärker von der Religionskritik zur Kritik der politischen Ökonomie, also zur Analyse der auf gesetzmäßiger Ausbeutung gegründeten Klassengesellschaft über. Er kritisiert jene Religionskritiker, die diesen Sprung nicht mitvollziehen und sich an der äußeren Erscheinung der Religion abarbeiten. Mit der Überwindung des Kapitalismus, so erwartet er, wird auch die Religion ihre scheinhafte Notwendigkeit verlieren und - wie der Staat, dessen soziales Ferment sie ja ist - in der klassenlosen Gesellschaft "absterben".

Max Weber antwortete auf Marx mit einem eher geisteswissenschaftlichen und historischen Ansatz: Er sieht Religion in Gestalt des europäischen Protestantismus als Wegbereiter der modernen kapitalistischen Industriegesellschaft. Die "Lohnethik" Johannes Calvins habe zu einer asketischen Verzichtshaltung und zum Aufschub unmittelbarer Bedürfnisbefriedigung beigetragen. Dies habe die Einführung von industriellen Fertigungsmethoden, Produktion von Überschüssen, Realisierung von Mehrwert in neuen Fabriken ermöglicht. Anders als Marx sieht er darin nicht nur ein negatives Element von Klassenherrschaft, sondern auch ein Element des Fortschritts und größerer geistiger Freiheit.

Freud ist davon überzeugt, dass ein religiöses Bewusstsein eine Selbstentzweiung ist und eine Neurose. Der Mensch sieht Gott als Vaterfigur, da der Mensch einen Vater braucht, der Verantwortung übernimmt. Gottesglaube sei hiernach der Wunsch nach Erklärung und Sicherheit, also reiner Irrglaube und letztlich ein psychologisches Problem. Freud setzte sich jedoch nie mit der Existenz Gottes auseinander.

Freuds Schüler Wilhelm Reich versucht Marxismus und Psychoanalyse miteinander zu verbinden. Er sieht die modernen Sexualneurosen als Ergebnis eines jahrtausende alten kulturellen Masochismus.

Religionskritik im 20. Jahrhundert

Albert Einstein revolutioniert das seit Newton gültige mechanistische Weltbild erneut. Im Ergebnis der rasanten wissenschaftlichen Entwicklung stehen praktisch alle mythologischen, metaphysischen und theologischen Paradigmen in Frage. Ihnen widersprechen offenkundig der aktuelle Wissensstand über die Entstehung von Universum, Leben und Mensch:

  • Das Konzept einer Schöpfungsgeschichte (jüdisch-christlich-islamische Tradition) lässt sich nicht mit der Theorie vom Urknall in Einklang bringen.
  • Das Konzept einer "ewigen Wiedergeburt" (Hinduismus, Buddhismus) findet keine Bestätigung in der historischen Genese des Lebens und der Evolution der Arten.
  • Intelligentes Bewusstsein wird in manchen Religionen als Qualitätssprung angesehen, der nicht evolutionär denkbar sei, sondern auf einen Schöpfer oder eine Weltvernunft (z.B. das Brahman) hinweise. Dagegen zeigt die Evolutionstheorie mit dem Konzept der Emergenz wie sich eine graduelle Entwicklung des menschlichen Großhirns vollzieht.
  • "Wunder" als kontingente Ereignisse ohne physikalische Erklärung setzen voraus, dass ein "höheres Wesen" die Naturgesetze beliebig ein- und ausschalten könnte. Für ein solches unerklärbares Aussetzen des Ursache-Wirkungs-Prinzips gibt es aber keine empirischen Hinweise ("es geht alles mit rechten Dingen zu!").
  • Transzendente Zukunftserwartungen wie das jüdisch-christlich-islamische Konzept der "Auferstehung" widersprechen ebenfalls dem gesetzmäßigen Energieausgleich gemäß dem 2. Hauptsatz der Thermodynamik und der berechenbaren Endlichkeit des Universums gemäß der allgemeinen Relativitätstheorie, die durch astronomische Beobachtung gestützt wird.

Naturwissenschaftlicher Atheismus

Seit Kant ist die moderne Philosophie von deutlicher Distanz zu jeder Art von Metaphysik geprägt und sieht religiöse Deutungsmuster der Wirklichkeit unter dem Vorzeichen des Irrealen und Irrationalen. Der neuzeitliche Atheismus ist methodisch für die Naturwissenschaft verbindlich. Er tritt nun aber auch als geisteswissenschaftlich konsistent ausformulierte Position hervor, die die real existierende Religion nicht nur aufzuklären (Kant), zu humanisieren (Feuerbach) oder zu zerstören (Nietzsche), sondern als Ganzes zu überwinden (Marx) anstrebt.

Dies vertritt zum Beispiel der Mathematiker und Philosoph Bertrand Russell in seinem berühmten Essay "Why I Am Not A Christian" (1927). Die Grundlage der Religion sei die Angst - vor dem Mysteriösen, vor der Niederlage, vor dem Tod. Angst sei der Vater der Grausamkeit und so nehme es nicht Wunder, dass Grausamkeit und Religion historisch Hand in Hand gegangen seien. Die Konzeption Gottes entspringe einem altertümlichen orientalischen Despotismus, die dem freien Menschen unwürdig sei. Die Welt brauche keine Religion, sondern eine furchtlose Perspektive und freie Intelligenz.

Ähnlich argumentiert auch Jean-Paul Sartre mit seinem "atheistischen Existentialismus". Für ihn ist Gott nichts als eine Bedrohung der menschlichen Freiheit. Der erste Schritt des Existenzialismus sei es, jeden Menschen in Besitz dessen, was er ist, zu bringen und auf ihm die gänzliche Verantwortung für seine Existenz ruhen zu lassen:

"Selbst wenn es einen Gott gäbe, würde das nichts ändern; das ist unser Standpunkt. Nicht, als ob wir glaubten, dass Gott existiert, aber wir denken, dass die Frage nicht die seiner Existenz ist. Der Mensch muss sich selber wieder finden und sich überzeugen, dass ihn nichts vor ihm selber retten kann, wäre es auch ein gültiger Beweis der Existenz Gottes."

Der deutsche Existenzphilosoph Karl Jaspers vertritt im Gefolge von Martin Heidegger dagegen eher eine "existenziale Interpretation" auch des Christentums und findet den Ruf zur radikalen Selbstverantwortung auch bei Jesus von Nazareth wieder.

Neomarxismus und Neokantianismus

Ernst Bloch kritisiert den dogmatischen Marxismus in seinem Versuch, die Religion durch Revolution abzuschaffen. Er stellt dagegen das Moment der Utopie, das jede erstarrte Herrschaftsform transzendiert. Dieses unabgegoltene Hoffnungspotential findet er gerade auch in der Religion wieder (Atheismus im Christentum, Prinzip Hoffnung).

Auch die Philosophen der Frankfurter Schule sehen den vulgärmarxistischen Rationalismus kritisch als eine Art "Religion", die ein absolutes Wissen über das Ziel der menschlichen Gesellschaft vorgibt und damit nur neue Eindimensionalität und Herrschaft etabliert (Herbert Marcuse: Der eindimensionale Mensch).

Jürgen Habermas sieht den Empirismus in teilweise derselben Beweisnot wie die Religion: So sei auch der entschiedene A-Theismus einem negativen Gottesbild verhaftet, für das es in der Realität kaum Anhaltspunkte gebe. Der Nicht-Glaube an Gott sei letztlich auch nur eine (negative) Glaubensüberzeugung.

Agnostizismus, Relativismus und Eklektizismus

Eine heute weit verbreitete Haltung sieht die Existenz eines "Gottes" als weder beweisbar noch widerlegbar an. Er bestätigt die philosophische Auffassung Kants, dass metaphysische Fragen, die auf eine transzendente Realität zielen, sinnlose Fragen sind, da die Antworten jenseits des menschlichen Erkenntnisvermögens liegen: so zum Beispiel Emil Heinrich du Bois-Reymonds "Ignoramus et ignorabimus" (lat. "Wir wissen es nicht und wir werden es niemals wissen").

Ebenso verbreitet ist ein postmoderner Relativismus, der jedem Menschen seine individuelle Form von Religiosität zugesteht und auf die Wahrheitsfrage weitgehend verzichtet. Diesem entspricht - ähnlich wie im Hellenismus um die Zeitenwende - ein neues Aufleben religiöser Strömungen, die sich nicht mehr von den großen Weltreligionen, Kirchen und Glaubensrichtungen her definieren, sondern Elemente daraus auswählen (Eklektizismus) und mit paganen Motiven zu einem Synkretismus und Pluralismus auch im Blick auf die Gottheit verbinden.

Dies findet man heute vor allem in der Esoterik, aber auch in eher nichtreligiösen Richtungen. Ihnen ist die Abgrenzung von den traditionell monotheistischen Religionen gemeinsam, die mit dem Glauben an einen einzigen universalen Gott oft einen Absolutheitsanspruch ihrer Lehre verbinden. So stimmt etwa der Philosoph Odo Marquard ein "Lob des Polytheismus" an (in: "Abschied vom Prinzipiellen", 1981), in dem er den Monomythos des Christentums als ersten Geschichtsunfall bezeichnet. Dem setzt er die segnende Wirkung des Pluralismus entgegen.

Zitate

"It seems to me that with or without religion good people will behave well and bad people will do evil things. But for good people to do evil things, that takes religion." (Dr. Steven Weinberg, Physiknobelpreisträger)

Literatur

Siehe auch