Kybernetik

Wissenschaft der Regelungstechnik und ihrer Analogien bei Lebewesen
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Als Kybernetik (zu altgr. kybernetiké téchne, "Steuermannskunst", zu kybernétes, "Steuermann", kirchenlat. kybernesis "Leitung des Kirchenamtes") bezeichnet man die Wissenschaft von der Struktur komplexer Systeme, insbesondere der Kommunikation und Kontrolle einer Rückkopplung (engl. Feedback) bzw. eines Regelkreises (siehe auch Regelungstechnik). Weitere Kernbegriffe der Kybernetik sind

Ein typisches kybernetisches System ist der Thermostat. Der Thermostat misst die Raumtemperatur mit einem Sensor und vergleicht diesen Wert (Ist-Wert) mit einem vorgegebenen Soll-Wert. Eine Diskrepanz dieser beiden Werte veranlasst den Thermostat dazu über den Effektor die Heizung so zu regulieren, bis der Ist-Wert den Soll-Wert erreicht. Die Steuerungsakte werden wiederum über den Sensor rückgekoppelt (m.a.W. der Thermostat erhält ein Feedback seiner Steuerungsakte).

Ernst von Glasersfeld definiert Kybernetik als "ein metadisziplinäres (das heißt übergeordnetes) Gebiet, kein interdisziplinäres, da sie Begriffe und Begriffsmuster entwickelt und klärt, die neue Erkenntniswege in einer Vielfalt von Erfahrungsbereichen eröffnen" (Die Verbindungen zur Kybernetik in: Radikaler Konstruktivismus, 1995).

Geschichte und Entwicklung

Geschichte (Überblick)
  • Antike: Regelkreise (Ktesibios, Philon und Heron)

  • 17. Jh.: Thermostat (Cornelis Drebbel)

  • 18. Jh.: Fliehkraftregler (James Watt)

  • 1838: Morsealphabet (Samuel Morse)

  • 1868: Regelungstheorie (James Clerk Maxwell)

  • um 1900: Semiotik (C. S. Peirce, F. de Saussure, C. W. Morris und L. Hjelmslev)

  • um 1930: Entscheidungstheorie (L. J. Savage)

  • um 1940: Erste funktionsfähige Computer (Zuse, Turing, Mauchly u. a.)

  • um 1945: Konnektionismus (W. S. McCulloch, W. Pitts u. a.) und Nachrichtentheorie (C. E. Shannon)

  • 1946-1953: Macy Conferences on Cybernetics

  • um 1950: Systemtheorie (Ludwig von Bertalanffy)

  • um 1960 Synergetik (H. Haken)

  • um 1970 Katastrophentheorie und Chaostheorie

  • um 2000 Netzwerktheorie (A. L. Barabasi)

s. auch Chronologie der Systemtheorie

In den 1940er Jahren entstand dieser neue Wissenschaftszweig, als Gemeinsamkeiten und Schnittstellen verschiedener Einzeldisziplinen, die Themen wie Nachrichtenübertragung, Regelung, Entscheidungs- und Spieltheorie und statistische Mechanik betrachteten, erkannt wurden. Katalysator dieser Entwicklung waren die bahnbrechenden Macy Conferences mit dem Thema "Circular causal, and feedback mechanisms in biological and social systems", die von 1946 bis 1953 stattfanden. Norbert Wiener hat den Begriff Kybernetik schließlich im Sommer 1947 von dem griechischen kybernétes für "Steuermann" abgeleitet und damit den nach seiner Einschätzung ersten bedeutenden Artikel über einen Rückkoppelungsmechanismus von James Clerk Maxwell (On Governors, 1867/68) geehrt; dort wird ein Fliehkraftregler beschrieben, der englisch als 'governor' bezeichnet wird. Das Wort 'governor' leitet sich aus dem lateinischen 'gubernator' ab, einer genauen Übersetzung des griechischen Wortes kybernétes. Auf Anregung von Heinz von Foerster wurde die Bezeichnung "cybernetics" dann als Titel für die Macy Conferences übernommen.

In gedruckter Form wurde der Begriff von Wiener erstmals 1948 in Cybernetics or Control and Communication in the Animal and the Machine (deutsche Ausgabe: Kybernetik. Regelung und Nachrichtenübertragung im Lebewesen und in der Maschine) verwendet.

Maßgeblich für die Entwicklung dieser Theorierichtung waren die von Heinz von Foerster in den USA herausgegebenen Tagungsbände Cybernetics der Josiah Macy Jr. Foundation (sogenannte Macy-Konferenzen).

In Deutschland wurde, vor dem gleichen wissenschaftshistorischen Hintergrund, die Studie Das Bewußtsein der Maschinen des Philosophen Gotthard Günther einflussreich.

Wichtige Meilensteine nach den Macy Conferences sind das von E. von Holst und H. Mittelstaedt um 1950 formulierte Reafferenzprinzip, die Psychokybernetik, die Synergetik, die Chaostheorie und die Theorie der antagonistischen Redundanz.

Aktuelle Entwicklungen

Heute behandelt man die Themen der Kybernetik weiter differenziert in der Systemtheorie, im technischen Bereich unter der Bezeichnung Regelungstechnik sowie in den Geisteswissenschaften unter der Bezeichnung Systemik.

Im Rahmen der Regelungstechnik steht heute eine spezielle leistungsfähige mathematische Systemtheorie zur Verfügung, mit der das Verhalten von Systemen und Regelkreisen beschrieben und berechnet werden kann.

Die Quantenkybernetik versucht, Relativität und Quantentheorie durch kreiskausale Modellierung zu vereinigen, während in der Netzwerktheorie nach allgemeinen Prinzipien vernetzter Wirkungsgefüge gesucht wird.

Die Entscheidungs- und die Spieltheorie, die sich mit Entscheidungsprozessen in teils komplexen Situationen mehrdimensionaler Zielräume befassen, gewinnen eine wachsende Bedeutung insbesondere in Medizin und Wirtschaft.

Differenzierungsbereiche

Siehe auch

Literatur

  • William Ross Ashby: Einführung in die Kybernetik. Frankfurt am Main 1974.
  • Norbert Wiener: Mensch und Menschmaschine. Kybernetik und Gesellschaft. Frankfurt am Main 1972.
  • H.-J. Flechtner: Grundbegriffe der Kybernetik. Eine Einführung. Stuttgart [München?] 1984.
  • Helmar Gunter Frank: Kybernetik und Philosophie. Berlin 1969.
  • Siegfried J. Schmidt: Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus. Frankfurt am Main 1987.
  • Siegfried J. Schmidt: Kognitive Autonomie und soziale Orientierung. Frankfurt am Main 1994.
  • Gerhard Grössing: Quantum Cybernetics : Toward a Unification of Relativity and Quantum Theory via Circularly Causal Modeling, Springer New York, Heidelberg, Berlin 2000, ISBN 0387989609
  • Norbert Wiener: Futurum Exactum, Springer, Wien 2002, ISBN 3211834672
  • Frederic Vester: Neuland des Denkens - Vom technokratischen zum kybernetischen Zeitalter, dtv, München 2002, ISBN 3423330015
  • Klaus Fuchs-Kittowski, Siegfried Piotrowski (Hrsg.): Kybernetik und Interdisziplinarität in den Wissenschaften, trafo, Berlin 2004, ISBN 3-89626-435-4

Institute und wissenschaftliche Arbeitsgruppen

Studium

Kybernetik in der Theologie

Kybernetik ist auch die (weithin veraltete) Bezeichnung für eine Teildisziplin der Praktischen Theologie. Sie beschäftigte sich mit der Gemeindeleitung. Neuansätze in der Praktischen Theologie haben die Kybernetik zu Gunsten einer "Theorie kirchlichen Handelns" weiterentwickelt.

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