Die Blätterhöhle ist der heute noch zugängliche Teil einer am „Weißenstein“ im Lennetal im westfälischen Hagen gelegenen und ursprünglich größeren Felshöhle. Sie ist wegen der entdeckten Menschenreste aus dem frühen Mesolithikum und dem Neolithikum von großer Bedeutung für die archäologische Forschung in Europa.
Lage der Höhle
Die Höhle befindet sich in einem sich zum Canyon verengenden Seitental der Lenne am „Weißenstein“ in Hagen-Holthausen. Die großen, leuchtend weißen Kalkfelsen des Weißensteins (1572: „Wittenstein“) bilden eine weithin sichtbare Landmarke im unteren Lennetal. Topographisch steht das Felsmassiv am Anfang des sich ab Hohenlimburg nach Süden zu einem tiefen Gebirgstal verengenden Flussbereichs der Lenne. Nördlich vom Weißenstein öffnet sich das Lennetal zu einer weiten Terrassenlandschaft, die durch das Ruhrtal und die südlichen Ausläufer des Ardeygebirges sowie von dem beherrschenden Syberg abgeschlossen wird.
Teil einer Geschichtslandschaft
Die Umgebung der Blätterhöhle zählt zu den bedeutendsten Geschichtslandschaften in Nordrhein-Westfalen. Direkt gegenüber der Blätterhöhle befindet sich das imposante Felsentor der Hünenpforte, das den Rest einer gewaltigen Einsturzhöhle darstellt.
In Blickrichtung vom Weißenstein nach Süden auf das Schloss Hohenlimburg findet die aus mitteldevonischem Massenkalk aufgebaute Felsformation mit dem Raffenberg, der die Ruine einer kurkölnischen Landesburg aus dem 13. Jahrhundert trägt, einen Abschluss. Die sich daran anschließenden Gebirgszüge gehören bereits zum sauerländischem Bergland. Südlich wird das Tal durch den Burgberg der 1242 erstmals urkundlich erwähnten Hohenlimburg abgeriegelt. In diesem engen Talabschnitt liegt die Oeger Höhle, in der zahlreiche archäologische Funde seit dem Jungpaläolithikum und vor allem aus dem Neolithikum entdeckt wurden.
Seit dem Mittelalter ranken sich um die romantisch gelegenen Felsformationen im Lennetal zahlreiche Sagen, Legenden und Mythen. Viele der im Volksglauben überlieferten Geschichten handeln von Riesen, Raubrittern, Zwergen, Werwölfen, Gespenstern und „Weißen Frauen“, die sich im Umfeld des Weißensteins, der Hünenpforte und des Raffenberges ihr Unwesen getrieben haben sollen.
Erstrangiges Naturschutzgebiet
Bei den Kalkbuchenwäldern auf dem Weißenstein und auf der Hünenpforte, die eine einzigartige Vegetation mit Orchideen und andere geschützte Pflanzen und Tiere einen Lebensraum bieten, handelt es sich um ein Naturschutzgebiet von europäischem Rang. Der am Fuße des Weißensteins liegende Barmer Teich ist einer der wenigen verkarsteten Quellteiche in Europa und die einzige Vauclusequelle in Westfalen. Straßenbau und andere Baumaßnahmen haben diesen Teich in den 1960/70er Jahren in Teilen zerstört. Wie der gesamte Weißenstein stehen auch die Reste des Barmer Teiches unter Natur- und Landschaftsschutz.
Fundgeschichte
Als archäologischer Fundplatz wurde die nähere Umgebung der Blätterhöhle bereits vor 1930 bekannt, nachdem der Hagener Lehrer Albert Schäfer auf dem Weißenstein und auf den Feldern in seinem Umfeld zahlreiche Steinartefakte entdeckte. Aus Höhlen an der Hünenpforte sind steinzeitliche Artefakte und prähistorische Keramikscherben bekannt. Sie werden in die späte Altsteinzeit, in das Neolithikum und in die Eisenzeit datiert.
Im Frühjahr 2004 entdeckten Mitglieder des Arbeitskreis Kluterhöhle in der Blätterhöhle eine größere Zahl von menschlichen Skelettresten, darunter auch mehrere Schädel und Unterkiefer. Eigentlich untersuchten die Höhlenforscher im Auftrag der Stadt Hagen den Grundwasserspiegel im dortigen Gebiet. Nachdem die zunächst erfolgende kriminalistische Auswertung keine Hinweise auf einen neuzeitlichen Mordfall ergaben, wurden diese ersten Funde sowie die Höhle von Archäologen untersucht.
Durch die Radiokohlenstoffmethode konnten die Skelettreste erstmals im September 2004 in unterschiedliche Abschnitte der Mittelsteinzeit und der Jungsteinzeit datiert werden. Weitere Datierungen und Funde bestätigten 2005 bis 2006 diese ersten Analysen, die durch weitere Ergebnisse ergänzt wurden. Anfang 2005 bildete sich eine Arbeitsgruppe mit Wissenschaftlern aus verschiedenen Fachrichtungen. Sie untersucht seitdem die Funde und führt systematische Grabungen und Prospektionen im Fundgebiet durch.
Bedeutung der Funde
Die rund 10.700 Jahre alten mittelsteinzeitlichen Funde aus der Blätterhöhle sind die bisher frühesten direkten archäologischen Nachweise für anatomisch moderne Menschen in Westfalen und im Ruhrgebiet. Darüber hinaus zählen diese Fund zu den frühesten Menschenresten aus der Nacheiszeit in Europa. Vergleichbar alte Menschenreste sind vor allem aus Höhlen in Belgien und Süddeutschland bekannt. Allerdings wurden alle diese Funde nicht nach modernen wissenschaftlichen Verfahren ausgegraben und untersucht.
Ein von seinem Alter vergleichbarer Fund ist in Nordrhein-Westfalen bisher nur aus der rund 30 Kilometer von der Blätterhöhle im landschaftlich ähnlichen Hönnetal liegenden Balver Höhle bekannt. In unhorizontierten Altfunden einer Grabung von 1939 wurde hier über die Radiocarbonmethode im Jahre 2003 das kleine Schädelfragment eines Menschen auf ein Alter von 10.400 Jahren datiert. Anders als in der Blätterhöhle sind die näheren Fundumstände und weitere Befunde nicht bekannt. Der Schädelrest ist im Westfälischen Museum für Archäologie in Herne ausgestellt.
Auch die jungsteinzeitlichen Funde aus der Blätterhöhle verfügen über eine beachtliche Bedeutung. Bestattungen aus dieser Zeit, die der Michelsberger Kultur zuzurechnen sind, sind in Europa selten. Mit ihrer Datierung in einen Zeitraum zwischen 3.600 bis 3.300 v. Chr. können die Skelettreste von jungsteinzeitlichen Menschen aus der Blätterhöhle in das Ende der Michelsberger Kultur und in eine frühe Phase der Wartberg-Kultur eingeordnet werden. Die Kultur erstellte auch Galeriegräber; unter anderem in Ostwestfalen, am Nordrand des Sauerlandes und in Nordhessen.
Aufgrund ihrer Zusammensetzung, Datierung und Fundsituation der steinzeitlichen Relikte zählt die Blätterhöhle zu den wichtigsten archäologischen Fundorten in Deutschland. Darüber hinaus sind die Funde von großer Bedeutung für die internationale Steinzeitforschung. Mit den Relikten und Befunden in der Blätterhöhle vergleichbare Fundkomplexe sind bisher nur aus Höhlen in Süddeutschland und Belgien bekannt geworden.
Archäologische Befunde
Die bisherigen archäologischen Untersuchungen haben mindestens zwei Nutzungsphasen der Höhle identifiziert: Frühmesolithikum und Jungneolithikum. Die bisher geborgenen mittelsteinzeitlichen Funde datieren in einen frühen Abschnitt vor rund 10.700 Jahren. Die jungsteinzeitlichen Funde stammen aus einem Zeitraum zwischen 5.600 und 5.300 Jahre und dokumentieren vermutlich eine rund 500 Jahre andauernde Nutzung der Höhle als Begräbnisstätte.
Die mittelsteinzeitlichen Skelettreste stammen von mindestens zwei Personen, während die jungsteinzeitlichen Menschenreste mindestens sieben Personen repräsentieren, unter denen sich zwei Kinder, Jugendliche sowie erwachsene Männer und Frauen befinden.
Da die archäologischen und naturwissenschaftlichen Untersuchungen sowie Grabungen wahrscheinlich noch mehrere Jahre in Anspruch nehmen werden, sind weitere Befunde zu erwarten. Tiefer gelegene Sedimente in der Höhle und auf ihrem Vorplatz könnten noch ältere Fundschichten enthalten. Die ungestörten Befunde im Bereich der Blätterhöhle ähneln vergleichbaren Fundplätzen auf der Schwäbischen Alb und in Niedersachsen.
Die Forschungen beziehen auch die Umgebung der Blätterhöhle mit ein. Im Umfeld der Höhle befinden sich weitere, zum Teil verschüttete Felsdächer und Höhlen, die ebenfalls wissenschaftlich untersucht werden. Darüber hinaus liegen mehrere Oberflächenfundplätze im näheren Umkreis, die zahlreiche Artefakte aus dem Mittelpaläolithikum und aus den folgenden prähistorischen Epochen geliefert haben.
Wie die Blätterhöhle wurden auch die anderen Fundplätze in ihrer Umgebung ab 2004 unter verschärftem Bodendenkmalschutz gestellt. Nach Meldungen in der Presse und im Fernsehen dürfen sie nur noch für wissenschaftliche Untersuchungen und nach einer vorherigen Genehmigung abgesucht und besichtigt werden, um zu verhindern, dass wichtige archäologische Funde in Privatsammlungen und im Antiquitätenhandel verschwinden.
Die Blätterhöhle und weitere Fundpunkte sind deshalb unter anderem durch Alarmanlagen, Sensoren und Kameras gesichert. Bisher wurden nach Meldungen bereits mehrere Strafanzeigen an sechs Personen wegen illegaler Fundsuche und Raubgräberei gestellt.
Erforschung
Die Funde und der Fundort werden seit 2004 von einem internationalen Forschungsteam untersucht. Neben der Analyse von Knochen, Zähnen, Pollen und Sedimenten in verschiedenen Laboren werden seit 2006 auch größere Grabungen in der Höhle, auf ihrem Vorplatz und in ihrem Umfeld durchgeführt. Eine erste zusammenfassende wissenschaftliche Veröffentlichung der bis 2005 bei der Untersuchung der menschlichen Überreste gewonnenen Ergebnisse wurde im Januar 2007 von den Archäologen Jörg Orschiedt und Flora Gröning vorgelegt (siehe Literatur).
Die Ausgrabungen im Juli und August 2006 bestätigten, dass der Eingangsbereich zur Höhle ursprünglich viel größer gewesen war, als durch die heutige Situation vermittelt wird. Das eigentliche Portal der Höhle liegt nach den Untersuchungen unter meterhohen Sedimenten von Hang- und Frostschutt verborgen. Auf dem Vorplatz der Höhle wurden im Sommer 2006 bei wissenschaftlichen Ausgrabungen wichtige Befunde festgestellt, die neue Hinweise auf die Nutzung der Blätterhöhle geben.
Neben den Spuren einer Feuerstelle wurden bei der Grabung im August 2006 mehrere charakteristische Mikrolithen, viele andere Steinartefakte, zahlreiche Knochenreste von Wildtieren und das Teil eines menschlichen Schädeldaches entdeckt. Auch die Untersuchung von durch Tierbauten umgelagerten Sedimenten in der Höhle lieferte eine große Zahl von weiteren steinzeitlichen Funden, darunter auch wieder Menschenreste, Keramik und Steinartefakte, darunter wiederum Mikrolithen aus der Mittelsteinzeit.
Bei den Grabungen im Sommer 2007 wurden in der Höhle weitere Steinwerkzeuge und Knochen entdeckt. Wichtig ist der Befund von drei großen Wildschweinschädeln, die zusammen mit einem Teil gefunden wurden, das genau an den Schädel des mittelsteinzeitlichen Menschen angepasst werden konnte. Nach den Archäologen deutet das alles auf eine Deponierung in der frühen Mittelsteinzeit hin. Allerdings wurden nun auch Steinwerkzeuge gefunden, die offenbar älter sind und aus der späten Altsteinzeit stammen.
Im Frühjahr und Sommer 2008 laufen weitere Grabungen in der Höhle und auf ihrem Vorplatz, über die bisher noch keine Veröffentlichungen vorgelegt wurden. Bekannt wurde, dass einer der drei großen Wildschweinschädel, die zusammen mit den menschlichen Überresten aus der frühen Mittelsteinzeit 2007 in der Höhle entdeckt wurden, nach einer C14-Datierung das gleiche Alter besitzt. Dies wird als Hinweis gewertet, dass die Schädel als Beigabe für eine oder mehrere Bestattungen gedient haben. Aus der frühen Nacheiszeit sind vergleichbare Befunde in Europa bisher unbekannt.
Ursprüngliches Aussehen der Höhle
In ihrer ursprünglichen Form entsprach die Blätterhöhle offenbar einem Abri bzw. einer großen Portalhöhle, deren Eingangsbereich anscheinend bereits während der Mittelsteinzeit einstürzte. Nach neueren Erkenntnissen kommen solche Felsdächer und Überhänge an Felswänden im sauerländischen Massenkalk häufig vor. Da sie von meterhohen Hangsedimenten verschüttet sind, wurden sie – bis auf die Blätterhöhle – in diesem Gebiet noch nicht wissenschaftlich untersucht.
Um die Grabungsstellen, die Blätterhöhle und die benachbarten Fundplätze vor der Zerstörung durch Raubgräber und Privatsammler zu schützen, werden durch das federführende Historische Centrum Hagen nur eingeschränkte Informationen herausgegeben.
Verbleib der Funde
Das Fundmaterial wird im Museum für Ur- und Frühgeschichte im Wasserschloss Werdringen in Hagen aufbewahrt und dort zum Teil auch ausgestellt. Im Winter 2004/05 war es zu Streitigkeiten zwischen der Stadt Hagen und dem Landschaftsverband Westfalen-Lippe gekommen, die ein überregionales Echo in den Medien fanden. Der Landschaftsverband Westfalen-Lippe beanspruchte diese Funde für sich und wollte sie in seinem Westfälischen Museum für Archäologie in Herne präsentieren. Mit Hilfe der Landesregierung NRW und dem Grundeigentümer, dem Regionalverband Ruhr, konnte sich die Stadt Hagen durchsetzen.
In der Ausstellung „Achtung Ausgrabung!“ im LWL-Archäologiemuseum in Herne (1. November 2007 – 10. August 2008) war der Blätterhöhle ein eigener Raum gewidmet, wo zeitweise auch die Originalfunde ausgestellt wurden. Im Begleitheft zur Ausstellung werden die aktuellen Forschungsergebnisse vorgestellt. Funde aus der Blätterhöhle werden auch in der Landesausstellung 2010/11 und im 2009 eröffneten Ruhrlandmuseum in Essen zu sehen sein.
Bekannte Höhlen in der Umgebung
- Oeger Höhle, Hagen-Hohenlimburg (zum Teil zerstört)
- Hünenpforte, Hagen-Hohenlimburg (Einsturzhöhle mit Höhlensystem)
- Balver Höhle, Balve, Märkischer Kreis
- Hohler Stein, Rüthen, Kreis Soest
- Martinshöhle, Iserlohn-Letmathe, Märkischer Kreis (zerstört)
- Grürmannshöhle, Iserlohn-Letmathe, Märkischer Kreis
- Dechenhöhle, Iserlohn-Letmathe, Märkischer Kreis (Schauhöhle)
- Kluterthöhle, Ennepetal, Ennepe-Ruhr-Kreis (Schauhöhle)
- Heinrichshöhle, Hemer, Märkischer Kreis (Schauhöhle)
- Reckenhöhle, Balve-Binolen, Märkischer Kreis (Schauhöhle)
Literatur
- Jörg Orschiedt, Flora Gröning: Die menschlichen Skelettreste aus der Blätterhöhle, Stadt Hagen. in: F. Andraschko, B. Kraus und B. Meller (Hrsg.): Archäologie zwischen Befund und Rekonstruktion. Ansprache und Anschaulichkeit. Festschrift für Prof. Dr. Renate Rolle zum 65. Geburtstag. Hamburg 2007, S. 349-361.
- Jörg Orschiedt, Flora Gröning, Thorsten M. Buzug: Virtuelle Rekonstruktion und stereolithographisches Modell eines jungneolithischen Schädelfundes aus der Blätterhöhle in Hagen, Nordrhein-Westfalen. In: Archäologische Informationen. 30/1, 2007, S. 1–7. (online, PDF-Datei; 168 kB)
- Jörg Orschiedt, Jan F. Kegler, Birgit Gehlen, Werner Schön und Flora Gröning: Die Blätterhöhle in Hagen (Westfalen). Vorbericht der ersten archäologischen Untersuchungen. In: Archäologisches Korrespondenzblatt. 38, H. 1, 2008.
- Die Blätterhöhle. In: Ralf Blank, Stephanie Marra und Gerhard E. Sollbach: Hagen. Geschichte einer Großstadt und ihrer Region. Essen 2008, S. 57-60 und 64-66.
Weblinks
Textpassagen und Inhalte der Seite wurden mit freundlicher Genehmigung von der Projektseite des Historischen Centrums Hagen übernommen:
- Projektseite des Historischen Centrums Hagen
- Naturschutzgebiete Weißenstein/Hünenpforte/Raffenberg
- Bericht im WDR Fernsehen
Koordinaten: 51° 21′ 30,7″ N, 7° 33′ 4,9″ O