Mittellateinische Literatur

lateinische Literatur
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Mittellateinische Literatur ist die gängige Bezeichnung für die Gesamtheit der im Mittelalter entstandenen Literatur in lateinischer Sprache. Das für ihre philologische Erforschung zuständige Fach heißt "Lateinische Philologie des Mittelalters". Die ersten zur mittellateinischen Literatur gezählten Werke entstanden im 6. Jahrhundert. Auf die Epoche der mittelalterlichen Latinität folgte diejenige des Renaissance-Humanismus, der sich in Italien in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts formte und sich in der Folgezeit in anderen Teilen Europas mit unterschiedlicher Geschwindigkeit und Intensität ausbreitete. Die Literatur des Renaissance-Humanismus gehört zur neulateinischen Literatur. Werke von Humanisten werden daher nicht zur mittellateinischen Literatur gezählt, auch wenn sie schon in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts entstanden, doch wurden noch im 15. Jahrhundert mittellateinische Werke geschaffen, insbesondere religiöse Dichtung. Im Spätmittelalter bestanden somit über einen langen Zeitraum mittellateinische und neulateinische Literatur nebeneinander.

Im Mittelalter verständigten sich in Europa mit Ausnahme des zum byzantinischen Kulturraum zählenden bzw. von ihm geprägten Ostens alle Gebildeten auf Lateinisch. Latein war die Sprache des Unterrichts und der Wissenschaft, des Rechts, der Verwaltung und der Diplomatie. Insbesondere war es auch die Sprache der katholischen Kirche, welche die Verwendung anderer Sprachen im Gottesdienst nicht duldete.

Begriff

Ein Hauptmerkmal der lateinischen Literatur des Mittelalters ist der Umstand, dass das mittelalterliche Latein im Gegensatz zum antiken keine Volkssprache war. Es wurde nirgends mehr als Muttersprache gelernt, sondern jeder Lateinkundige hatte es sich erst im Schulunterricht angeeignet. Daher gab es keine Sprachgemeinschaft im herkömmlichen Sinne mehr, sondern das Lateinische war ausschließlich die Sprache einer gebildeten Schicht, deren Angehörige nicht durch ihre Abstammung, sondern nur durch ihre Zugehörigkeit zur lateinischen Kulturtradition verbunden waren. Zwar wurde Latein von den Gebildeten nicht nur geschrieben, sondern auch gesprochen und war insofern keine "tote" Sprache, doch fehlte das Korrektiv, das in einer "lebendigen" Volkssprache von der Gemeinschaft der lebenden Muttersprachler gebildet wird.

Daher sind die Bezeichnungen "mittellateinische Sprache" und "mittellateinische Literatur" etwas problematisch; es handelt sich nicht um eine neue Sprachform oder Sprachstufe, die sich anhand ihrer Morphologie oder Syntax von der antiken Latinität abgrenzen ließe. Als Sprachform unterscheidet sich das Mittellatein in keiner Hinsicht vom antiken Spätlatein, das als Sprache der antiken Kirchenväter und der lateinischen Bibelübersetzungen im Mittelalter stets präsent blieb und den Sprachgebrauch tiefgreifend prägte. Das kirchliche Spätlatein, das bruchlos ins Mittellatein überging, lässt sich zwar durch eine Vielzahl spezifisch christlicher Begriffe von der Sprache der spätantiken Nichtchristen abgrenzen, aber kaum durch grammatische Eigentümlichkeiten, von denen es nur sehr wenige aufwies.

Einflüsse

Antikes Erbe

Die lateinische Literatur des Mittelalters führte trotz mancherlei Veränderungen und Einschnitten die Traditionen der spätantiken lateinischen Literatur fort. Wichtige Werke aus der Antike wurden weiterhin gelesen und als Vorbilder verwendet, so z. B. die Werke Vergils. Dies ging so weit, dass neue Texte nur aus Zitaten etwa aus Vergils Aeneis zusammengesetzt wurden, ein sogenanntes Cento. Lernende, aber auch ausgelernte Schriftsteller übten sich in der Nachahmung antiker Vorbilder, lateinisch imitatio genannt. Mit fortschreitender Ausbreitung der Schriftlichkeit und der literarischen Produktion trat daneben ein weiteres Ziel in den Vordergrund, nämlich die antiken Vorbilder zu übertreffen, unmittelbar mit ihnen in Wettbewerb (lateinisch aemulatio genannt) zu treten.

Im Laufe des Mittelalters wurden zudem immer wieder vorher unbekannte Texte aus der Antike aufgefunden, kopiert und verbreitet. Die zunehmende Materialkenntnis konnte auch zu Rückbesinnungen auf inhaltliche und methodische Optionen führen, auch bereits bevor die Renaissance derartige Rückgriffe propagierte.

Volkssprachen

Mittellatein unterscheidet sich als Idiom vom Latein der Antike unter anderem durch mancherlei Einflüsse aus den Volkssprachen seiner Zeit. Um die Wende von der Antike zum Mittelalter starb Latein als gesprochene Muttersprache aus und lebte als Literatur-, aber auch als weiterhin gesprochene Verkehrssprache weiter. Dies führte zu verschiedenen Veränderungen der Aussprache, die dann auch in die Schreibweisen von Wörtern übernommen wurden.

Besonders auffällig war der Wechsel von der antiken quantitierenden Metrik zur akzentuierenden Dichtung, in der Verse nicht mehr nach Metren, sondern nach dem Akzent gebaut wurden. Diese neue Form der Dichtung, die in der antiken Literatur noch unbekannt war, trat aber neben die weiterhin nach antikem Vorbild gepflegte metrische Dichtung, ohne diese ganz zu verdrängen. Beim Entstehen der akzentuierenden Dichtung haben volkssprachliche Einflüsse eine Rolle gespielt. Insbesondere die vordringenden germanischen Sprachen wiesen alle einen ausgeprägten Wortakzent auf. Wohl ebenfalls auf volkssprachliche Einflüsse zurück gehen dürfte das Aufkommen des Endreims, der in der antiken Dichtung fast völlig fehlt. Sicher auf Volkssprachen zurück geht ferner die Assonanz.

Neben sprachlichen Einflüssen kamen aber auch neue Themen aus dem volkssprachlichen Bereich. Beispielsweise wurde der bekannte "Sonnengesang" des Franz von Assisi kurz nach seiner Abfassung auf Italienisch auch in einer lateinischen Übersetzung verbreitet. Die lateinische Literatur beeinflusste also nicht nur die volkssprachlichen Literaturen, sondern diese wirkten auch auf die lateinische Literatur ihrer Zeit ein. Gegen Ende des Mittelalters wurden immer mehr Werke sowohl lateinisch als auch in volkssprachlichen Fassungen verbreitet.

Themen und Gattungen

Allgemeines

Die lateinische Literatur des Mittelalters ist sehr umfangreich und daher schwer knapp vorzustellen. Deshalb können die folgenden Abschnitte nur Fingerzeige im Überblick geben. Wie oben zur Problematik der Definition bereits angemerkt wurde, ist auch die Abgrenzung der "Literatur" von anderen Schriftzeugnissen, die nicht als Literatur gelten, umstritten. So setzte im Lauf des Mittelalters allmählich flächendeckend die Tätigkeit von Verwaltungen ein, die eine Unmenge an Akten und Urkunden erzeugte, von denen zweifelhaft ist, ob sie als "Literatur" gelten sollen.

Geistliche Werke

Ein wesentlicher Träger der literarischen Kontinuität zwischen Antike und Mittelalter war die Kirche. Sie brachte eine umfangreiche Literatur verschiedenster Art hervor: Neben theologischen Werken entstanden liturgische, kirchenrechtliche und viele weitere Gattungen von Schriften.

Aus der Antike übernommen wurde die Produktion von theologischen Werken verschiedener Art, so der Kommentar zu biblischen Schriften und die theologische Monographie, aber auch die Formulierung von Bekenntnissen. Daneben entstanden früh auch geistliche Dichtungen, die neue Gattungen hervorbrachten wie die Sequenz, das geistliche Kirchenlied wie etwa den Hoquetus, die Antiphon und andere mehr. Die Produktion von Hymnen erreichte, verglichen mit der Antike, ihren Höchststand.

Im Hochmittelalter entstand das Kirchenrecht, das umfangreiche rechtliche Literaturschöpfungen wie das Corpus Iuris Canonici mit zugehörigen Kommentaren hervorbrachte.

Aus dem Schul- und Universitätsbetrieb gingen neue Gattungen wie die Sentenzen, Sentenzen-Kommentare, die Summen (bekannt etwa die "Summe der Theologie" und die "Summe gegen die Heiden" des Thomas von Aquin) und Abhandlungen meist unter dem Titel "tractatus" hervor. Später entstand auch die "dissertatio" als Vorläufer der heute noch gepflegten Dissertation.

Weltliches Schrifttum

Als großen Gegenbereich zum geistlichen Schrifttum kann das weltliche abgegrenzt werden, wobei allgemein die Entwicklung der geistlichen Literatur der weltlichen etwas vorauseilt und die weltliche beeinflusst. Die weltliche Literatur ist allerdings beinahe noch mannigfaltiger als die geistliche.

Im Hochmittelalter entstehen zahlreiche weltliche Dichtungen, so Liebeslieder, Trinklieder oder Spottgedichte, die später in die Volkssprachen überwechseln. Dabei zeigt sich immer wieder, dass dieselben Autoren sowohl geistliche als auch weltliche Dichtungen schufen. Ein zeittypische Erscheinung war dabei die Unterlegung einer bestehenden Melodie mit einem neuen Text, meist wurde ein geistliches Lied mit einem weltlichen Text unterlegt oder umgekehrt. Dieses Vorgehen wird als Kontrafaktur bezeichnet.

Wie in der Kirche entstanden auch weltliche Gesetzeskorpora. Vor allem wirkte die Wiederentdeckung des römischen Rechts befruchtend und führte zur Ausbildung der Legistik an den juristischen Fakultäten. Dort entstanden Glossen, Kommentare und juristische Abhandlungen.

Die Masse des sich ausbildenden wissenschaftlichen oder Fach-Schrifttums darf nicht unterschätzt werden und kann nur summarisch genannt werden: Grammatiken, Wörterbücher, Lehrbücher der Dialektik, Logik, Geometrie, Arithmetik, Astronomie, Philosophie, Naturwissenschaften usw. Neben wissenschaftlicher Prosa existierte weiterhin die Gattung des Lehrgedichts.

Die Epik wurde ebenfalls weiter gepflegt. Neben sie trat aber früh die Chronistik als Vorläufer der Geschichtswissenschaft.

Roman und Belletristik

Die Hauptmasse dessen, was heute als "Literatur" angesehen wird, bildet (abgesehen vom Fachschrifttum) die Belletristik, vor allem der Roman. Wie schon in der antiken Literatur ist aber der Roman in der mittelalterlichen lateinischen Literatur so gut wie inexistent. Als frühestes (und bisweilen auch als einziges angesehen) Beispiel gilt das anonyme Fragment Ruodlieb, das schon im Titel mit dem Namen des Protagonisten volkssprachliche Einflüsse verrät. Dabei ist aber fraglich, ob es sich nicht eher um ein Märchen handelt.

Belletristische Literatur war aber nicht inexistent, sie fand nur andere Formen: Epos, historischer Roman, (pseudo)historische Chronik etc.

Literatur

Vgl. auch die Literatur zur Philosophie des Mittelalters.
Repertorien
  • Silvia Cantelli Berarducci: Bibliografia della letteratura mediolatina, in: Lo Spazio letterario del medioevo 1. Il Medioevo latino, Bd. 5: Cronologia e bibliografia della letteratura mediolatina, Rom 1997, 312ff.
  • Bruno Bon et al.: Index scriptorum novus mediae latinitatis, Supplementum 1973-2005, Geneva 2006.
  • Wolfgang Buchwald, Armin Hohlweg, Otto Prinz (Hgg.): Tusculum-Lexicon: griechischer und lateinischer Autoren des Altertums und des Mittelalters, München 3. A. 1982.
  • R. Gamberini (Hg.): BISLAM, Bibliotheca Scriptorum Latinorum Medii Recentiorisque Aevi, Bd. 1: Gli Autori in Medioevo Latino, Florenz 2003.
  • Michael Lapidge et al. (Hgg.): CALMA, Compendium auctorum Latinorum Medii Aevi (500-1500), Florenz / Tavarnuzze: SISMEL, Edizioni del Galluzzo 2000ff.
  • Claudio Leonardi (Hg.): Medioevo latino, bollettino bibliografico della cultura europea dal secolo VI al XIV, Spoleto 1980ff.
  • Rodrique LaRue (Hg.): Clavis Scriptorum Graecorum et Latinorum, 10 Bde., Trois-Rivières, Québec 2. A. 1996.
Einführungen und Handbücher
  • Franz Brunhölzl: Geschichte der lateinischen Literatur des Mittelalters. 2 Bde. München 1975-1992.
  • Karl Büchner (Hrsg.): Latein und Europa. Traditionen und Renaissancen. Stuttgart 1978. ISBN 3-15-010270-7
  • Adolf Ebert: Allgemeine Geschichte der Literatur des Mittelalters im Abendlande. Leipzig 1874-80. Online
  • Albert C. Friend: Medieval Latin Literature, in: John H. Fisher (Hg.): The Medieval Literature of Western Europe: A Review of Research, Mainly 1930-1960, New York 1966, S. 3-33.
  • Gustav Gröber: Übersicht über die lateinische Litteratur von der Mitte des VI. Jahrhunderts bis zur Mitte des XIV. Jahrhunderts, Grundriß der romanischen Philologie 2/1, Strassburg 1902. Online
  • Udo Kindermann: Einführung in die lateinische Literatur des mittelalterlichen Europa, Turnhout 1998.
  • Claudio Leonardi (Hg.): Letteratura latina medievale (secoli VI-XV): un manuale, Florenz 2002.
  • Max Manitius: Geschichte der lateinischen Literatur des Mittelalters. 3 Bde. München 1911-1931.
  • F. A. C. Mantello / A. G. Rigg: Medieval Latin: An Introduction and Bibliographical Guide, Washington DC 1996.
  • Eduard Norden: Die lateinische Literatur im Übergang vom Altertum zum Mittelalter, in: Karl Krumbacher et al. (Hgg.): Die Griechische und lateinische Literatur und Sprache, Teubner, Berlin 1907, S. 401-438. Online
  • Paul Gerhard Schmidt: Das Interesse an mittellateinischer Literatur. Freiburg, Schweiz: Universitätsverlag 1995 ISBN 3-7278-1028-9 (eingeschränkte Vorschau)


Überblicke und Einführungen
Linksammlungen