Gustav Radbruch

deutscher Rechtsgelehrter und Politiker (SPD), MdR
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Gustav Radbruch (* 21. November 1878 in Lübeck; † 23. November 1949 in Heidelberg) war Reichsjustizminister in der Weimarer Republik und gilt als einer der einflussreichsten Rechtsphilosophen des 20. Jahrhunderts. Daneben genoss er auch als Strafrechtler, Kriminalpolitiker, Strafrechtshistoriker, Biograph und Essayist international großes Ansehen. Seine Hauptwerke wurden in zahlreiche Fremdsprachen übersetzt. Für Radbruch ist das Recht eine wertbezogene, an der Idee des Gerechten auszurichtende Realität, die zum Gebiet der Kultur gehört und damit zwischen Natur und Ideal steht.

Als Referendar in Lübeck (1902)

Leben

Herkunft und Ausbildung

 
Katharineum zu Lübeck

Radbruch war der Sohn des Lübecker Kaufmanns Heinrich Radbruch und seiner Ehefrau Emma. Er wuchs zusammen mit zwei älteren Geschwistern in wohlhabenden Verhältnissen auf. Gustav besuchte das Katharineum zu Lübeck, wo er als Primus omnium das Abitur ablegte. Seinem damaligen Mitschüler, dem späteren anarchistischen Dichter Erich Mühsam, ist Radbruch immer wieder begegnet. Persönlich waren sie freundschaftlich verbunden, obwohl er die politischen Ansichten Mühsams ablehnte. Obwohl Radbruch eher den schönen Künsten, besonders der Dichtung zugetan war, studierte er auf Wunsch seines Vaters Rechtswissenschaft, zuerst in München, dann in Leipzig und schließlich in Berlin, wo der Strafrechtsreformer Franz von Liszt lehrte. Nach erfolgreichem Ersten Staatsexamen kehrte er in seine Heimatstadt zurück, um das Rechtsreferendariat zu beginnen. Er brach es nach wenigen Monaten ab, um bei Liszt mit einer Dissertation zur Kausalitätslehre magna cum laude promoviert zu werden.[1] Auf Vermittlung Liszts wechselte Radbruch 1903 nach Heidelberg, um sich bei Karl von Lilienthal ein Jahr darauf zu habilitieren.[2]

Der junge Professor

1906 wurde er Lehrbeauftragter an der Handelshochschule in Mannheim. Die erste Ehe 1907 mit Lina Götz wurde bereits ein Jahr nach der Hochzeit wieder geschieden. An der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg wurde Radbruch 1910 außerordentlicher Professor für Strafrecht, Prozessrecht und Rechtsphilosophie. Er fand Zugang zum Kreis um Max Weber und wurde dort nachhaltig vom Gedankengut des Neukantianismus beeinflusst, den er über Arthur Kronfeld und Otto Meyerhof auch in der Variante von Leonard Nelson kennenlernte. Über sie kam er andererseits mit dem jungen Dichter und Jurastudenten Ernst Blass in Kontakt, für dessen Zeitschrift Argonauten er einige Beiträge lieferte. Zu seinem badischen Freundeskreis gehörten zudem Kronfelds Kollege Karl Jaspers sowie Emil Lask und Hermann Kantorowicz.

Kriegszeiten

1914 nahm er einen Ruf auf eine außerordentliche Professur an die Albertus Universität Königsberg an. Bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges meldete er sich zum Roten Kreuz und verbrachte viele untätige Wochen auf dem Bahnhof Dirschau. 1915 heiratete er seine zweite Frau Lydia, geborene Schenk. Kurz darauf meldete sich Radbruch als Freiwilliger zum Landwehrregiment 111 in Heidelberg. In seinem Buch Der innere Weg, Aufriß meines Lebens erklärte er:

„Ich suchte Bewährung, ich suchte versäumte Jugend nachzuholen, ich musste freiwillig, aber kraft inneren Zwanges, zuerst jede Patrouille machen, weil ich in meiner Jugend zu wenig Äpfel gestohlen hatte - das versäumte Jugendwagnis durch soundso viele Patrouillen nachholen“.[3]

Sozialdemokrat

Radbruchs parteipolitische Sympathie galt schon früh der SPD. 1913 nahm er am Begräbnis August Bebels in Zürich teil. Anonym verfasste er dazu den Artikel August Bebels Totenfeier, der in den Heidelberger Neuesten Nachrichten erschien.[4] Da eine Mitgliedschaft damals aber gleichbedeutend mit dem sofortigen Ende seiner Laufbahn gewesen wäre, trat er der SPD erst 1918 bei. Gegen den erbitterten Widerstand der Lehrenden wurde er 1919 als außerordentlicher Professor an die Christian-Albrechts-Universität zu Kiel berufen, wo er bis 1926 blieb. Nach einem knappen Jahr wurde er auf Antrag seiner Kollegen aber bereits ordentlicher Professor. Während des Kapp-Putsches versuchte er zusammen mit Hermann Heller in Kiel zwischen den Parteien zu vermitteln.[5]

Politik und Verantwortung

 
Reichstagsgebäude vor dem Brand

Radbruch war für die SPD von 1920 bis 1924 Abgeordneter des Reichstags. Ein Antrag, den Radbruch und 54 weitere Mitglieder der SPD-Fraktion am 31. Juli 1920 im Reichstag einbrachten, sah die Straflosigkeit der Abtreibung vor, „wenn sie von der Schwangeren oder einem staatlich anerkannten (approbierten) Arzt innerhalb der ersten drei Monate der Schwangerschaft vorgenommen“ worden ist. Der von Radbruch maßgeblich initiierte Antrag hatte letztlich keinen Erfolg, er griff seiner Zeit weit voraus.[6] Dennoch profilierte sich Radbruch als Rechtspolitiker. Von Oktober 1921 bis November 1922 gehörte er als Reichsjustizminister dem Kabinett Joseph Wirth und von August bis November 1923 dem Kabinett Gustav Stresemann an.

Während seiner Amtszeit wurden einige bedeutende Gesetze ausgearbeitet, so zur Zulassung von Frauen zu allen Berufen in der Justiz und nach der Ermordung Rathenaus auch das Republikschutzgesetz. Wegweisend war außerdem der Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuchs aus dem Jahre 1922 und das Jugendgerichtsgesetz von 1923.[7] Radbruch wollte die Vergeltungsstrafe abschaffen und durch eine Besserungsstrafe ersetzen. Er war gegen die Todesstrafe und das Zuchthaus und damit für die einheitliche Freiheitsstrafe. Die Resozialisierung wurde neben der Sicherung zum Hauptziel der Strafe erklärt. In der Weimarer Republik wurde der Entwurf nur eingeschränkt umgesetzt, er gewann dann aber für die Strafrechtsentwicklung der jungen Bundesrepublik an Bedeutung.[8]

Ordinarius und Lehrverbot

 
University College Oxford

Radbruch lehnte eine dritte Berufung zum Reichsjustizminister ab und widmete sich wieder verstärkt seiner wissenschaftlichen Arbeit. 1926 folgte er einem Ruf nach Heidelberg. Zu seinen Studenten gehörte Anne-Eva Brauneck, die später die erste deutsche Professorin für Strafrecht werden sollte. Nach der nationalsozialistischen Machtergreifung wurde er am 8. Mai 1933 als erster deutscher Professor aus dem Staatsdienst entlassen. Grundlage dafür war das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums. Er widmete sich während der Nazidiktatur vor allem der scheinbar unverfänglichen Rechtsgeschichte. So entstand zum Beispiel seine Biographie über Paul Johann Anselm von Feuerbach, die 1934 in Wien erschien und für die juristische Biographik wegweisend wurde. Eine Lehrtätigkeit im Ausland wurde ihm nicht gestattet. Aber von 1935 bis 1936 durfte er sich zu Studien an das University College nach Oxford begeben. Als wissenschaftliche Frucht dieses Englandaufenthalts entstand das Werk Der Geist des englischen Rechts, das erst 1946 erscheinen konnte. Bei einem Skiunfall verunglückte Radbruchs Tochter Renate 1939 tödlich, sein Sohn Anselm fiel drei Jahre später bei der Schlacht um Stalingrad.

Wiederaufbau und Tod

Unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 nahm er seine Lehrtätigkeit in Heidelberg wieder auf. Als Dekan leitete er den Wiederaufbau der Juristischen Fakultät. Gesundheitlich war er bereits stark geschwächt. Durch zahlreiche Aufsätze beeinflusste er noch nachhaltig die Entwicklung des deutschen Rechts. Im Alter von 71 Jahren verstarb er an den Folgen eines Herzinfarkts. Sein Grab befindet sich in Heidelberg auf dem Bergfriedhof.

Werk

Der Rechtsdenker

 
Universitätsbibliothek Heidelberg

Schon 1910 erschien Radbruchs Einführung in die Rechtswissenschaft. Bereits dieses Buch wurde in viele Sprachen übersetzt. Sein Hauptwerk erschien zunächst 1914 unter dem Titel Einführung in die Rechtsphilosophie. Es wurde dann 1932 grundlegend überarbeitet und als Rechtsphilosophie veröffentlicht. Radbruchs Rechtsphilosophie entstammt dem Neukantianismus, der davon ausgeht, dass eine kategoriale Kluft zwischen Sein und Sollen besteht: Aus einem Sein könne niemals ein Sollen abgeleitet werden. Wer dies zu können glaubt, unterliegt den Neukantianern zufolge dem sogenannten naturalistischen Trugschluss. Werte können demzufolge nicht erkannt werden, man kann sich zu ihnen nur bekennen:

„Wertbetrachtung und Seinsbetrachtung liegen als selbständige, je in sich geschlossene Kreise nebeneinander.“ [9]

Außerdem vertrat Radbruch einen Methodentrialismus: Zwischen den erklärenden Wissenschaften und den philosophischen Wertlehren stünden die wertbezogenen Kulturwissenschaften. Diese Dreiteilung erscheine im Recht als Rechtssoziologie, Rechtsphilosophie und Rechtsdogmatik. Die Rechtsdogmatik nehme dabei eine Zwischenstellung ein. Gegenständlich richte sie sich auf das positive Recht, wie es sich in der sozialen Realität darstelle, und methodologisch auf den objektiv gesollten Sinn des Rechts, der sich durch wertbezogene Interpretation erschließe.

Zentral für Radbruch sind seine Lehren vom Rechtsbegriff, von der Rechtsidee und von der Rechtsgeltung. In seinem Lehrbuchklassiker Rechtsphilosophie von 1932 definiert er das Recht als

 
Die „Rechtsphilosophie“ von 1932
„Inbegriff der generellen Anordnungen für das menschliche Zusammenleben“[10]

und zugleich aber auch als

„die Wirklichkeit, die den Sinn hat, der Gerechtigkeit zu dienen.“[11]

Damit prägt Radbruch zufolge die kategoriale Kluft zwischen Sein und Sollen auch das Recht als Kulturprodukt. Die Idee des Rechts sei die Gerechtigkeit. Diese umfasse die Gleichheit, die Zweckmäßigkeit und die Rechtssicherheit. Auf dieser Vorstellung basiert auch die sogenannte Radbruchsche Formel, die von den höchsten deutschen Gerichten in zahlreichen Urteilen aufgenommen wurde: Das gesetzliche Unrecht müsse dem übergesetzlichen Recht weichen. Schandgesetze seien für den Richter nicht verbindlich. Der Beitrag Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht aus dem Jahr 1946 gilt als einflussreichster rechtsphilosophischer Aufsatz des 20. Jahrhunderts.[12]

Äußerst umstritten ist die Frage, ob Radbruch vor 1933 Rechtspositivist war und sich in seinem Denken, unter dem Eindruck des Nationalsozialismus, eine innere Wende vollzog oder ob er lediglich unter dem Eindruck der nationalsozialistischen Verbrechen die von ihm vor 1933 vertretene relativistische Wertlehre fortentwickelte. Die Differenz zwischen positivem Recht und gerechtem Recht ist in Deutschland durch die Problematik des Befehlsnotstands bei den Mauerschützenprozessen wieder in das Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt. In diesem Zusammenhang wurden Radbruchs Theorien gegen die von Hans Kelsen und teilweise auch von Georg Jellinek vertretene rechtspositivistische Reine Rechtslehre ins Feld geführt.

Der Schöngeist

Neben seinen rechtswissenschaftlichen Arbeiten hat Radbruch einige schöngeistige Essays verfasst, so zum Beispiel in dem Band Gestalten und Gedanken, der 1945 in Leipzig erschien. Das Werk beschäftigt sich unter anderem mit Michelangelos Mediceerkapelle, Shakespeares „Maß für Maß“ sowie mit Goethe. Im selben Jahr wurde auch Theodor Fontane oder Skepsis und Glaube veröffentlicht. Diese Werke zeichnen sich durch meisterhafte Prosa und „aphoristische Formulierungskunst“[13] aus.

Schriften

  • Gesamtausgabe in 20 Bänden. Hrsg. von Arthur Kaufmann, Bd. 1: Rechtsphilosophie I, bearb. von A. Kaufmann, Heidelberg 1987.
  • Einführung in die Rechtswissenschaft. Leipzig 1910; 11. Aufl., besorgt von Konrad Zweigert, Stuttgart 1964.
  • Paul Johann Anselm Feuerbach. Ein Juristenleben. Wien 1934.
  • Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, in: SJZ 1946, S. 105 bis 108.
  • Rechtsphilosophie, Studienausgabe, herausgegeben von Ralf Dreier und Stanley L. Paulson, C. F. Müller, 2. Aufl., Heidelberg 2003.

Literatur

Einzelnachweise

  1. Die Lehre von der adäquaten Verursachung. Abhandlungen des Kriminalistischen Seminars an der Universität Berlin, NF Bd. 1, H. 3
  2. Der Handlungsbegriff in seiner Bedeutung für das Strafrechtssystem, zugleich ein Beitrag zur Lehre von der rechtswissenschaftlichen Systematik, Verlag J. Guttentag, 1904, Nachdruck WBG, Darmstadt 1967
  3. Gustav Radbruch, Biographische Schriften, 1988, S. 231
  4. Heidelberger Neueste Nachrichten, 21. August 1913
  5. Arthur Kaufmann: Gustav Radbruch, Gesamtausgabe. Band 18. Briefe II: 1919-1949
  6. Vgl. Grotjahn-Radbruch, Die Abtreibung der Leibesfrucht, 1921
  7. Vgl. Gustav Radbruchs Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuches (1922), Tübingen 1952
  8. Stolleis, Juristen, S. 510
  9. Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 13.
  10. Radbruch, a. a. O., S. 38
  11. A. a. O., S. 34
  12. Vgl. Ralf Dreier und Stanley L. Paulson: Einführung in die Rechtsphilosophie Radbruchs, in: Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie, Studienausgabe, C. F. Müller, 2. Aufl., Heidelberg 2003, S. 247 ff.
  13. Günter Spendel, Radbruch, Gustav, Artikel in: Walter Killy, Literaturlexikon, Band 9, München 1991, S. 273 f.