Marburger Erklärung (2009)

öffentliche Erklärung
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Die Marburger Erklärung mit dem Titel „Für Freiheit und Selbstbestimmung – gegen totalitäre Bestrebungen der Lesben- und Schwulenverbände“ ist eine Erklärung, die im Vorfeld des 6. Kongresses der Akademie für Psychotherapie und Seelsorge (APS) in Marburg im April 2009 von der Initiative „Für Freiheit und Selbstbestimmung“ herausgegeben, von Kurt J. Heinz publiziert und von mehreren tausend Personen unterzeichnet wurde.

Anlass

Vom 20. bis zum 24. Mai 2009 fand in Marburg der 6. Internationale Kongress für Psychiatrie und Seelsorge (IKPS) zu dem Thema „Identität – der rote Faden in meinem Leben“ statt. Noch vor seinem Beginn geriet er in die Kritik wegen der Beteiligung insbesondere dreier Vertreter von sogenannten „Ex-Gay-Ministries“, also religiös motivierten Vertretern der These, dass Homosexualität durch „Konversionstherapien“ veränderbar sei.[1][2][3] Es handelte sich um Michael Gerlach von der Offensive Junger Christen, Markus Hoffmann von Wuestenstrom sowie Christl Vonholdt, Leiterin des Deutschen Institutes für Jugend und Gesellschaft (DIJG) der OJC.

Von verschiedenen Interessenverbänden (zum Beispiel vom Lesben- und Schwulenverband in Deutschland (LSVD))[4]) und politischen Parteien (v. a. den Grünen)[5] wurde dem Kongress deshalb vorgeworfen, der Verbreitung homophober Thesen Vorschub zu leisten. Im April gründete sich das Aktionsbündnis „Kein Raum für Sexismus, Homophobie und religiösen Fundamentalismus“, dem sich verschiedene Vereine, Gruppen und Einzelpersonen vor allem aus Kreisen der Studierenden an der Universität sowie der politischen Linken (wie zum Beispiel der DGB-Kreisverband Marburg-Biedenkopf) anschlossen.[6][7] In den folgenden Wochen organisierte das Aktionsbündnis eine von der CDU kritisierte[8] Kampagne mit Reden, Vorträgen und einer Demonstration gegen den Kongress. Gefordert wurde eine Absage der drei Referenten und andernfalls eine Distanzierung von Stadt und Universität Marburg vom Kongress sowie eine Kündigung des Mietvertrages.

Um den Kongress zu unterstützen, gründete sich die Initiative „Für Freiheit und Selbstbestimmung“. Sie gab die „Marburger Erklärung“ mit dem Titel „Für Freiheit und Selbstbestimmung – gegen totalitäre Bestrebungen der Lesben- und Schwulenverbände“ heraus, die von über tausend Personen (darunter eine Reihe von Funktionären und Professoren) überwiegend aus dem konservativ-christlichen Spektrum unterschrieben wurde.[9] Zu den Unterzeichnern gehören zum Beispiel der emeritierte Philosoph Robert Spaemann (München), der emeritierte Staats- und Verfassungsrechtler Martin Kriele (Köln), die Religionsphilosophin Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz (TU Dresden), die Religionsphilosophin Edith Düsing (FTH Gießen), der römisch-katholische Weihbischof der Erzdiözese Salzburg, Andreas Laun, der Vorsitzende der Konferenz Bekennender Gemeinschaften in den evangelischen Kirchen Deutschlands, Ulrich Rüß (Hamburg), die Bundesvorsitzende der Christdemokraten für das Leben, Mechthild Löhr (Glashütten/Taunus), die Publizistin Gabriele Kuby (Rimsting/Oberbayern) der Bundestagsabgeordnete Norbert Geis (CSU, Kleinkahl), der frühere Verteidigungsminister Hans Apel (SPD, Hamburg) und der Europapolitiker Otto von Habsburg (CSU, Pöcking).[10] Am 18. Mai wurde dem Präsidenten der Marburger Universität eine 35 Seiten umfassende Liste mit den Namen von mehreren Tausend Unterzeichnern aus einem breiten Spektrum verschiedener Berufe übergeben.[11]

Inhalt der Erklärung

In dem Aufruf positionierten sich die Unterzeichner, in dem sie die Wissenschaftsfreiheit mit der Forderung verknüpften, das Angebot von Konversionstherapien als therapeutisch sinnvoll anzuerkennen und aufrechtzuhalten. Die Marburger Erklärung sagt hierzu[12]:

  • „Solche Aktionen (die des LSVDs, Anm.) stellen einen Angriff auf fundamentale Freiheitsrechte dar, die in der Verfassung garantiert sind. Wieder wird versucht, die Freiheit der Versammlung, der Rede, des wissenschaftlichen Diskurses und der Wahl der Therapie zu beschneiden. Die vorgebrachten Argumente sind unwissenschaftlich und in sich widersprüchlich.“
  • „Niemand bestreitet die Würde von Menschen mit homosexueller Orientierung und ihre persönliche Freiheit, eine homosexuelle Lebensweise zu praktizieren. Es gibt aber Menschen, die unter ihrer sexuellen Orientierung leiden und therapeutische Hilfe suchen. Wie wissenschaftliche Unter­suchungen zeigen birgt praktizierte Homosexualität ein erhebliches gesundheitliches und psychisches Risiko. Dazu zählen überdurchschnittliche Anfälligkeit für AIDS, Geschlechts­krankheiten, Depression, Ängste, Substanzenmissbrauch (Alkohol-, Medikamente und Drogen) und Suizidgefährdung.“
  • „International ausgewiesene Wissenschaftler und klinische Therapeuten (unter anderem Prof. Dr. Robert Spitzer, Columbia Universität, und die in der Organisation NARTH vertretenen Therapeuten) bezeugen mit ihrer Arbeit, dass Veränderung einer homosexuellen Neigung möglich ist.“

Die APS selbst betonte, sie hätte wegen der Politisierung der Auseinandersetzung durch den Appell „nicht am Appell der Initiative ‚Für Freiheit und Selbstbestimmung‘ mitgewirkt“.[13]

Reaktionen

Ein Unterzeichner des Aufrufs, der Marburger CDU-Fraktionsvorsitzende Philipp Stompfe, erklärte, dass ein grüner Bürgermeister, Franz Kahle, nicht länger im Amt tragbar sei, weil er den Aufruf kritisiert habe. Laut Stompfe soll Kahle die Unterzeichner als Hassprediger bezeichnet haben. Dies bestritt Kahle, betonte aber, dass der Aufruf seiner Meinung nach „bodenlose Unverschämtheiten“ enthalte.[14]

Das Marburger Aktionsbündnis „Kein Raum für Sexismus, Homophobie und religiösen Fundamentalismus,“ hat erklärt, es gebe „schockierende Argumentationsparallelen zwischen der „Marburger Erklärung (2009)„ und extremer Rechte. Gegen diese Positionierung sei „Protest zweifellos legitim und notwendig“, so die Sprecherin Nora Nebenberg. Den Vorwürfen auf angebliche Unterstützung aus der rechten Ecke entgegnete Ursula Gassner für die Initiative „Für Freiheit und Selbstbestimmung“: „Wir Unterzeichner unterhalten keinerlei Verbindung zu irgend einer rechtsradikalen oder anderen radikalen Gruppe und lehnen deren Ziele in jeder Hinsicht ab.“[15] Der Bundestagsabgeordnete Volker Beck hielt fest: „Nicht zufällig hat diese bewusst eskalierende Wortwahl des Aufrufes prompt den Applaus von Rechtsextremisten und die offene Unterstützung der Jungen Freiheit und von Politikern aus DVU und NPD bekommen.“[16] Auch LSVD-Funktionär Hartmut Rus sprach die Instrumentalisierung der Initiative von NPD und DVU an.[17]

Folgekonflikt um die Person Edith Düsings

Die Philosophieprofessorin Edith Düsing, die an verschiedenen Hochschulen und Akademien tätig ist, wurde an der Kölner Universität auf Grund ihrer Unterschrift mit vollem akademischem Titel scharf angegangen.[18][19][20] Der Allgemeine Studierendenausschuss (AStA) der Uni Köln warf Düsing Homophobie vor und forderte das Rektorat der Universität Köln auf, sich aufgrund dieser Haltung von Düsing zu distanzieren und die Professorin abzuberufen.[21] Dies stelle eine Diskriminierung wegen der sexuellen Identität dar: „Zu behaupten, Homosexualität sei umerziehbar, ist scheußlich und verwerflich,“ so der AStA-Vorsitzende Christian Poell.[22][23][24] Zum anderen sah der Kölner AStA in Düsings Äußerungen eine Unterstützung der Konversionstherapie: „Edith Düsing unterstützt damit Ansichten Homosexualität als psychische Störung zu betrachten und die sexuelle Orientierung in pseudowissenschaftlicher Weise zu pathologisieren. Es wird ein Krankheitsbild konstruiert, dass die homosexuelle Orientierung als Problem betrachtet.“[22][23] Der Rektor der Hochschule, Axel Freimuth, entgegnete unter Verweis auf die Wissenschafts- und Meinungsfreiheit, er sähe „keinen Anlass, das Wirken der Professorin zu kommentieren“. Düsing selbst erklärte ihren Schritt mit einem Hinweis auf die ihrer Meinung nach „drohende Beschädigung des Grundrechts“ auf Wissenschaftsfreiheit und Meinungsfreiheit. Ihr Denken gehe vom „unantastbaren Wert jedes Menschen“ und „freiheitlicher, respektvoller Toleranz“ aus; dazu zähle sie auch „die Freiheit von homosexuell orientierten Menschen, nach ihren sexuellen Vorstellungen in Würde leben zu können“.[25]

Im Herbst 2009 rief das Autonome Lesben- und Schwulenreferat an der Uni Köln (LUSK) dazu auf, eine Vorlesung von Frau Düsing über Schillers Konzept des „Höheren Selbst“ zu verhindern. Die Haltung von Edith Duesing sei „inakzeptabel“.[23][26]Während dieser Vorlesung, die deutlich später als geplant anfing, küßten sich schwule und lesbische Paare. Andere Studierende schwenkten Regenbogenfahnen.[27] Der Protest erhielt auch die Unterstützung der Bundeskonferenz der schwulen und schwullesbischen Referate und Hochschulgruppen.[28]

Dirk Ludigs, der Nachrichtenchef von TIMM, kritisierte die Protestierenden dahingehend, dass sie keine guten Gründe zur Einschränkung der Freiheit der Wissenschaft und der Meinung vorgebracht, wohl aber ihr gestörtes Verhältnis zur Freiheit selbst unter Beweis gestellt hätten.[29] Der Philosoph Robert Spaemann, selbst ein Unterzeichner der Marburger Erklärung, fand den Vorgang gegen Edith Düsing aufgrund der Gefährdung der freien Rede „nicht nur absurd, sondern gefährlich“.[30]

Einzelnachweise

  1. Frankfurter Rundschau: Psychotherapiekongress in Marburg Wirbel um „Homo-Heiler“ vom 14. Mai 2009.
  2. Frankfurter Rundschau: Therapeuten erzürnen Homosexuelle vom 31. März 2009, gesehen 18. Mai 2009.
  3. Die Standard: „Umpolungsseminare“ bei Kongress für Psychotherapie vom 8. April 2009, gesehen 18. Mai 2009.
  4. LSVD: Umpolungsseminare beim internationalen Kongress für Psychotherapie und Seelsorge
  5. Grüne Hessen: Beschluss der Landesmitgliederversammlung am 28. März 2009 in Butzbach: Keinen Fußbreit der Diskriminierung – Homophobie-Kongress verhindern!.
  6. Frankfurter Rundschau: „Homoheiler“-Kongress in Marburg: Schwulenreferat organisiert Proteste. Frankfurter Rundschau vom 8. April 2008.
  7. [http://noplace.blogsport.de/unterstuetzer_innen/ Liste der Mitglieder des Bündnisses nach eigener Darstellung
  8. „... stehen Sie auf dem Boden der Demokratie!“
  9. Initiative „Für Freiheit und Selbstbestimmung“
  10. Medrum: Otto von Habsburg: „Ich stehe voll und ganz hinter dieser Erklärung!“ vom 18. Mai 2009, gesehen 18. Mai 2009.
  11. Kurt J. Heinz in Medrum: Wehrhafte Freiheitsliebe gegen rot-grün-lila gefärbte Inquisition – 35 Seiten mit mehreren tausend Namen an Präsident der Universität Marburg übergeben vom 19. Mai 2009, gesehen 2. August 2009.
  12. Pressemeldung der „Initiative für Freiheit und Selbstbestimmung“
  13. Politisierte Appell „Für Freiheit und Selbstbestimmung“ die Debatte? Akademie für Psychotherapie und Seelsorge: „Aus diesem Grund wirken wir nicht am Appell mit!“
  14. http://www.fr-online.de/frankfurt_und_hessen/nachrichten/hessen/?em_cnt=1755459&
  15. Medrum: 2. Pressemitteilung Initiative „Für Freiheit und Selbstbestimmung“ – „Infame“ Verleumdungsversuche des „Marburger Aktionsbündnisses“ zurückgewiesen vom 18. Mai 2009, gesehen 18. Mai 2009.
  16. Volker Beck: Grußwort an die Kritiker des 6. Internationalen Kongresses für Psychotherapie und Seelsorge in Marburg und der dort angebotenen Umpolungsseminare] vom 20. Mai 2009.
  17. »Präzedenzfall könnte fatale Wirkung haben« Hartmut Rus im Interview mit der Jungen Welt, LSVD Beauftragte für Sekten und Psychogruppen
  18. Kurt J. Heinz in Medrum: Diffamierung der Erklärung „Für Freiheit und Selbstbestimmung – gegen totalitäre Bestrebungen der Lesben- und Schwulenverbände“ und Edith Düsings vom 12. Mai 2009 (gesehen 2. Juli 2009).
  19. zeit online: Diskriminierung Schwulenhetze, streng wissenschaftlich. Abgerufen am 16. Dezember 2009.
  20. Medrum: „Für Freiheit und Selbstbestimmung – gegen totalitäre Bestrebungen der Lesben- und Schwulenverbände“ vom 20. April 2009 (gesehen 2. Juli 2009).
  21. Report-K: In Köln lehrender Professorin aus Gießen wird Homophobie vorgeworfen
  22. a b Pressemitteilung des AStA Köln vom 24. April 2009 (gesehen 15. Dezember 2009).
  23. a b c Pressemitteilung des Autonomen Lesben- und Schwulenreferat an der Uni Köln (LUSK) vom 27. April 2009 (gesehen 15. Dezember 2009).
  24. www.koelncampus.com: AstA der Uni Köln fordert Abberufung von homophober Professorin. Abgerufen am 16. Dezember 2009.
  25. Erklärung Edith Düsings vom 7. Dezember 2009 in der Tagespost, gesehen am 15. Dezember 2009
  26. Medrum: Vorlesungsverbot für die Philosphin Edith Düsing? vom 1. Dezember 2009, gesehen am 3. Dezember 2009.
  27. ksta.de: Küsse im Hörsaal. Abgerufen am 17. Dezember 2009.
  28. schwulenreferate: Betreff: Unterstützung der Kritik des LUSK an der Universität zu Köln an Frau Prof. Dr. Düsing. Abgerufen am 17. Dezember 2009.
  29. Dirk Ludigs in queer: Standpunkt: Queere Jakobiner vom 12. Dezember 2009, gesehen am 13. Dezember 2009.
  30. Paul Badde in Welt Online: „Minarette sind für den Islam nicht lebenswichtig“, vom 11. Dezember 2009, gesehen am 13. Dezember 2009.