Guernica (Gemälde)

Ölgemälde von Pablo Picasso
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Guernica ist eines der bekanntesten Gemälde Pablo Picassos von (1937, Öl auf Leinwand, 349x777 cm). Es befindet sich im Museo Reina Sofia, Abteilung Picasso, Madrid

Es ist mein Wunsch, Sie daran zu erinnern, dass ich stets davon überzeugt war und noch immer davon überzeugt bin, dass ein Künstler, der mit geistigen Werten lebt und umgeht, angesichts eines Konflikts, in dem die höchsten Werte der Humanität und Zivilisation auf dem Spiel stehen, sich nicht gleichgültig verhalten kann. Picasso, Dezember 1937


Geschichte des Bildes

Die Zerstörung Guernicas

Guernica ist eine kleine baskische Stadt mit heute etwa 17000 Einwohnern im Norden Spaniens. Bekannt wurde die Stadt weltweit, als sie während des spanischen Bürgerkrieges (1936-1939) am 27.April 1937 von der Legion Condor, einer deutschen Flugstaffel, angegriffen wurde. Nach einem vierstündigen Flächenbombardement durch Spreng- und Brandbomben war die Stadt und alles im Umkreis von 10 km bis auf die Grundmauern vernichtet. In dieser Nacht starben von damals 5000 Einwohnern über 1600.

Die Legion Condor war General Franco, dem späteren spanischen Diktator, von Hitler zur Verfügung gestellt worden, um die Demokratie in Spanien zu beenden und neu entwickelte Waffensysteme für den 2. Weltkrieg zu testen. Mit dem Bombardement wollte Franco das baskische Volk demoralisieren und zur Kapitulation zwingen. Die Brutalität eines ausschließlich gegen die Zivilbevölkerung ausgerichteten Angriffs, führte jedoch zu weltweitem Entsetzen und einer jahrzehntelangen politischen Isolation des Franco-Regimes.

In den ersten Tagen nach dem Bombardement behauptete das Franco-Regime, die Basken selbst hätten die Stadt zerstört, damit die Stimmung zu ihren Gunsten umschlägt. Diese Stellungnahme wurde nicht nur von der faschistischen Propaganda in Deutschland und Italien verbreitet, sondern auch innerhalb der konservativen französischen Medien (z.B. Figaro). In der Nähe der Stadt Guernica hatten sich zum Zeitpunkt des Angriffs internationale Beobachter zufällig aufgehalten. Durch ihre Dokumentation des Verbrechens, die noch vor dem Eintreffen der deutschen Armee unter General von Richthofen und ihren „Säuberungsarbeiten“ stattfand, konnte diese Propagandalüge nicht lange aufrechterhalten werden.

Picassos Motivation

Schon 1936 hatte Picasso von der legitimen Regierung Spaniens den Auftrag bekommen für den spanischen Pavillon der Weltausstellung ein Bild zu malen. Nach dem Angriff auf Guernica verwarf er sein ursprüngliches Konzept (Der Maler und sein Modell). Folgende Punkte könnten Picasso bewegt haben, ein Bild zu einem aktuellen Ereignis zu malen:

Picasso war erzürnt über die falsche Darstellung der Ereignisse in Guernica, auch in den Medien eines freien Landes wie Frankreich. So behauptete der Figaro die Basken selbst hätten Guernica zerstört. Diese Darstellung der Dinge war sonst nur in den totalitären Staaten wie Deutschland und Italien verbreitet worden. Im Jahre 1936 hatten die übrigen europäischen Länder in einem Vertrag beschlossen sich nicht in den spanischen Bürgerkrieg einzumischen, da man eine Ausweitung zu einen zweiten Weltkrieg befürchtete. Außer Frankreich hielt sich aber kein Land an diese Abmachung. Picasso war über die neutrale Haltung der linksliberalen Regierung enttäuscht.

Picasso fürchtete sich einerseits vor der generellen Polarisierung der europäischen Gesellschaften aber auch, dass in Frankreich die konservativen, antisemitischen und faschistischen Kräfte wieder stärker würden (1893 Affäre Dreyfus, Croix de feu, Action française, 1934 Februarunruhen, 1940-44 Vichy-Regime unter Maréchall Philippe Pétain).

General Franco wurde vom spanischen Klerus als christlichen Held und Retter Spaniens vor dem Kommunismus gefeiert. Franco selbst sah sich als Repräsentant des wahren Spaniens. Willi Brandt sagte dazu bei einem Besuch Spaniens 1937: „Das Franco-Lager vertritt die mittelalterlichen Kräfte Spaniens: Adel, Großgrundbesitzer, reaktionäre Kirchenfürsten und die verkommene Offiziersclique.“ Schon in seiner Postkartenaktion „Traum und Lüge Francos“ von 1935 hatte Picasso versucht Franco zu demaskieren. Seit 1900 stand Picasso in Verbindung zur dem linksliberalen, antiklerikalen und anarchischen Künstler- und Literatenkreis Els Quatrie Gats in Barcelona. In Paris befreundete er sich mit dem Kommunisten Éluard. Zudem hielt er auch über seine Freundin Dora Maar und Künstler aus dem Pariser Surrealistenkreis Kontakt zu weiteren politisch engagierten Intellektuellen, wie z.B. den Schriftstellern André Breton und Louis Aragon. Die legitime Regierung hatte wichtige Reformen in die Wege geleitet. Dazu gehörten z.B. die Bodenreform, der Ausbau des Bildungsnetzes mit öffentlichen Schulen und eine generelle Liberalisierung des öffentlichen und privaten Lebens. Picasso war ein überzeugter Anhänger der Volksfront und ihrer Politik.

Verbleib des Bildes nach 1937

1938 wurde das Gemälde noch in verschieden Ausstellungen in Skandinavien, England und den USA präsentiert. Da Picasso das Bild einer zukünftigen spanischen Republik vermachte, wurde Guernica von 1939 – 1981 im Museum of Modern Art in New York ausgestellt. Nach dem Tod Francos und der Wiedererrichtung der Demokratie in Spanien kam das Bild 1981 in den Prado in Madrid. Heute befindet es sich in den Räumen des Museo Reina Sofia, ebenfalls in Madrid.


Bildaufbau und Stilmittel

Komposition des Bildes

Die Komposition des Bildes erwies sich als äußerst schwierig. Die kolossalen Maße von 349 x 777 cm waren durch den architektonischen Raum bereits bei der Planung des Pavillons festgelegt. Insgesamt musste Picasso eine Bildfläche von mehr als 27 m² bearbeiten. Eine weitere Schwierigkeit bestand in dem Verhältnis von Horizontale zur Vertikalen. Die Breite misst mehr als die doppelte Höhe. Ein solches Verhältnis eignet sich besonders für Reihung aufrechter Bildmotive. Durch die neue Thematik jedoch benötigte man eine Destruktionsszene mit zusammenbrechenden Formen und liegenden Figuren. Picasso greift zur Lösung der Schwierigkeiten auf Mittel der Darstellung zurück, die er bereits zu früheren Zeiten erprobt hat. Aussagen über die Entstehung des Werkes sowie die Bedeutung einzelner Motive lassen sich vor allem wegen der erhaltenen 38 Einzelstudien und der fotografischen Dokumentationen von Dora Maar treffen.

Mittel der christlichen Kunst

Erst mit dem Beginn der Arbeit auf der Leinwand tauchten Motive auf, die sich an die christliche Passionsikonografie orientieren. Vermutlich durch die Ausstellung katalonischer Kunst des 10. bis 15. Jahrhunderts im Musée du Jeu de Paume, die er selbst mitvorbereitet hatte, wurde bei Picasso sein Interesse für christliche Kunst neu entfacht (1930 Kreuzigung, 1932 Grünwald-Paraphrasen). Folgende Merkmale des Bildes lassen eine Zuordnung zur christlichen Malerei zu: Um die friesartige Länge des Bildes zu brechen teilte Picasso das Bild in drei Teile, wie bei einem Triptychon (Altartafeln) auf. So entstanden zwei Seitenflügel und ein größeres Mittelfeld mit dem Hauptmotiv, das bei Altären stets den Gekreuzigten zeigt. An diese Stelle brachte Picasso, in einer pyramidal angeordnete Destruktionsszene (in manchen Interpretationen mit antiken Giebel assoziiert), sein aus seiner eigenen Ikonografie schon lang verwendetes Sinnbild für das absolute Leid ein: das sterbende Pferd (Stute). Dessen lanzettartiges Wundmal bohrt sich in den in Fragmente auseinandergesprengten Körper des Tieres. Durch Verwendung des Pferdes der Corrida als Passionsmethapher entstand eine so genannte Sakrilisation des Profanen. Ursprünglich hatte Picasso als Ersatz für den Gekreuzigten den sterbenden Krieger vorgesehen. Es blieben nur Bruchstücke der eigentlichen Figur übrig, die sich im unteren Teil des Bildes horizontal nebeneinander aufreihen, ähnlich einer Reliquie. So ist es auch nicht verwunderlich, das in einigen Interpretationen die extrem gestreckten Arme als Predella-Motiv gedeutet werden, sie bilden den "Sockel" des "Flügelaltars". Außerhalb der Pyramidalkonstruktion mit dem dominierenden Hauptmotiv ordnen sich an den Seitenflügeln weitere Motive mit Anklang an christliche Darstellungsformen der Hierarchie unter. Auf dem linken Seitenflügel erinnert die aufschreiende Mutter mit dem toten Kind an das alte christliche Motiv der Pietà, die um den toten Sohn trauernde Maria. Auf dem rechten Seitenflügel symbolisieren sieben Flammen die Feuersbrunst, die sich damals über Guernica erstreckte. Im Christentum steht die Zahl sieben für die Apokalypse.

Mittel des Kubismus

Ähnlich wie mit den Mitteln der christlichen Ikonografie tauchten in der Entwicklungsgeschichte des Bildes die Elemente aus dem Kubismus erst in den letzten Zuständen der Leinwand auf. Zuvor hatte die Komposition einen starken linearen Charakter. Mit der Klärung der Komposition setzte sich dann auch immer stärker ein kubistischer Flächenplan mit von Hell-Dunkel-Werten durch. Der stärkste Kontrast von Hell-Dunkel-Werten verläuft genau durch die Mitte des Bildes. Während links dieser Grenze die Szene mit Pferd, Pietà und Stier in dunklen Grauwerten gehalten ist, strahlt im Kontrast dazu die rechte Hälfte mit der Feuerszene und der Lichträgerin förmlich. Des weiteren ist die collagenartige Bemusterung des facettierten Leibes des Hauptmotiv ein Hinweis, dass Picasso bewusst sich der Mittel des Kubismus bedient hatte. Aus Berichten von Atelierbesuchen weiß man, das er mehrfach während der Entstehung des Bildes mit Collagen experimentiert hatte. So war z.B. der Körper des Pferdes zwischenzeitlich mit Zeitungsseiten bedeckt. Vor allem die Figuren Stier und Pferd erinnern stark an Picassos kubistische Phase, da sie aus verschiedenen Seitenansichten zusammengesetzt scheinen.

Farbe oder Grisaille

Im Treppenaufgang des spanischen Pavillons befanden sich zwei Gemälde eines weiteren berühmten spanischen Malers: Der katalanischen Bauernaufstand und Der Schnitter von Joan Miró. In seinen ursprüngliches Konzept sah Picasso eine farbige Darstellung von Guernica in einer ähnlichen Skala wie bei Miró vor. Freunde rieten bei ihrem Besuchen im Studio davon ab. Ein möglicher Grund für die Verwendung von Grisaille könnte sein, das Picasso sich dazu entschied sein Gemälde der Fotodokumentation im zweiten Stock des Pavillons über Opfer des Bürgerkrieges auf Schwarz/Weiß-Fotos anzugleichen. Ein anderer Grund könnte auch sein, dass Picasso mit seinem düsteren Bild einen Gegenpol zum Konzept der Weltausstellung setzen wollte. Denn gegen alle Zeichen der Zeit war das Ausstellungsgelände in fantastische Lichtkompostionen eingebunden um sugerierte eine fröhliche, friedliche, bunte Welt.

Der architektonische Kontext

José Sert, ein ehemaliger Mitarbeiter von Le Corbusier, hatte bei seinen Planungen für den spanischen Pavillon Picassos Guernica für den sichtbarsten Ort vorgesehen. In enger Absprache mit dem Architekten entwickelte Picasso sein Konzept für das Gemälde. Raum und Gemälde sind auf das Engste aufeinander abgestimmt gewesen. Oft ging daher in anderen Ausstellungen ein Teil der Wirkung des Bildes verloren, weil man diesem Aspekt nicht genügend Beachtung geschenkt hatte. Der Besucher betrat den Pavillon durch einen Eingang rechts vom Bild und passierte dieses in einem Abstand von etwa vier Metern um in die große Haupthalle zu gelangen. Entgegen der üblichen westlichen Art von links nach rechts ein Bild zu lesen, legte Picasso Leserichtung des Bildes daher von rechts nach links, damit der Besucherweg und der Figurenweg synchron verlaufen konnten. Des weiteren nahm er architektonische Merkmale des Ausstellungsraumes, wie das Fliesenmotiv und den Deckenstrahler, in dem Gemälde auf. Durch die Anwendung dieser Mittel bekam das Bild die Wirkung eines Bühnenraumes und der Betrachter wurde so in das Geschehen integriert.

Bildinhalte

Figuren aus Picassos eigener Ikonografie

Das Pferd (Stute)

Das Pferd ist, wie bereits erwähnt, ein bei Picasso häufig auftretendes Sinnbild für das absolute Leid. Es taucht immer wieder bei seinen Darstellungen der Corrida (Stierkampf) sowie auch in der Minotauromachie auf. Ungewöhnlich ist dabei, dass gegenüber dem üblicheren Kampf in der Arena die Kontrahenten Pferd und Stier und nicht Mensch und Stier sind. Das Pferd ist immer das Opfer, der Stier weidet in oraler Gier die Stute aus, ein verschlüsselter sexueller Akt. In der Minotauromachie taucht zusätzlich eine Torera im Geschehen auf. Bei Guernica kann man jedoch davon ausgehen, dass keine sexuelle Komponente versteckt ist, denn gegenüber den üblichen Corrida-Darstellungen agieren Stier und Stute nicht miteinander. Sie müssen ihr eigenes Bedeutungsspektrum haben. In vielen Interpretationen wird die Stute als das Sinnbild für die Frauen von Guernica gesehen, die den Großteil des Leides ertragen mussten. In der Stadt waren zum Zeitpunkt des Angriffs keine Soldaten stationiert gewesen.

Die Stute ist das dominierende Hauptmotiv. Die zentrale Stelle im Bild (Triptychon: Christus), ihr plastisch, collagenartig durchgestalteter facettierter Körper, von der Fläche gelöst – alle diese Mittel sorgen dafür, dass das Interesse des Betrachters vor allem dieser Figur gilt.

Der Stier

Die Rolle des Stieres ist weitaus schwieriger zu deuten. Picasso hatte sich Jahre zuvor mit Freudscher Psychoanalyse beschäftigt. Der Stier, bzw. der Minotaurus verkörpert für ihn vieles: die Kraft, welche die Grenzen des Irrationalen sprengt, Aufsässigkeit, Revolution, Triebhaftigkeit, Brutalität. Entgegen der Stute ist sie nicht eindeutig als positive, bzw. negative Figur zu werten. Von Picasso wurde sie auch wegen ihres menschlichen Wesens, der Vitalität und ihrer Männlichkeit verehrt. Er selbst lieferte auch keine Hilfe für die Deutung. Als er von Freunden auf die Symbolik seiner Figuren in Guernica angesprochen wurde, soll er geantwortet haben: „Nun, das Pferd ist ein Pferd und der Stier ein Stier“. In manchen Interpretationen wird der Stier als Symbol für Franco, bzw. den Faschismus gesehen, da es Abseits von allem steif und unversehrt steht. Andere wiederum sehen, wie in der Postkartenserie Traum und Lüge Francos, den Stier als die Verkörperung der Lebenskräfte Spaniens. Das Böse sei in Guernica nicht mehr personalisiert. Wiederum andere kommen auf Grund der Vorzeichnungen, dort hatte der Stier einen menschlichen Kopf mit Picassos Gesichtszügen, zum Schluss, der Stier mit dem brennenden Schwanz stehe für den wütenden und erregten Picasso.

Die Lichtträgerin

Nach Meinung der Organisatoren der Berliner Guernica-Dokumentation von 1975 ist die Lichträgerin eine traditionsreiche allegorische Figur, die für Aufklärung aber auch für die politische Befreiung steht (Freiheitsstatue). Kritiker bemängeln an dieser Theorie, dass in den vorangegangen Arbeiten diese Interpretation nicht anwendbar ist. In der Radierung Minotauromachie von 1935 ist die Lichtträgerin ein unschuldiges, jungfräuliches Wesen, welches die brutale Szene von seelischer und körperlicher Zerstörung erhellt. Sie trägt dabei die Gesichtszüge der Marie-Thérèse Walter, der damals jungen Geliebten Picassos. Man könnte also auch davon ausgehen, dass die Figur nicht aus Bildern eines allgemeinen kulturellen Gedächtnisses stammt, sondern aus ganz persönlichen Bedeutungszusammenhängen des Künstlers sich zusammensetzt. Entgegen vieler anderer Motive, war diese Figur von Anfang an in das Konzept mit eingeplant. Als Gegenpol zur verlogenen Propaganda des Franco-Regimes, deckt sie mit Schrecken die Verbrechen und die Greul an der Zivilbevölkerung auf und läßt die Weltöffentlichkeit daran teilnehmen.

Der Krieger

Der Krieger hält das zerbrochene Schwert in der linken Hand, während in seiner geöffneten Rechten stark die Zeichnung der Schicksalslinien hervortreten. Ursprünglich sollte der gefallene Krieger mit erhobener Faust mit Ähren die zentrale Figur des Bildes werden. Er sollte mit seiner Haltung für den ungebrochenen Widerstand des freien Spaniens stehen und Hoffnung verkünden. Im Laufe der Arbeiten auf der Leinwand zerfällt die Figur in Körperfragmente und verliert ihre ursprünglich zugedachte Rolle. Grund dafür könnten die Unruhen in Barcelona vom Mai 1937 sein, als Stalinisten gegen die restliche Linke zur Waffe griffen. Ohne Zusammenhalt keine Hoffnung. Es könnte aber auch das Gebot der Weltausstellung, politischen Stellungnahmen zu unterlassen, Picasso gezwungen haben sein Konzept zu ändern. Vielleicht war er aber auch zum Schluss gekommen, dass die Aussagekraft von Schmerz und Qual stärker als die von Protest den Betrachter emotional ergreifen könnte.

"Reale" Figuren

Die Motivgruppe, die das reale Geschehen symbolisiert, wird erst spät im Bild hinzugefügt. Die nicht anatomisch korrekte Darstellung dient einer Überakzentuierung wichtiger Körperteile. Zusätzlich dienen die Gesichter als Ausdrucksträger. Vorbilder für die Repräsentanten des Leides könnten Bilder gewesen sein, die Picasso als Dreijähriger während des Erdbebens von Málaga 1884 wahrgenommen hatte. Damals erlitt er ein lebenslanges schweres Trauma, dass ihn bei jedem plötzlicher Knall zum Vorschein kam.

Mutter mit totem Kind (Pietà)

Diese Figur erinnert an die christliche Darstellung der trauernden Mutter Gottes. Sie steht für den Verlust von Angehörigen den in der Bombennacht die ganze Bevölkerung erleiden musste, als das Leben eines Großteils ihrer Familien ausgelöscht wurden.

Fliehende Frau

Auf der rechten Seite des Bildes tobt eine Feuersbrunst, symbolisiert durch sieben Flammen. Die Fliehende tritt aus den brennenden Häusern heraus und in den von der Lichtträgerin erzeugten Lichtkegel. Passend zur Figur legt Picasso den Akzent auf ihren Bewegungsapparat. Das unproportional vergrößerte rechte Bein scheint wie ein Gewicht sie daran zu hindern dem Tod zu entkommen. Diese Figur könnte für Todesangst stehen.

Brennende Frau

Konträr dazu verhält sich die in den Häusern zu verbrennende Frau. Ihr erscheint Kopf stark vergrößert, der restliche Körper wird optische zurückgestuft. Wie auch bei der Fliehenden Frau ist bei der brennenden Frau die Physiognomie der zentrale Ausdrucksträger. Diese Figur steht für die Opfer und deren Tod, die der Angriff verursachte.

Attribute

Deckenlampe

Die Deckenlampe befindet sich an der Position im Bild wo ursprünglich ein Sonnenmotiv mit Strahlenkranz die Faust des gestreckten Armes des Kriegers umfasste. Mit der Veränderung der Rolle des Kriegers wurde aus dem Sonnenmotiv ein Innenraumrequisit, wie der Tisch auf der linken Seite des Bildes. Dadurch bekam das Bild einen verstärkten Bühnenbildcharakter. Die Deckenlampe ist als einziges Objekt unserer Zeit zuzuordnen. Sie ersetzt das irreale Licht der Altarbildern (Heilsaspekt) durch ein „reales“ Licht. In manchen Interpretationen wird sie daher als die Darstellung einer heilloser Welt ohne christliche Erlösung gesehen.

Olivenreis

Der Olivenreis wächst aus der Faust des Kriegers. Es ist das einzige verbliebenes Symbol der Hoffnung, der Krieg möge bald ein Ende nehmen.

Speer

Der Speer dringt von oben rechts vom Wundmal in das Pferd ein. Er könnte daher für die Bomben stehen, die den Tod "von oben" brachten.

Vogel

Der Vogel ist eine Figur aus dem allgemeinen kulturellen Gedächtnis. Er könnte für die alte griechische Legende des Phönix stehen oder für die aus der biblischen Tradition kommende Friedenstaube.


Besonderheiten

Mit der französischen Revolution und ihre gesellschaftlich Veränderungen änderte sich auch das Blickfeld der Kunst. Waren bis dato Künstler Angestellte des Adels oder des Klerus mussten nun viele unter teilweise erbärmlichen Verhältnissen ihr Leben fristen. Dies führte auch zu einer Änderung in der Thematik der Kriegsdarstellungen. Während die traditionelle Malerei oft den Krieg als ein riesiges Spiel mit fairen Verlierern inzenierte, standen nun die Opfer im Fokus der Aufmerksamkeit. Im Sinne Goyas Desartes de la Guerra ging auch Picasso diesen neuen Weg: In Guernica gibt es keinen Held, kein Sieg des Guten, keine Täter, dafür aber die Apokalypse mit all ihren Grausamkeiten. Das Bild ergreift Partei, dient aber keinen politischen, religiösen oder militärischen Interessen. Es klagt gegen Krieg und Zerstörung. Das besondere dabei ist, das Picasso die Geschehnisse nicht dokumentiert, sondern generalisiert. Er erreicht durch die Verwendung universeller, bildlicher Elementarformen, die, ähnlich wie bei Piktogrammen, eine hohe Verständlichkeit. Diese geht sogar über den eigenen Kulturkreis hinaus. Sonst wäre es auch nicht zu erklären, dass Guernica eins der am meisten zitierten Bilder der Welt ist, ob als Grafitti, Plakat, oder Skulptur.

Weiterführende Angaben

Literaturangaben

Ludwig Ullmann: Picasso und der Krieg, Karl Kreber Verlag Bielefeld, 1993 Carlo Ginzburg: Das Schwert und die Glühbirne - Picassos Guernica, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 1999