Luftangriff bei Kundus

durch Militär der Bundesrepublik Deutschland angeordneter Bombenabwurf
Dies ist eine alte Version dieser Seite, zuletzt bearbeitet am 6. Dezember 2009 um 14:29 Uhr durch Times (Diskussion | Beiträge) (Hinterfragung des Mandats: Formulierung; vorherige Satz sonst unvollständig.). Sie kann sich erheblich von der aktuellen Version unterscheiden.

Am 4. September 2009, gegen 2:00 Uhr Ortszeit, wurden durch einen Luftangriff bei Kunduz, 7 km südwestlich der Hauptstadt der gleichnamigen afghanischen Provinz, zwei von Taliban gestohlene Tankwagen bombardiert. Die Bomben wurden von zwei US-amerikanischen Flugzeugen abgeworfen, nachdem dies von deutscher Seite angefordert und mit z.T. falschen Angaben legitimiert worden war.[1] Schon am selben Tag wurde klar, dass durch den Angriff auch zahlreiche Zivilisten verletzt oder getötet worden waren, was zu Kritik durch Vertreter der NATO und der afghanischen Behörden führte.

Ort des Angriffs (Afghanistan)
Ort des Angriffs (Afghanistan)
Ort des Angriffs
Lage in Afghanistan

Abweichend vom Informationsstand seines eigenen Ministeriums bestritt der damals amtierende Verteidigungsminister Franz Josef Jung zunächst zivile Opfer ganz oder in der amtlich schon bekannten Höhe. Auch andere Politiker der damaligen Regierungsparteien einschließlich Bundeskanzlerin Angela Merkel räumten die inzwischen durchgesickerten zivilen Opferzahlen zunächst nur andeutungsweise ein. Bis mindestens zum 6. November 2009 wurde in der Öffentlichkeit durch Politiker der Regierungsparteien, Bundeswehr und Bundeswehrverband geltend gemacht, der Luftangriff sei angemessen gewesen und zivile Tote habe es nicht oder in nicht ausreichend genau bekanntem geringem Umfang gegeben. Intern soll das Bundeskanzleramt dagegen bereits vor dem 27. September 2009 zur Einschätzung gelangt sein, dass der Einsatz nicht angemessen war.[2] Das ZDF erweckte sogar noch in einer am 26. November 2009 gesendeten „Chronologie des Luftschlags“ diesen Eindruck - allerdings unter Hinweis auf „Gespräche mit verschiedenen afghanischen Quellen, die nicht genannt werden möchten"[3]. Erst nach Veröffentlichung detaillierter amtlicher Texte und eines Videos durch eine Zeitung ebenfalls am 26. November 2009[4][5] übernahm Jung, inzwischen Bundesarbeitsminister, am 27. November 2009 die politische Verantwortung für die falsche bzw. verspätete Unterrichtung von Parlament und Öffentlichkeit und bot seinen Rücktritt an, der von der Bundeskanzlerin angenommen wurde.[6]

Strafrechtlich ermittelt seit Dezember 2009 die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe wegen der Vorgänge um den Luftangriff.[7] Politisch sollen die Vorgänge ebenfalls ab Dezember 2009 durch einen Untersuchungsausschuss des Verteidigungsausschusses aufgeklärt werden.[8]

Der Luftangriff

 
F-15E Strike Eagle über Afghanistan

Am 3. September 2009 gegen 20 Uhr Ortszeit hatte ein afghanischer Informant dem Bundeswehr-Camp bei Kunduz gemeldet, dass die Taliban zwei Tanklaster aus einem NATO-Versorgungskonvoi bei Aliabad gestohlen hatten.[1] Später gab er an, dass zwei Taliban-Kämpfer mit den gestohlenen Tanklastwagen in einer Furt manövrierunfähig liegengeblieben waren.[9] Die Bundeswehr veranlasste daraufhin eine Aufklärung durch einen US-Bomber vom Typ B-1B, ausgerüstet mit Sniper-ATP-Aufklärungsbehälter. Das Flugzeug übertrug etwa um Mitternacht seine Aufnahmen live an den Kommandeur des PRT Kunduz, Oberst Georg Klein, für den ein Feldwebeldienstgrad unter dem Namen „Red Baron“ den Funkverkehr führte. Das Flugzeug musste mangels Treibstoffs zurück zu seiner Einheit.

Etwa 50 Minuten später fragte „Red Baron“ erneut bei der NATO-Luftzentrale nach Luftunterstützung und behauptete auf Anfrage, es bestehe Feindkontakt, obwohl sich keine NATO-Soldaten oder afghanische Kräfte in der Nähe der beiden Tankfahrzeuge befanden. Zwei F-15E-Kampfflugzeuge trafen daraufhin über dem Einsatzgebiet ein. Sie lieferten den Deutschen erneut Live-Bilder vom Einsatzort. Einer der Piloten meldete ausdrücklich keine deutschen oder afghanischen Truppen in der Nähe der Tankwagen. Als einer der Piloten die Deutschen um weitere Aufklärung der Lage bat, lehnte dies „Red Baron“ ab und gab den Befehl seines Vorgesetzten Klein zum Abwurf von Bomben durch. Als ein Pilot fragte, ob die Personen an den Tanklastern vor der Bombardierung durch einen Tiefflug vertrieben werden sollten, wurde auch das von den Deutschen abgelehnt. Auf die Frage eines Piloten, ob die Personen um die Tankfahrzeuge eine „unmittelbare Bedrohung“ darstellten, wurde das von „Red Baron“ - erneut wahrheitswidrig - bestätigt. Damit war die Bombardierung nach den ISAF-Regeln legitimiert.[1] Die beiden US-Piloten warfen am 4. September 2009 gegen 1 Uhr 50 Ortszeit zwei Bomben des Typs GBU-38 ab, machten einen Überflug, meldeten 56 Tote und drehten in Richtung auf ihre Einsatzbasis ab.

Erste Aufklärung

Bereits wenige Stunden nach dem Luftschlag hatte das deutsche Regionalkommando in Masar-i-Sharif an das Einsatzführungskommando der Bundeswehr in Geltow bei Potsdam klare Hinweise auf zivile Verletzte gemeldet. Das geht beispielsweise aus Anlage 23 eines Feldjägerberichts hervor: im Krankenhaus von Kunduz seien „sechs Patienten im Alter von zehn bis zwanzig Jahren“, also auch Kinder, im Zusammenhang mit dem Luftschlag behandelt worden. Ein deutscher Oberstarzt im Regionalkommando berichtete ebenfalls am Abend des Luftangriffs nach Potsdam erst von einem Kind, später von zwei Jungen, „etwa 14 Jahre alt“, mit „offenem Bruch“ und „Schrapnell-Verletzungen“. Das Regionalkommando meldete ebenfalls unverzüglich unter Berufung auf NATO-Verbündete, dass Taliban-Kämpfer vor dem Bombenangriff eine Moschee gestürmt hatten und „mehrere Dorfbewohner zwangen, mit Traktoren bei der Bergung des Benzins zu helfen“. 14 von ihnen seien „seitdem verschwunden.“ Auch bereits am 4. September 2009 hatte das Regionalkommando unter Berufung auf NATO-Verbündete "zwei Leichen im Teenager-Alter" nach Potsdam gemeldet.[10]

Am selben Tag traf im Auftrag des ISAF-Kommandeurs Stanley A. McChrystal eine Untersuchungskommission ("Initial Action Team") in Begleitung von Journalisten der Washington Post in Kunduz ein. Dort hielt sie der Kommandeur des deutschen Feldlagers davon ab, den Ort des Luftangriffs oder das Krankenhaus von Kunduz aufzusuchen, denn dies sei wegen der Verärgerung der Einwohner zu gefährlich. Später waren die Untersucher allerdings überrascht, dass Einheimische den Luftangriff als "good operation" lobten und geltend machten, dabei seien nur Aufständische oder nächtliche Diebe ("bad people") zu Schaden gekommen. Zunächst wurden die Vorgänge also nur im Feldlager besprochen. Das Ergebnis war aber nach Eindruck der Journalisten "more alarming" als erwartet. So hätten die Video-Aufnahmen der Bomberpiloten gezeigt, dass vor dem Angriff etwa 100 Personen als schwarze Punkte an den Tanklastern zu erkennen waren, danach nur noch einige wenige, die davon liefen, also überlebt hatten, während die meisten der etwa 100 Punkte verschwunden waren ("were gone").

Am Vormittag des 5. September 2009 besuchte die Kommission doch das Krankenhaus und fand dort Kinder und Jugendliche mit Splitter- und Brandverletzungen vor. Am Nachmittag des 5. September 2009 traf McCrystal im Feldlager ein, wo sich inzwischen zusätzlich Mitglieder einer von Präsident Karsai entsandten Kommission befanden. Er fuhr trotz erneuter Warnung der Deutschen zum Ort des Luftangriffs, wo sich allerdings keine Leichen mehr fanden. McChrystal besuchte außerdem in Begleitung auch eines deutschen Fernsehteams das Krankenhaus und ließ sich vor der Kamera von einem verletzten Jugendlichen den Luftangriff schildern. Diese Aufnahmen wurden am 6. September 2009 von mehreren deutschen Sendern ausgestrahlt. Auf der Grundlage des Video-Vergleichs und der Besuche im Krankenhaus gab die Kommission am selben Tag bekannt, dass bei dem Luftangriff etwa 125 Personen getötet worden waren, davon mindestens zwei Dutzend Unbeteiligte („not insurgents“).[11]

Am 13. November 2009 gab die von Karsai eingesetzte Untersuchungskommission bekannt, dass durch die Bombardierung neben „Aufständischen“ auch 30 Zivilisten getötet worden seien.[12]

Unzureichende Unterrichtung von Parlament und Öffentlichkeit

Verteidigungsminister Jung behauptete bis einschließlich 6. September 2009 öffentlich, es seien „ausschließlich terroristische Taliban“ getroffen worden und der Kommandeur vor Ort habe „eindeutige Hinweise“ gehabt, dass es sich bei den Personen bei den Tanklastern „ausschließlich um Aufständische gehandelt“ habe. Erst als Details durchsickerten, machte Jung geltend, er habe mit zivilen Opfern nur zivile Tote gemeint.

Bundeskanzlerin Merkel dagegen rückte am 6. September 2009 von der bisherigen Darstellung ihres Ministers ab, indem sie äußerte: „Wenn es zivile Opfer gegeben hat, dann werde ich das natürlich zutiefst bedauern“. Vizekanzler und Außenminister Frank-Walter Steinmeier forderte: „Entscheidend ist, dass der Vorfall schnellstmöglich und rückhaltlos aufgeklärt wird.“[13]. Jung dagegen betonte die bis zum Ende seiner Amtszeit als Verteidigungsminister die unklare Informationslage über potenzielle zivile Opfer.

Vertuschung oder Pannen?

Unklar ist, wie es zu der unzureichenden bzw. verspäteten Unterrichtung von Parlament und Öffentlichkeit über die wahren Vorgänge um den Luftangriff gekommen war. Medien und Politiker sprachen zunächst von Informationspannen. Später erschienen vor dem Hintergrund der allgemeinen politischen Lage im Herbst 2009 und allmählich bekannt gewordener Details andere Deutungen nicht von vornherein abwegig: Der deutsche militärische ISAF-Einsatz in Afghanistan stieß anders als andere Auslandseinsätze der Bundeswehr in der Bevölkerung schon vor dem Luftangriff überwiegend auf Ablehnung.[14][15] Auch prominente Politiker der Regierungspartei CDU lehnten den Einsatz ab, so der frühere Verteidigungsminister Volker Rühe, der den Einsatz als „Desaster“ bezeichnete[16], und der frühere Entwicklungsminister Jürgen Todenhöfer, der die Auffassung vertrat, dass die NATO in Afghanistan nicht mehr gegen Terror von al-Qaida, sondern gegen einen nationalen Aufstand der Taliban kämpft.[17] Diese Einschätzung Todenhöfers wird nicht nur durch amtliche afghanische, sondern auch durch amtliche deutsche Verlautbarungen (auch des Verteidigungsministers Jung) unterstützt: Beide sprechen seit langem immer wieder von „Aufständischen“, dagegen selten noch von Terroristen der al-Qaida. In Afghanistan stehen seit 2001 Truppen fremder Staaten auf zwei unterschiedlichen Grundlagen: Die Operation Enduring Freedom (OEF) wird von der NATO mit dem UN-Recht zur individuellen und kollektiven Selbstverteidigung gerechtfertigt, hier gegen Terror durch al-Qaida. Die Truppen im Rahmen von ISAF (International Security Assistance Force) dagegen haben von der UNO den Auftrag der „Unterstützung der vorläufigen Staatsorgane Afghanistans und ihrer Nachfolgeinstitutionen bei der Aufrechterhaltung der Sicherheit“. OEF und ISAF sind also rechtlich, politisch und nach der Herkunft ihrer Truppen zu trennen, ihre Aktivitäten vor Ort gehen aber praktisch ineinander über.

Trotz dieser inneren Widerstände und völkerrechtlichen Unschärfen haben sich die Regierungsparteien gegenüber der NATO verpflichtet, die Bundeswehr weiterhin in Afghanistan einzusetzen und wurden gedrängt, dies sogar noch umfangreicher als bisher zu tun. Die Regierungsparteien standen in der Endphase des Wahlkampfs, in dem aus den Reihen der Opposition einstimmig Die Linke, aber auch Teile von Bündnis 90/Die Grünen einen Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan forderten. In dieser Situation mussten breite öffentliche Diskussionen um zivile Opfer in Afghanistan als Folge von Fehlern der Bundeswehr besonders unerwünscht sein. Das führte zu der Frage, ob (und ggf. in welchen Fällen) die Unterrichtung des Parlaments und der Öffentlichkeit durch vorauseilenden Gehorsam, innere Zensur oder gezielte Einflussnahme, also Vertuschung, behindert oder aber ob sie durch Unzulänglichkeiten und Pannen beeinträchtigt wurde.

Hinterfragung des Mandats

Die tragischen Folgen des Luftangriffs beleben wieder die Frage, welcher völkerrechtlichen Kategorie der Bundeswehr-Einsatz in Afghanistan zuzuordnen ist: Der damalige US-Präsident George W. Bush hatte nach den Terroranschlägen am 11. September 2001 zum Krieg gegen den Terror aufgerufen. In den USA, die bestimmend sind sowohl für die ISAF-Truppen als auch für die (in weiteren Staaten und auf See umgesetzte) OEF, ist seitdem der Ausdruck war on terrorism allgemein üblich und die Bevölkerung sieht sich in dieser Beziehung mehrheitlich im Krieg. Dagegen gelten in Deutschland bisher Ausdrücke wie „robustes Mandat im Auftrag der UNO“ „Internationale Militärpräsenz“ oder sogar „Friedensmission“ bzw. „Friedenssicherung“ als politisch korrekt. Damit wird in Deutschland implizit bestritten, dass es um einen Kriegseinsatz handelt. Für einzelne Aktivitäten wird der Begriff „Kampfeinsatz“ verwendet. Kurz nach Ernennung zum Verteidigungsminister hat zu Guttenberg immerhin von „Einsatz unter kriegsähnlichen Bedingungen“ gesprochen. Für alle diese zurückhaltenden Formulierungen spielen rechtliche und politische Aspekte eine Rolle. Der ehemalige Verteidigungsminister Peter Struck hatte schon 2004 geltend gemacht, die deutsche Sicherheit werde „nicht nur, aber auch am Hindukusch verteidigt“.[18]

Frage der Rechtmäßigkeit

Ungeklärt ist die Rechtmäßigkeit des Vorganges, inwieweit das Vorgehen des deutschen Kommandeurs Klein als rechtlich korrekt und / oder als militärisch angemessen gelten kann. Nach den bisher veröffentlichten Daten kam es mehrfach zu vom Kommandeur gedeckten Falschaussagen des Untergebenen „Red Baron“ bei dessen Kommunikation mit den Bomberpiloten. Der Kommandeur forderte auf der Grundlage dieser Falschaussagen und unter Verletzung der Weisungen des Oberkommandierenden von August 2009 und Juli 2009, die Bombardierung durchzuführen. Ob das Bundeswehr-Lager einer Gefährdung durch die Tanklastzüge ausgesetzt war, wird von verschiedenen Seiten angezweifelt.[19]

Zu Gunsten des Kommandeurs äußerte sich zunächst dessen damaliger Verteidigungsminister Jung. Auch sein Nachfolger im Kabinett Merkel II Karl-Theodor zu Guttenberg bezeichnete am 6. November 2009 unter Hinweis auf den ihm bisher lediglich vorliegenden ISAF-Bericht die Bombardierung der Tanklaster unter Hinweis auf eine „besondere Bedrohungslage in der Region Kunduz“ als „militärisch angemessen. (...) Selbst wenn das Ganze fehlerfrei von statten gegangen wäre, komme ich doch auch zu dem Ergebnis, dass der Luftschlag hätte stattfinden müssen. (...) Selbst wenn es keinen Verfahrensfehler gegeben hätte, hätte es zum Luftschlag kommen müssen.“ Der Minister räumt offenkundig ein, dass Rechtsverstöße vorgekommen sind, macht aber mit Nachdruck geltend, dass der Angriff nach seiner Auffassung militär-technisch geboten war. Klaus Naumann, ehemaliger Vorsitzender des NATO-Militärausschusses, machte am 7. September 2009 zu Gunsten des Kommandeurs geltend, der habe „vor Ort Entscheidungen in Sekunden- und Minutengeschwindigkeit treffen“ müssen. Der Bundeswehr in Potsdam war seit dem 4. September 2009 bekannt, dass der Kommandeur fast sechs Stunden Zeit zwischen der Meldung über die entführten Tanklaster und dem Befehl zur Bombardierung hatte.[20] Noch am 27. November 2009 reduzierte Oberst Ulrich Kirsch, Vorsitzender des Bundeswehrverbandes, das Verhalten des Kommandeurs darauf, er habe sich „durch die Tanklastwagen bedroht“ gefühlt.[21]. Dem stehen die der Bundeswehr in Potsdam innerhalb weniger Stunden nach dem Luftangriff vorliegenden internen Berichte entgegen.[1] Tatsächlich soll das für Verteidigungspolitik zuständige Referat im Bundeskanzleramt bereits vor Ende September 2009 intern zu der Einschätzung gelangt sein, dass der Befehl zum Luftangriff auf die Tanklaster militärisch nicht angemessen war und es deshalb zu einem Gerichtsverfahren kommen werde.[2] Erst zwei Monate später erfuhr auch die Öffentlichkeit den wirklichen Ablauf, als eine überregionale deutsche Zeitung zahlreiche Auszüge aus amtlichen Texten und ein Video veröffentlichte, das von einem der angreifenden Flugzeuge angefertigt worden war.[4]

Am 3. Dezember 2009 gab Verteidigungsminister zu Guttenberg vor dem Bundestag die angekündigte Neubewertung: Er behielt sich das Ergebnis des Untersuchungsausschusses und der strafrechtlichen Klärung nicht vor. Stattdessen erklärte er, nach Einsicht in alle Unterlagen müsse er festhalten, dass der Luftangriff nicht angemessen gewesen sei. Dennoch habe der Kommandeur, der den Angriff angeordnet hatte „zweifellos nach bestem Wissen und Gewissen“ gehandelt. Er ging auch nicht darauf ein, wie damit die Falschangaben gegenüber den Bomberpiloten und der Verstoß gegen Weisungen des Oberkommandierenden zum Schutz der Zivilbevölkerung in Einklang zu bringen sind. Der ehemalige Bundeswehr-Generalinspekteur Harald Kujat kritisierte: „Es genügt nicht zu sagen, das war militärisch angemessen oder unangemessen“.[22].

Konsequenzen

Die erste disziplinarische Sanktion traf offenbar den deutschen Oberfeldwebel, der als „Red Baron“ den Luftangriff unter Aufsicht seines Kommandeurs koordinierte: nur wenige Stunden nach der Bombardierung soll er vom Dienst suspendiert worden sein.[23]

Am 5. September 2009 begann die Staatsanwaltschaft Potsdam eine Vorprüfung, ob gegen den Kommandeur des deutschen Feldlagers ein Ermittlungsverfahren eingeleitet werden soll. Wenige Tage später gab sie den Fall an die Staatsanwaltschaft in Leipzig ab, da der Kommandeur dort seinen Dienstsitz hat.

Am 8. September 2009 erstattete ein Hamburger Anwalt Strafanzeige[24]

Die für Kommandeur Klein in Friedenszeiten örtlich zuständige Generalstaatsanwaltschaft Sachsen hatte zur rechtlichen Beurteilung seines Verhaltens bei dem Luftangriff ein Vorprüfungsverfahren eröffnet.[25] Sie gab aber den Vorgang am 6. November 2009 an die Generalbundesanwaltschaft Karlsruhe ab. Denn durch diese sei zunächst zu prüfen, ob der Angriff im Sinne des Völkerstrafrechts zulässig gewesen sei. Auch sei nicht auszuschließen, dass sich in Afghanistan derzeit ein bewaffneter Konflikt im Sinne des Völkerstrafgesetzbuches ereigne. Die Generalbundesanwaltschaft nahm das Verfahren Anfang Dezember 2009 zur Prüfung an.[7]

Am 26. November 2009, wenige Stunden nach der Zeitungsveröffentlichung, entband Verteidigungsminister zu Guttenberg mit Hinweis auf die ministeriumsinterne Zurückhaltung von Informationen den beamteten Staatssekretär im Bundesministerium der Verteidigung Peter Wichert von seinen Aufgaben. Mit ihm zusammen ging unter demselben Vorwurf auch der Generalinspekteur der Bundeswehr Wolfgang Schneiderhan, formal, nachdem er selbst seinen Rücktritt eingereicht hatte.[26] Am 27. November 2009 trat dann auch der damalige Verteidigungsminister Jung, inzwischen im neuen Kabinett Arbeitsminister, von seinem Amt zurück.[6]

Der Bremer Anwalt Karim Popal gab am 27. November 2009 an, er habe im Laufe von zwei Reisen in die Gegend des Luftangriffs 179 zivile Opfer festgestellt, darunter 134 Tote. Zusammen mit weiteren Anwälten forderte er unter Hinweis auf ihm gegebene Mandate Schadensersatz von der Bundesregierung.[27]

Am 26. November 2009 forderte die parlamentarische Opposition öffentlich eine Aufklärung der Vorgänge durch einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss.[28] Es geht vor allem um die Frage, ob das Verfassungsorgan Deutscher Bundestag durch das Verfassungsorgan Bundesregierung in seinen Informationsrechten durch Pannen oder vorsätzlich beeinträchtigt wurde und ob die Bundeskanzlerin bzw. das Bundeskanzleramt seinerzeit in dieser Richtung Einfluss auf den damaligen Verteidigungsminister Jung, den damaligen Vizekanzler und Frank-Walter Steinmeier und weitere Personen genommen hatte.[29] Die Obleute der Fraktionen einigten sich am 2. Dezember 2009 darauf, dass kein parlamentarischer Untersuchungsausschuss eingesetzt werden soll, sondern der Verteidigungsausschuss gemäß § 45a GG als Untersuchungsausschuss konstituieren werden solle. Damit wird voraussichtlich Susanne Kastner Vorsitzende des Gremiums.[30] Allerdings sind dessen Sitzungen anders als solche eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses in der Regel nicht öffentlich.

Siehe auch

Einzelnachweise

  1. a b c d Matthias Gebauer: Protokoll der Alptraumnacht von Kunduz. Spiegel Online, abgerufen am 26. November 2009.
  2. a b Kölner Stadt-Anzeiger: Experten im Kanzleramt hielten Luftangriff in Kundus schon vor der Bundestagswahl für militärisch nicht angemessen. news aktuell, 30. November 2009, abgerufen am 3. Dezember 2009.
  3. Hans-Ulrich Gack: Afghanistan: Chronologie eines Luftschlages. In: www.heute.de. ZDF, 26. November 2009, abgerufen am 4. Dezember 2009: „Der afghanische Geheimdienst ist sicher, dass bei dem Luftschlag nur Taliban und ihre Unterstützer getroffen wurden“
  4. a b J. Meyer und J. Reichelt: Hat Minister Jung die Wahrheit verschwiegen? BILD digital, 26. November 2009, abgerufen am 3. Dezember 2009.
  5. BILD: kommentiertes Video zum Luftangriff vom 3./4. September 2009
  6. a b Minister Jung tritt zurück. Spiegel Online, 27. November 2009, abgerufen am 3. Dezember 2009.
  7. a b Generalbundesanwalt kündigt Prüfung der Vorwürfe gegen Oberst Klein an
  8. Verteidigungsausschuss soll aufklären
  9. Tod im Flussbett: Grafische Rekonstruktion von Taliban-Überfall und Nato-Luftschlag bei Kunduz. Spiegel Online, abgerufen am 4. Dezember 2009.
  10. Jung verschwieg angeblich zivile Opfer. Zeit Online, 26. November 2009, abgerufen am 4. Dezember 2009.
  11. Washington Post: etwa 125 Tote, davon mindestens zwei Dutzend zivile
  12. Tagesschau: Karsai-Kommission legt Bericht zu NATO-Angriff vor
  13. Steinmeier: rückhaltlose Aufklärung nötig
  14. Deutsche für Abzug - und für Jung. stern.de, 16. September 2009, abgerufen am 3. Dezember 2009 (stern-Umfrage zu Afghanistan).
  15. emnid: 65 % der Deutschen sind Ende November 2009 für Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan vor 2013
  16. Ex-CDU-Minister Rühe: Afghanistan-Einsatz ist ein Desaster
  17. Jürgen Todenhöfer: Afghanistan - bleiben oder abziehen? mdr.de, 24. Oktober 2008, abgerufen am 4. Dezember 2009: „Die Nato kämpft in Afghanistan nicht gegen den globalen Terrorismus, sondern gegen einen nationalen Aufstand der Taliban.“
  18. Struck: Deutschland wird auch am Hindukusch verteidigt. Netzzeitung, 11. März 2004, abgerufen am 3. Dezember 2009.
  19. Der SPIEGEL: Klärungsbedarf zum Luftangriff bei Kunduz
  20. Ex-NATO-General Naumann macht Zeitnot geltend
  21. Bundeswehrverband: Oberst Klein fühlte sich bedroht
  22. Guttenberg korrigiert Einschätzung des Tanklasterangriffs. Spiegel Online, 3. Dezember 2009, abgerufen am 4. Dezember 2009: „zweifellos nach bestem Wissen und Gewissen und zum Schutze seiner Soldaten“
  23. Frankfurter Rundschau: Sanktion gegen Untergebenen
  24. Strafanzeige gegen Bundesregierung und Bundeswehr
  25. Generalstaatsanwaltschaft Dresden: Wegen unklarer völkerrechtlicher Lage Abgabe an Generalbundesanwaltschaft Karlsruhe
  26. Generalinspekteur Schneiderhan wird entlassen (Sueddeutsche.de vom 26. November 2009)
  27. Anwalt spricht von 179 zivilen Opfern. Spiegel Online, 27. November 2009, abgerufen am 4. Dezember 2009.
  28. Reuters: Opposition fordert Untersuchungsausschuss
  29. Christian Ströbele: gab es eine ordnende Hand oberhalb des Ministeriums?
  30. FR: Verteidigungsausschuss zur Aufklärung

Koordinaten: 36° 35′ 24″ N, 68° 53′ 6″ O