Herman Kahn (* 15. Februar 1922 in Bayonne (US-Bundestaat New Jersey); † 7. Juli 1983 in Chappaqua (US-Bundestaat New York) war ein US-amerikanischer Stratege, Kybernetiker und Futurologe.
Frühjahre
Kahn wuchs in dem Bronx-Stadtviertel von New York City auf. Nach der Scheidung seiner Eltern zog er nach Los Angeles um und immaktrikulierte an der Universität von Kalifornien, Los Angeles (UCLA), wo sein Hauptfach Physik war. Im Zweiten Weltkrieg trat er in die US-Armee ein und wurde im Pazifik stationiert, obwohl er eigentlich nicht kämpfte; wie viele seiner späteren Kollegen beim RAND-Institut hatte er mit dem wirklichem Krieg fast keine direkte Berührung. 1945 nahm er sein Studium wieder auf. Er bekam seinen Bachelor-Abschluss an der UCLA und promovierte in Physik an dem California Institute of Technology (Cal Tech). Dennoch musste er sein Studium wegen finanzieller Schwierigkeiten aufgeben. Zunächst versuchte er, Immobilienmakler zu werden. Er war aber kaum begeistert davon, und bald erhielt er eine Stelle bei dem RAND-Corporation [[Research And Development, Forschung und Entwicklung). Beim Lawrence-Livermore-Laboratorium in Nordkalifornien wirkte Kahn in enger Zusammenarbeit mit Physikern wie Edward Teller, John von Neumann, Hans Bethe und dem Mathematiker Albert Wohlstetter an der Entwicklung der Wasserstoffbombe mit.
Der Kalte Krieg
Kahns wichtigste wissenschaftliche Beträge waren die von ihm zum Kalten Krieg entwickelten Theorien, in denen er "das undenkbare" zu überlegen wagte. Undenkbar bedeutete vor allem den Nuklearkrieg; Kahn wollte das Spieltheorie darauf anwenden. Bis 1954 hatte die vorherrschende Nuklearstrategie der US-Regierung unter Eisenhower aus "massivem Gegenschlag" ("massive retaliation") bestanden, den der kriegerische und einflussreiche US-Außenminister John Foster Dulles befürwortet hatte. Laut dieser Theorie, als "New Look" bezeichnet, drohte die viel größere Rote Armee der UdSSR die Amerikaner und ihre strategischen Interessen überall auf der Welt. Die potentiellen Schlachtfelder waren zu zahlreich, um die USA die Sowjets gleichzeitig wirkungsvoll kontern zu können. Diesem Nachteil zufolge hatten die USA keine andere Wahl. Sie mussten kundtun, dass ihre Reaktion auf irgendeine sowjetische Aggression, irgendwo auf der Welt, ein Nuklearangriff wäre: Der Präventivschlag.
Kahn glaubte, dass diese Theorie unvertretbar war, nicht pazifistischer Ideale wegen (er hatte keine davon), sondern weil die Theorie primitiv und möglicherweise entstabilisierend war. Diskutabel förderte das "New Look" einen Nuklearangriff, denn diese Doktrin versorgte den Sowjets mit dem Ansporn, ihre kleineren militärischen Aktivitäten (z.B. in Afrika oder Südasien) mit einem großen Luftangriff gegen die Bomberstützpunkte der Amerikaner vorherzugehen. Ein solcher Schritt würde die amerikanische nukleare Bedrohung sofort beseitigen und die USA dazu zwingen, den unerwünschten herkömmlichen Bodenkrieg zu führen, darauf die Amerikaner nicht vorbereitet waren.
Am Ende der 1950er Jahre wuchsen die Spannungen des Kalten Krieges. 1957 hatte die UdSSR seinen Sputnik-Trabant erfolgreich gestartet. Plötzlich gerieten viele Amerikaner in Panik, dass ihr Land das "Weltraumrennen" ("Space Race") verlor, und es gab großen Druck, wissenschaftliche Entwicklungen zu beschleunigen. Man sprach von einer verbreitenden "Raketenkluft" ("missile gap") zwischen den USA und der UdSSR. 1959 veröffentlichte Kahn sein Buch On Thermonuclear War (Über den Nuklearkrieg). Der Titel war eine deutliche Anspielung auf der klassischen, bahnbrechenden Abhandlung des 18. Jahrhunderts, Über Krieg von dem deutschen Stratege Carl von Clausewitz. Kahn basierte seine Theorie auf zwei heftig bestrittene Prämisse: Erstens, dass ein Nuklearkrieg praktikabel und ausführbar war; zweitens, dass er zu gewinnen war. Ob hunderte Millionen Menschen sterben oder "nur" mehrere Großstädte zerstört werden würden, behauptete Kahn, würden das Leben trotzdem fortsetzen.
Freilich stieß diese Vorstellung gegen die üblichen, geschweige die gewöhnliche Moralität. Kahn argumentierte aber, seine verschiedenen möglichen Ergebnisse mögen schlimmer als alles, was man je vorher gesehen oder sich vorgestellt hatte. Trotzdem sind manche dieser Möglichkeiten noch schlimmer als andere. Egal wie verheerend die Zerstörung wäre, würden die Überlebenden ihre getöteten Mitbürger nicht "beneiden". Wenn man anders glauben soll, so Kahn, würde es dann heißen, dass die Abschreckungspolitik an erster Stelle unnötig gewesen wäre. Wenn das amerikanische Volk nicht bereitwillig und sogar opferbereit wäre, die schrecklichsten Konsequenzen eines nuklearen "Austausches" hinzunehmen, hatte es keinen Sinn zu verkündigen, dass man zum Angriff bereitwillig wäre. Ohne eine klare Bereitwilligkeit, den fatalen Knopf zu drücken, sind die ganzen Vorbereitungen und militärischen Einsätze nur ein aufwändiger Bluff. Die Grundlagen Kahns Werke waren die Systemtheorie und die Spieltheorie in bezug auf militärischer Strategie und Wirtschaft. Um wirkungsvoll zu sein, musste die Abschreckungspolitik die Sowjetunion davon überzeugen, dass die USA eine "zwei-Schläge"-("second strike")-Fähigkeit besaß. Man musste damit dem Politbüro klarmachen, dass sogar ein tadelloser, massiver Angriff einen schweren Gegenschlag garantieren würde, der die UdSSR gleichfalls zerstören würde:
"Mindestens muss eine befriedigende amerikanische Abschreckungspolitik für die objektive Basis eines sowjetischen Kalküls sorgen, das sie davon überzeugen würde, dass, egal wie gechickt oder erfinderisch sie handeln mögen, ein Angriff gegen die USA ein großes Risiko eingehen würde, wenn nicht eine Gewissheit, die sowjetische Zivilgesellschaft sowie ihre Streitkräfte würden zerstört werden".
Diese Schlussfolgerungen waren die Genese der berühmten (oder berüchtigen) Doktrin "MAD", oder "mutual assured destruction," d.h., "wechselseitig gesicherte Zerstörung". Diese Strategie beeinflusste bis zu der Reagan-Ära die Denkweise der Supermächte. Für Kahn waren starke herkömmliche Waffen auch ein Schlüsselelement der Strategie, denn er behauptete, damit könnte man die verschiedenen Spannungen auf der ganzen Welt ohne eine Nuklearlösung entschärfen.
Undenkbar
Interessanterweise bewunderten einige Pazifisten Kahns Theorien, z.B. A.J. Muste und Bertrand Russell. Sie glaubten, Kahns Kalkül legte ein starkes Argument für die totale Entwaffnung vor, weil es legte die Idee nahe, ein Nuklearkrieg sei unvermeidlich. Andere übten allerdings strenge Kritik an Kahn. Laut ihrer Argumentation sollte Kahns Behauptung, ein Nuklearkrieg sei nicht ein unbedingtes Desaster, das Risiko verstärken.
Dank seiner Bereitschaft, die brutalsten Möglichkeiten zu äußern, betrachtete viele Kritiker Kahn als ein Monster, obwohl er privat als ein gutmütiger, friedlicher und freundlicher Mensch bekannt war. Im Vergleich zu den meisten Strategen war Kahn völlig bereit, die Form eine künftige Nachkriegszeit vorauszusehen. Keine der üblichen Einwände beunruhigten ihn. Der radioaktive Niederschlag war z.B. eine Bagatelle; er wäre nur etwas unangenehmes und ungelegenes, und das Leben ist sowieso voll davon. Selbst die zunehmenden Geburtsfehler sollten kein großes Theater machen; nach allem würden sie nur noch eine Minderheit der Gesamtbevölkerung betreffen, sodass die Menschheit unter keinen Umständen aussterben würden. Verseuchte Lebensmittel könnte man ausdrücklich für alte Menschen kennzeichnen, weil alte Menschen auf jeden Fall vor dem eventuellen Krebsangriff wahrscheinlich sterben würden. Selbst einige eingeschränkte Vorbereitungen--z.B., Bunker gegen den radioaktiven Niederschlag, Pläne für die Bevölkerungsräumung, das Einexerzieren gegen Luftangriffe--würden als zusätzliche Abschreckungen fungieren, weil sie die sowjetischen Zerstörungsfähigkeiten beeinträchtigen. Solche Vorbereitungen würded die "Nuklearwahl" dem Feind weniger günstig scheinen. Die Bereitschaft, solche Möglichkeiten zu erdulden, mag wohl eine gute Idee sein, wenn man dem europäischen Festland den massiven Nuklearkrieg ersparen könnte, welcher der "massive Gegenschlag" diskutabel ermöglicht hätte.
Das Hudson Institute
1961 gründeten Kuhn, Max Singer und Oscar Ruebhausen das Hudson Institute. Es war eine Organisation für Politikforschung in Croton-on-Hudson (US-Bundestaat New York). Diese Intellektueller forderten ausdrücklich den Pessimus von linksorientieren Gruppen wie dem Club of Rome heraus. Das Hudson-Institute lud Koryphäe ein, wie den Soziologe Daniel Bell, den französischen Philosoph Raymond Aron und den Schriftsteller Ralph Ellison, der 1952 den bahnbrechenden Roman Der unsichtbare Mann geschrieben hatte. Von der Vehemenz seiner Kritiker etwas entrüstet, milderte Kahn seine Haltung einigermassen. Er antwortete höflicher seine Gegner in einem neuen Buch, Thinking About the Unthinkable (Von dem Undenkbaren zu denken) (1962). Drei Jahre später veröffentlichte er ein neues Werk über militärische Strategie, On Escalation. Von 1966 bis 1968 diente Kahn dem US-amerikanischen Verteidigungsministerium als Berater. Den Vietnamkrieg hatte der US-Präsident Lyndon B. Johnson zu dieser Zeit scharf eskaliert, dennoch lehnte Kahn direkte Verhandlungen mit Nordvietnam ab. Er meinte, die einzige militärische Lösung sei rapide Eskalation. Ansonsten müsste die US-Regierung eine sogennante "Austrittsstrategie" oder exit strategy haben. Kahn behauptete, er hätte das Schlagwort "Vietnamisierung erfunden.
Angeblich war Kahn einer der Vorbilde für Dr. Seltsam (auch: "Dr. Merkwürdigeliebe") im gleichnamigen Film vom berühmten Regisseur Stanley Kubrick (1964). Andere wohlbekannte Möglichkeiten waren Edward Teller, Henry Kissinger und Wernher von Braun. Kubrick hatte Kahns Werke ausführlich gelesen und bestand darauf, dass der Produzent des Films sie auch lesen soll. Kubrick lernte Kahn persönlich kennen, und Kahn gab Kubrick die Idee für die "Doomsday-Maschine", eine Erfindung, die den ganzen Planeten einem Nuklearangriff zufolge sofort zerstören würde. Im Film erwähnt der US-Präsident einen von der "BLAND-Corporation" verfassten Bericht über die Doomsday-Maschine. In der Tat war die Doomsday-Maschine der Inbegriff jener entstablisierenden Taktik, die Kahn selber vermeiden wollte, weil ihr einziger Zweck nicht militärisch, sondern nur eine Bedrohung oder ein Bluff war. Kahn war auch das Vorbild für Walter Matthaus Charakter in Fail-Safe.
Spätere Jahre
Nach der Entspannung zwischen den Supermächten am Anfang der 1970er Jahre beschäftigte Kahn sich mit dem Futurismus, welcher oftmals irgendeine Art vom Weltuntergang voraussah. Kahn und das Hudson Institute standen relativ rechts in der Politik und versuchten, populäre apocalyptische Essays wie "Die Populationsbombe" von Paul Ehrlich, "Die Grenzen des Wachstums" von dem Club of Rome, oder "Der Tragödie des Commons" von Garrett Hardin zu widerlegen. Nach Kahns Ansicht bieten der Kapitalismus und die Technik unbegrenzte Fortschrittsmöglichkeiten an; er glaubte, die Kolonisierung des Weltalls würde bald stattfinden. Am Ende des Jahrzehnts bewegte Kahn sich weiter nach rechts. Er schrieb zustimmend über die Politik von Ronald Reagan und verspottete Jonathan Schell, der behauptet hatte, dass die langfristigen Konsequenzen eines Nuklearkrieges die Menschheit zerstören würden. Kahns Buch Die nächsten 200 Jahre stellte ein optimistisches Bild der wirtschaftlichen Lage im Jahre 2176 dar. Er schrieb auch mehrere Bücher über das Systemtheorie und über die Zukunft der amerikanischen, japanischen und australischen Wirtschaften.
Kahn, der lebenslang sehr fettleibig gewesen war, starb 1983 an einen plötzlichen, massiven Schlaganfall.
Quellen
- Fred Kaplan, The Wizards of Armageddon, (Stanford Nuclear Age Series), ISBN 0804718849
- Louis Menand, "Fat Man: Herman Kahn and the Nuclear Age," The New Yorker, June 27, 2005
- Sharon Ghamari-Tabrizi, The Worlds of Herman Kahn : The Intuitive Science of Thermonuclear War, (Harvard University Press), ISBN 0674017145
- Herman Kahn, Jerome Agel Herman Kahnsciousness;: The megaton ideas of the one-man think tank, (New American Library)
- B Bruce-Briggs, Supergenius: The mega-worlds of Herman Kahn, (North American Policy Press)
- Kate Lenkowsky, The Herman Kahn Center of the Hudson Institute, (Hudson Institute)
- Herman Kahn, The Coming Boom: Economic, Political, and Social, (Simon & Schuster), ISBN 0671492659
- ---- The Next 200 Years, (Morrow), ISBN 0688080294
- ---- The Japanese challenge: The success and failure of economic success, (Morrow), ISBN 0688087108
- ---- Things to Come: Thinking About the Seventies and Eighties, (MacMillan), ISBN 0025604708
- ---- World Economic Development: 1979 and Beyond, (William Morrow), ISBN 0688034799
- ---- Will she be right?: The future of Australia, (University of Queensland Press), ISBN 0702215694
- ---- The Year 2000: A Framework for Speculation on the Next Thirty-Three Years, (MacMillan), ISBN 0025604406
- ---- Emerging Japanese Superstate : Challenge and Response, (Prentice Hall), ISBN 0132746700
- ---- The nature and feasibility of war, deterrence, and arms control (Central nuclear war monograph series), (Hudson Institute)
- ---- A slightly optimistic world context for 1975-2000 (Hudson Institute. HI)
- ---- Social limits to growth: "creeping stagnation" vs. "natural and inevitable" (HPS paper)
- ---- A new kind of class struggle in the United States? (Corporate Environment Program. Research memorandum)
- Herbert I. London, forward by Herman Kahn, Why Are They Lying to Our Children. (Against the doomsayer futurists.), ISBN 0967351421
Weblinks
- Essays about and by Herman Kahn
- Kahn's "escalation ladder"
- Article, "Herman Kahn's Doomsday Machine"
Personendaten | |
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NAME | Kahn, Herman |
KURZBESCHREIBUNG | US-amerikanischer Kybernetiker |
GEBURTSDATUM | 15. Februar 1922 |
GEBURTSORT | Bayonne |
STERBEDATUM | 7. Juli 1983 |
STERBEORT | Chappaqua |