Pierre Bayle

französischer Philosoph und Schriftsteller
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Pierre Bayle (* 18. November 1647 in Le Carla [heute: Carla-Bayle]/Dep. Ariège; † 28. Dezember 1706 in Rotterdam) war ein französischer Schriftsteller, der zusammen mit dem 10 Jahre jüngeren Fontenelle als zentrale Figur der sog. Frühaufklärung gilt.

Pierre Bayle, Porträt von Pierre Savart (1774)
Pierre Bayle, Porträt von Pierre Savart (1774)

Geboren in einem Pyrenäendorf als Sohn eines hugenottischen Predigers, studierte er ab 1666 an der protestantischen Akademie von Puylaurens (Dép. Tarn). 1669 wechselte er auf das Jesuiten-Kolleg von Toulouse und konvertierte zum Katholizismus. 18 Monate später bereute er seine Konversion und flüchtete als relaps (Renegat) ins kalvinistische Genf. Hier und etwas später in Rouen, wo es zu dieser Zeit noch eine größere reformierte Gemeinde gab, verdingte er sich als Hauslehrer (précepteur) und beschäftigte sich mit Philosophie, insbes. der von Descartes.

1675 wurde er Philosphieprofessor an der protestantischen Akademie von Sedan in Lothringen, das damals formell noch Teil des Deutschen Reiches war. Als die Akademie 1681 im Rahmen der zunehmenden Einschnürung des französischen Protestantismus und der zunehmenden Vereinnahmung Lothringens durch Frankreich geschlossen wurde, ging Bayle, wie so viele kalvinistische französische Intellektuelle, nach Holland und bekam in Rotterdam an einer neueröffneten Hochschule eine Professur für Philosophie und Geschichte.

1682 publizierte er sein erstes Buch: Lettre sur la comète de 1680 („Brief über den Kometen von 1680“, d.h. den ca. alle 30 Jahre sichtbaren Halleyschen Kometen), das 1683 erweitert als Pensées diverses sur la comète de 1680 (=Verschiedene Gedanken über etc.) erschien. Hierin widerlegt Bayle zunächst die abergläubischen Vorstellungen, die man mit Kometen verband, und er wirbt für die Idee, dass alles Wissen ständig kritisch überprüft werden muss. In einem zweiten Arbeitsgang entwirft er die Grundlagen einer nicht religiös bestimmten Moral bzw. Ethik, wobei er die seinerzeit unerhörte These vertritt, dass ein Atheist nicht zwangsläufig auch sittenlos sein und unmoralisch handeln müsse.

Von 1684-1687 war Bayle Herausgeber und wichtigster Beiträger der literarischen und wissenschaftlichen Zeitschrift Nouvelles de la République des Lettres („Nachrichten aus der Republik der Bildung“), die sich an jenes über ganz Europa verstreute geistig interessierte Publikum richtete, das das Französische als die Sprache von Literatur, Philosophie und Wissenschaft beherrschte.

Als 1685 Ludwig XIV. das von Heinrich IV. erlassene Toleranz-Edikt aufhob (das berühmte Édit de Nantes) und damit die Flucht von über 200.000 Protestanten aus Frankreich bewirkte, reagierte Bayle mit zwei kritischen Schriften: Ce que c'est que la France toute catholique sous le règne de Louis le Grand („Was das allerkatholischste Frankreich unter der Herrschaft Ludwigs des Großen [in Wahrheit] ist“, 1686), wo er die religiöse Intoleranz und die unheilige Verquickung von Staat und Kirche brandmarkt, sowie Commentaire philosophique sur ces paroles de Jésus-Christ „Contrains-les d'entrer“ („Philosophischer Kommentar zu den Worten Christi 'Nötige sie einzutreten'“, 1687), wo er Gewissensfreiheit, auch für Andersgläubige und Atheisten, fordert, und zwar nicht nur als moralisches Prinzip, sondern als ein Gebot der Vernunft.

Pierre Bayle

Schon seit den Pensées war Bayle nicht nur den Katholiken suspekt, sondern auch vielen Protestanten, die seine distanzierte Haltung in Konfessions- und Glaubensfragen als verkappten Deismus, wenn nicht Atheismus betrachteten. Von protestantischer Seite, insbesondere seinem Ex-Kollegen aus Sedan Pierre Jurieu, wurde er deshalb heftig attackiert, als man ihm, wohl nicht zu Unrecht, die anonyme Schrift Avis important aux réfugiés („Wichtiger Ratschlag an die Flüchtlinge“, 1690) zuschrieb, worin vor den Umtrieben der Scharfmacher unter den emigrierten Hugenotten gewarnt wird, die Holland und England in einen Rachekrieg gegen Ludwig XIV. zu treiben versuchten.

1693 verlor Bayle seine Professur und widmete sich ganz der Arbeit an seinem Dictionnaire historique et critique (2 Bd.e 1695/96, 4 Bd.e 1702). Dieses sollte ursprünglich eine verbesserte Version des Grand Dictionnaire historique (1674 u.ö.) sein, eines Namens- und Personenlexikons des Jesuiten Louis Moreri, entwickelte sich aber zu einen Nachschlagewerk neuen Typs. Bayle beschränkt sich nämlich nicht auf eine Bestandsaufnahme des zeitgenössischen Wissens über historische Personen und Figuren (z.B. auch solche der Bibel), sondern er versucht darüber hinaus und vor allem eine kritische Sichtung dieses Wissens. Hierzu führte er als bahnbrechende Neuerung ein, dass er die eigentlichen Artikel kurz hält und auf das Faktische beschränkt, ihnen aber längere Fußnoten beigibt, in denen er Quellen und Autoritäten zitiert, und zwar häufig solche, die sich widersprechen, womit er den Leser zum Hinterfragen scheinbar verbriefter Tatbestände und zum eigenen Denken und Entscheiden zwingt.

Bayles Lexikon erlebte bis 1760 mehr als 10 Auflagen und wurde ein Brevier der Aufklärer. Eine dt. Übersetzung, verfasst von mehreren anonymen Übersetzern unter Leitung des bekannten Literaten Johann Christoph Gottsched, erschien 1741-44 als „Peter Baylens historisches und kritisches Wörterbuch“ in Leipzig.

Bayle selbst erlebte seinen Ruhm jedoch nicht mehr. Seine letzten Lebensjahre verbrachte er mit Verteidigungsschriften gegen die Anwürfe, die ihm sein Lexikon eintrug, und in Polemiken mit seinem Spezialfeind Jurieu sowie anderen dogmatischen reformierten Theologen.

Literatur

  • Anthony Grafton: Die tragischen Ursprünge der deutschen Fußnote. Aus dem Amerik. von H. Jochen Bußmann. Berlin-Verlag, Berlin 1995; dtv, München 1998. S. 189–220.
  • Andreas Urs Sommer: Triumph der Episode über die Universalhistorie? Pierre Bayles Geschichtsverflüssigungen, in: Saeculum. Jahrbuch für Universalgeschichte, Jg. 52 (2001), Halbbd. 1, S. 1-39
  • Andreas Urs Sommer: Zur ‚Geschichtsphilosophie’ in Bayles Dictionnaire historique et critique, in: Aufklärung. Interdisziplinäres Jahrbuch zur Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte, Bd. 16 (2004): Die Philosophie in Pierre Bayles Dictionnaire historique et critique, hrsg. von Lothar Kreimendahl, Hamburg 2004, S. 79-94