Völkerwanderung

Migration vorwiegend germanischer Gruppen in Mittel- und Südeuropa zwischen 375 und 568
Dies ist eine alte Version dieser Seite, zuletzt bearbeitet am 18. Juni 2005 um 01:25 Uhr durch 134.245.108.48 (Diskussion). Sie kann sich erheblich von der aktuellen Version unterscheiden.

Der Begriff Völkerwanderung bezeichnet im Allgemeinen eine Wanderbewegung, bei der eine große Zahl Menschen aus einem Volk oder eine ganze Volksgruppe in ein anderes Gebiet umsiedelt. Grund dafür sind gewöhnlich verschlechterte Lebensbedingungen. Klimatische Veränderungen wie Dürren, Überschwemmungen können ebenso eine Völkerwanderung auslösen wie politische Ereignisse, Krankheiten oder Überbevölkerung. Es können mehrere Ursachen zusammenkommen und die Abwanderung einer großen Menschengruppe auslösen.

Karte Europas, Völkerwanderung mittels Pfeilen eingezeichnet

Im Speziellen versteht man unter "der Völkerwanderung" die Wanderbewegungen der germanischen Völker beginnend im 2. Jahrhundert bis ins 6. Jahrhundert. Als Völkerwanderungszeit im engeren Sinne wird der Zeitraum von 375 bis 568 (Einfall der Langobarden in Norditalien) bezeichnet. Ihr Abschluss bedeutet im Westen zugleich das Ende der Spätantike bzw. der römischen Kaiserzeit, es beginnt das europäische Frühmittelalter. Da die begriffliche Abgrenzung über den Negativbegriff der Auflösung römischer Gesellschaftsstrukturen vorwiegend kulturell definiert ist, kann die Begriffsverwendung und ihr zeitlicher Beginn je nach Region stark differieren.

Die germanische Völkerwanderung

Die wahrscheinlichen Gründe für die germanische Völkerwanderung sind vielfältig und auch ortsabhängig. Unter anderem sind dies Landnot in Nordosteuropa wegen zunehmender Bevölkerung und ungünstige klimatische Bedingungen. Letzte Klarheit über die Motive lässt sich meist nicht gewinnen. Anfängliche Wanderbewegungen einzelner Stämme (insbesondere der Hunnen) und entsprechender Druck, diesen auszuweichen, führten zu einer Neuverteilung der Stämme in ganz Europa. Dabei muss beachtet werden, dass die "Stämme", "Völker" oder gentes der Migrationszeit keine konstanten Einheiten oder Abstammungsgemeinschaften bildeten: Ein Stamm war am ehesten eine Rechtsgemeinschaft, die in Größe und Zusammensetzung stark fluktuieren konnte.

Der langsame Rückzug des weströmischen Reiches und der damit einhergehende Verlust von Macht- und Verwaltungsstrukturen, sowie zunehmende Inkorporation germanischer Völker als Verbündete gegen Tributzahlungen und als Söldner im römischen Heer, bildete eine weitere Voraussetzung. Eine entscheidende Rolle spielten dabei weniger die "Barbaren" im regulären römischen Heer als vielmehr die germanischen foederati, die sich vom Kaiser immer schlechter kontrollieren ließen und schließlich faktisch unabhängige Reiche auf Reichsboden errichteten. Man spricht inzwischen eher von einer Transformation der römischen Welt als von einer regelrechten Eroberung. Die vielleicht wichtigste Leistung der römischen Staatlichkeit war das Entstehen der so genannten Regna auf dem Boden des Imperiums (Goten in Italien und Spanien, Vandalen in Nordafrika, Franken in Gallien), die ganz wesentlich für das Werden Europas im Mittelalter wurden. Ohne das Vorbild des spätantiken Römerreiches wären diese Reiche undenkbar gewesen.

Wichtig in der neueren Forschung ist die Kategorie der Ethnogenese. Die Entstehung von Völkern, von ethnischen Identitäten wird nicht mehr als biologische Kategorie, sondern als historischer Prozess verstanden. Insgesamt kann man sagen, dass sich die Auflösung des weströmischen Reiches und die Errichtung der germanischen Nachfolgestaaten im 5. und 6. Jahrhundert nicht so leicht erklären lässt, wie es früher angenommen wurde. Ob die Germanen für den Untergang Westroms verantwortlich waren, wird seit langem diskutiert, gilt heute aber als eher unwahrscheinlich.

150 n.Chr. bis zum Einfall der Hunnen

Die Goten sollen der historischen Überlieferung nach ursprünglich aus Skandinavien stammen, was in der modernen Forschung jedoch höchst umstritten ist; nach der Zeitenwende siedelten sie sich im Gebiet der Weichsel (heute Polen) an. Etwa um 290 teilen sich die Goten in Terwingen/Visigoten Westgoten und Greutungen/Ostrogoten Ostgoten. Die Ostgoten siedelten sich im Schwarzmeerraum (heute Russland und Ukraine) und verursachten damit die erste größere Wanderbewegung: sie verdrängten die Vandalen und Markomannen nach Süden und die Burgunder nach Westen. Diese Bevölkerungsverschiebungen waren mit ein Auslöser für die Markomannenkriege. Die Westgoten ließen sich vorerst im Norden der Balkanhalbinsel nieder.

Etwa zur gleichen Zeit wie die Goten wanderten die Langobarden von der Unterelbe nach Mähren (heute Tschechien) und Pannonien (heute östl. Österreich).

Bis zum Einfall der Hunnen kam es zu keinen größeren Bevölkerungsverschiebungen. Das römische Reich zog sich im Laufe der Jahrzehnte immer weiter zurück und hatte zunehmend mit innenpolitischen Problemen zu kämpfen, bis es 395 n. Chr. in das west- und oströmische Reich geteilt wurde.

In dieser Zeit kam es nur zu kleineren Einfällen in römisches Herrschaftsgebiet, die entweder zurückgeschlagen wurden oder mit kleineren Grenzkorrekturen endeten. Viele Stämme wurden auch als Bundesgenossen gezielt an den Grenzen des römischen Reiches angesiedelt und bildeten Puffer zu feindlicher gesinnten Stämmen.

350-410 n.Chr.

Ab etwa 350 drangen die Hunnen aus den mongolischen Steppen nach Südrussland vor und verursachten damit wellenartige Fluchtbewegungen mehrerer germanischer und sarmatischer Stämme nach Süd- und Westeuropa. 375 besiegten die Hunnen die Ostrogoten und verdrängten die Westgoten aus ihrem Siedlungsland im heutigen Rumänien. Dieses Ereignis kennzeichnet traditionell den Beginn der Völkerwanderungszeit im engeren Sinne.

Die meisten der geschlagenen Ostrogoten (die später zu den Ostgoten wurden) gerieten so unter hunnische Herrschaft, während die Terwingen (aus denen später die Westgoten wurden) über die Donau ins Römische Reich flüchteten. Sie schlugen 378 den römischen Kaiser Valens in der Schlacht von Adrianopel, werden aber 382 durch Kaiser Theodosius I. auf römischen Boden angesiedelt, obgleich weiterhin Spannungen bestehen bleiben. Unter Alarich I. zogen sie denn auch über den Balkan, Peloponnes und zu Beginn des 5. Jahrhunderts nach Italien. 410 eroberten die Westgoten Rom, was zu einer Endzeitstimmung unter den Römern führte. Die sich nun endgültig formierenden Westgoten wanderten weiter in den Südwesten Galliens, wo sie von den Römern 418 angesiedelt werden und das so genannte Tolosanische Reich bei Toulouse errichteten. 507 wurden sie von den Franken, die in dieser Zeit die Kontrolle über ganz Gallien erlangten, besiegt und auf die iberische Halbinsel (heute Spanien) verdrängt. 711 brach das Westgotenreich durch den Sieg der Araber zusammen (siehe Islamische Expansion).

410-450 n.Chr.

Die Goten hatten die Vandalen ursprünglich in das Gebiet zwischen Weichsel und Oder abgedrängt. Zu Beginn des 4. Jahrhunderts zogen sie nach Gallien und erreichten um 409 die Iberische Halbinsel. Von den Westgoten bedrängt, führte sie ihr Weg in die reiche römische Provinz Africa. 439 eroberten sie unter König Geiserich Karthago und begründeten damit das Vandalenreich, welches sich zu einer Seemacht entwickelte - als einziges der germanischen Reiche. Von Nordafrika (Tunesien) aus zogen sie nach Italien und plünderten 455 Rom, später Korsika und Sardinien. Erst 534 zerschlug der oströmische Feldherr Belisar das Vandalenreich.

Das Hunnenreich erlitt mehrere Rückschläge: der römische Magister militum Flavius Aetius konnte zusammen mit den Westgoten ein hunnisches Heer in der Schlacht auf den Katalaunischen Feldern zurückschlagen. Das Hunnenreich zerfiel denn auch nach dem Tod Attilas und die Ostgoten, die aus Teilen der Greutungen und anderer Völker entstanden, zogen auf den Balkan, wo sie als Foederati Ostroms angesiedelt wurden. Theoderich der Große führte seine Ostgoten 489 im Auftrag des oströmischen Kaisers Zenon nach Italien und tötete Odoaker, der nach der Absetzung des Romulus Augustulus im Jahre 476 dort als lokaler Machthaber amtiert hatte. Theoderich regierte zwar formal im Auftrag des Kaisers in Konstantinopel, in Wirklichkeit jedoch ist er sein eigener Herr. Ab 535 eroberte Belisar im Auftrag Justinians jedoch das Ostgotenreich, welches nach langen Kämpfen unterging.

Für die germanischen Völkerwanderungszüge ins Imperium Romanum galt, dass sie versuchten, gesichertes Siedlungsland von der römischen Regierung zu gewinnen, um so eine gesicherte Lebensgrundlage zu erlangen. Ihr Ziel war also keineswegs die Zerstörung der bestehenden kulturellen Ordnung, sondern eine Teilhabe daran. Dies wird deutlich bei der Kooperation der germanischen Neuankömmlinge mit der römischen Oberschicht (beispielsweise 418 in Aquitanien bei der Ansiedlung der Westgoten). Ohne diese Kooperation hätten sich die germanischen Gruppen, die den Romanen zahlenmäßig weit unterlegen waren, nicht durchsetzen können.

450 bis 568

486 beseitigten die Franken unter König Chlodwig, von ihrer Machtbasis am Niederrhein ausgehend, die Reste des römischen Herrschaftsraumes in Gallien, der sich nach dem Ende des weströmischen Reiches im Jahre 476 dort noch gehalten hatte. In den Jahren bis 534 besiegten sie die Alamannen, Westgoten (die nach Spanien verdrängt wurden) und Burgunder und hatten somit ein, allerdings nicht zentralisiertes, Großreich geschaffen, welches sich als das langlebigste der in der Völkerwanderungszeit entstandenen Reiche erweisen sollte.

Etwa zur selben Zeit drangen die Friesen, Angeln und Sachsen aus Norddeutschland und dem heutigen Dänemark in Britannien ein und besetzten weite Teile des Landes, wo die römische Verwaltungsordnung bereits zu Beginn des 5. Jahrhunderts zusammengebrochen war. Die einheimischen Kelten wanderten in die Randgebiete Britanniens aus.

568 fielen die Langobarden von Pannonien aus unter König Alboin in Norditalien ein und errichteten das Langobardenreich, das bis zur Eroberung durch Karl den Großen bestand. Dieser Zug, dem vielleicht ein gescheiterter Versuch Ostroms voranging, die Langobarden in Norditalien als Foederaten anzusiedeln, markiert in der Forschung das Ende der Völkerwanderungszeit. Etwa um diese Zeit lassen sich auch die Baiern erstmals nachweisen, und wenig später drangen die Slawen in viele einstmals germanische Gebiete sowie in den römischen Balkan vor, wo sie sich niederließen. Erst die neu entstandenen Staatswesen der Franken, Langobarden und Angelsachsen hatten Bestand und stabilisierten die Verhältnisse in Mitteleuropa wieder. Die Frage, inwiefern die Germanen Schuld am Untergang des Imperiums haben, ist in der Forschung allerdings bis heute sehr umstritten. Auf jeden Fall hatten sie an der Metamorphose der antiken Mittelmeerwelt ihren Anteil (siehe Spätantike).

Literatur

  • Arens, Peter: Sturm über Europa. München 2003, ISBN 3548364519 (Anm.: Populärwissenschaftliches Begleitbuch zur vierteiligen Fernsehdokumentation)
  • Geary, Patrick J.: Europäische Völker im frühen Mittelalter. Zur Legende vom Werden der Nationen, Frankfurt am Main 2002. (Anm.: Fischer-Taschenbuch; kritische Sicht auf die gängige Betrachtung der FMA Volksgruppen als homogene Gebilde, stattdessen Darstellung der Vorgänge als komplexe Interaktion heterogener Gruppen und Faktoren), ISBN 3596601118,
  • Goffart, Walter: Barbarians and Romans AD 418-584. The Techniques of Accomodation, Princeton 1980 (Anm.: Ein sehr einflussreiches Buch, das neue Erklärungsmuster für die Entstehung der Germanenreiche bietet)
  • Maczyńska, Magdalena: Die Völkerwanderung. Geschichte einer ruhelosen Epoche im 4. und 5. Jahrhundert (Düsseldorf u.a. 1998), ISBN 3491961270
  • Martin, Jochen: Spätantike und Völkerwanderung. München 2001, ISBN 3-486-49684-0. (Anm.: 4. Band in der OGG-Reihe mit Darstellung, Forschungstendenzen und Bibliographien zu Quellen und Literatur, Ausgangspunkt für die wissenschaftliche Arbeit).
  • Pohl, Walter: Die Völkerwanderung. Stuttgart u.a. 2002, ISBN 3-17-015566-0. (Anm.: Wissenschaftlich fundierte Einführung aus der Kohlhammer Reihe)
  • Rosen, Klaus: Die Völkerwanderung. München 2002, ISBN 3-406-47980-4. (Anm.: Überblicksdarstellung aus der verlässlichen Beck-Wissen-Reihe mit annotierter Kurzbibliographie)
  • Todd, Malcom: Die Zeit der Völkerwanderung. Stuttgart 2002, ISBN 3-8062-1723-8.
  • Webster, Leslie/Brown, Michelle (ed.): The Transformation of The Roman World. AD 400-900, London 1997, ISBN 0714105856
  • Wolfram, Herwig: Das Reich und die Germanen, Berlin 1990.

Siehe auch: Spätantike, Ethnogenese, Migration, Hinweise auf Völkerwanderungen durch Vorkommen des Helicobacter pylori beim Menschen, Immobilisten