Das "Alte Testament" (von lateinisch testamentum = Bund) ist die übliche christliche Bezeichnung für die jüdische Sammlung biblischer Bücher, die im Wesentlichen mit dem jüdischen Tanach identisch ist.
Diese Schriftensammlung bildet heute die "Heilige Schrift" zweier Religionen, des Judentums und des Christentums. Auch der Islam erkennt prinzipiell die ganze Bibel und mit ihr seine beiden Vorgängerreligionen als gültiges, wenn auch von Menschen verfälschtes Offenbarungszeugnis Allahs an.
Da der Tanach ursprünglich in Hebräisch abgefasst und überliefert wurde, nennt man ihn auch "Hebräische Bibel". In der Antike haben die Christen das Alte Testament hingegen mit der griechischen Übersetzung der Hebräischen Bibel (Septuaginta) identifiziert, im Mittelalter mit der lateinischen Bibelübersetzung (Vulgata), weil diese Sprachen den Christen geläufig waren. Erst die Reformation hat die Wiederentdeckung der ursprünglichen hebräischen Bibel für die christlichen Kirchen eingeleitet.
Inhalt und Einteilung des Tanach bzw. Alten Testaments
im Judentum
Die Heilige Schrift des Judentums trägt den Namen "Tanach" oder "Tenack", der sich aus den Anfangsbuchstaben seiner drei Hauptteile zusammensetzt:
- Tora (Weisung, Lehre),
- Nebiim (Propheten) und
- Ketubim (Schriften).
Diese Anordnung bedeutet auch eine gewisse Bedeutungshierarchie: Die Tora steht sowohl zeitlich als auch von ihrer Autorität her an der Spitze der biblischen Bücher. Sie wurde in Israel zuerst als gemeinsame Heilige Schrift anerkannt. Danach kommen die Propheten, zuletzt die Schriften.
Zur Tora gehört im Judentum:
- der Pentateuch, bestehend aus den fünf Büchern Moses.
Zu den Propheten zählt man dort die Bücher:
- Josua,
- Richter,
- Samuel,
- Könige,
- Jesaja,
- Jeremia,
- Ezechiel,
- die zu einem Buch zusammengefassten 12 "kleinen" Propheten: Hosea, Joel, Amos, Obadja, Jona, Micha, Nahum, Habakuk, Zefanja, Haggai, Sacharja, Maleachi.
Zu den Schriften rechnet man:
- Psalmen,
- Buch der Sprichwörter,
- Hiob (Ijob),
- Hoheslied,
- Rut,
- Klagelieder Jeremias,
- Kohelet,
- Ester,
- Daniel,
- Esra und Nehemia,
- Chronik.
Der Tanach zählt demnach 24 "Bücher". Er fasst die Bücher Samuels, der Könige, der Chronik, die 12 kleinen Propheten sowie Esra und Nehemia im Gegensatz zur christlichen Einteilung als jeweils ein Buch auf. Er rechnet einige Bücher, die für heutige Historiker Geschichtsbücher sind, zu den Propheten (z.B. Josua, Richter) oder zu den Schriften (Rut, Ester, Esra, Nehemia, Chronik).
Der Tanach bildet die maßgebliche Grundlage des später von den Christen übernommenen "Alten Testaments" und stimmt mit diesem inhaltlich weitgehend überein. Aber Anordnung und Bedeutung der Einzelschriften unterscheiden sich im Judentum und im Christentum: Darum kann der Tanach nicht mit dem Alten Testament gleichgesetzt werden.
Eine chronologische Anordnung, die der historischen Entstehungszeit der Einzelschriften folgt, fiele wiederum ganz anders aus als die beider Religionen. Darin kommt bereits äußerlich zum Ausdruck, dass die biblische Geschichte, obwohl sie viele historische Informationen über den antiken vorderen Orient enthält, nicht als Tatsachenbericht aufgefasst werden will, sondern als "Wort Gottes".
in der römisch-katholischen Kirche
Dort werden 46 Bücher zum Alten Testament gezählt, eingeteilt in
- den Pentateuch:
- Geschichtsbücher:
- Josua,
- Richter,
- Rut,
- 1. Buch Samuel,
- 2. Buch Samuel,
- 1. Buch der Könige,
- 2. Buch der Könige
- 1. Buch der Chronik,
- 2. Buch der Chronik,
- Esra,
- Nehemia,
- Tobit,
- Judith,
- Ester (mit Zusätzen gegenüber der jüdischen Version),
- 1. Buch der Makkabäer
- 2. Buch der Makkabäer
- Bücher der Lehrweisheit und Psalmen:
- Prophetenbücher, nochmals unterteilt in
4 "große" Propheten:
- Jesaja,
- Jeremia, darin eingefügt die Bücher:
- Ezechiel,
- Daniel (mit Zusätzen gegenüber der jüdischen Version).
- und 12 "kleine" Propheten:
in der orthodoxen Kirche
Der Kanon der Orthodoxie umfasst neben dem oben beschriebenen katholischen Kanon:
- ein so genanntes 1. Buch Esra, so dass das hebräische Esra-Buch dann als 2. Buch Esra gilt;
- 2 weitere Bücher der Makkabäer.
Diese biblischen Bücher werden anders angeordnet als im Judentum und in den westlichen Kirchen. Sie enthalten außerdem kleine inhaltliche Unterschiede zu deren Bibeln wie einzelne fehlende oder zusätzliche Verse innerhalb einiger Bücher. Diese entstammen der Septuaginta, sind also bereits vorchristlicher Herkunft.
Die slawischen Kirchen fügen außerdem noch die Esra-Apokalypse - auch als 2., 3. oder 4. Buch Esras bekannt - hinzu. Die Äthiopische Kirche hat noch mehrere weitere Bücher in ihrem Kanon.
in den evangelischen Kirchen
Die im Protestantismus meist verwendete Lutherbibel übernahm im Wesentlichen den katholischen Kanon. Sie verzichtet aber auf die Zusätze zu Esther und Daniel und die Bücher:
- Tobit,
- Judit,
- Jesus Sirach,
- Baruch,
- 1. Makkabäer,
- 2. Makkabäer.
Das evangelische Alte Testament zählt damit 39 Bücher, die ebenso wie die katholische Bibel eingeteilt sind in:
- Gesetzbücher (Pentateuch),
- Geschichtsbücher,
- Lehrbücher,
- große und kleine Propheten.
Während die Calvinisten meist nur die kanonischen Schriften abdrucken, enthalten Lutherbibeln oft auch die "deuterokanonischen" Bücher als Extrateil zwischen Altem und Neuem Testament. Dabei kommt oft noch das sogenannte Gebet des Manasse hinzu. Diese Schriften gelten damit nicht als gleichrangiges Wort Gottes, waren für Luther aber dennoch "nützlich und gut zu lesen".
Entstehung der Hebräischen Bibel
Ursprache und Urschrift
Die ältesten bekannten Bibeltexte sind in Aramäisch verfasst, das sich seit dem Assyrischen Großreich im ganzen Vorderen Orient verbreitete. Das Hebräische ist daraus weiterentwickelt, wurde aber nicht als Umgangssprache, sondern für die Bibelüberlieferung verwendet.
Die ältesten Überlieferungen, die in die Bibel einwanderten, wurden in der Phönizisch-Althebräischen Schrift abgefasst. Diese war die erste bekannte alphabetische Buchstabenschrift, entstand um 2000 v. Chr. im Raum Syrien-Libanons und bestand aus weniger als 30 Konsonanten ohne Vokale.
Seit dem israelitischen Exil im 4. Jahrhundert v. Chr. wurde sie allmählich von der hebräischen Quadratschrift abgelöst. Beide Schriftarten bestanden noch bis ins 2. Jahrhundert n. Chr. nebeneinander fort, wobei das Althebräische als besonders heilig galt.
Älteste Handschriften
Das Hebräische eignete sich nicht für Tontafeln, die sonst im Alten Orient in Keilschrift beschrieben wurden. Auch mit sakralen Texten beschriebene Tonscherben (Ostraka) wurden in Israel bisher nicht aufgefunden. Das übliche Schreibmaterial waren handgefertigte Papyrus-, seltener Lederrollen, mit Tinte aus rußigem Olivenöl oder metallhaltigem Vitriol beschrieben. Sie waren ebenso haltbar wie heutiges hochwertiges Papier, blieben aber nur unter günstigen klimatischen Bedingungen erhalten.
Die ältesten bekannten biblischen Schriftrollen wurden 1947 bei Qumran gefunden und entstanden etwa 200 Jahre v. Chr.. Sie enthalten aramäische und hebräische Bibeltexte aus exilisch-nachexilischer Zeit, darunter eine fast 7,5 Meter lange Rolle des vollständigen Jesajabuchs (66 Kapitel). Sie wichen zur großen Überraschung der Bibelforschung nur minimal von den bis dahin bekannten, 1200 Jahre jüngeren mittelalterlichen Bibelhandschriften ab, so dass von einer enormen Disziplin bei der generationenlangen Abschrift von Bibeltexten auszugehen ist.
Seit dem 1. Jahrhundert n. Chr. löste Pergament das Papyrus als Schreibmaterial ab: Nun wurde es möglich, mehrere umfangreiche Schriftrollen zu einem "Kodex" zu bündeln. Der älteste erhaltene hebräische Bibelkodex ist der Codex Cairensis aus dem Jahr 895 n. Chr.; er enthält nur die Bücher der 12 Propheten.
Eine erster vollständiger Text der ganzen Hebräischen Bibel liegt vor in der Handschrift B19 (Codex Leningradensis), die 1008 n. Chr. aufgeschrieben wurde. Sie liegt den modernen Urtextausgaben der Biblia Hebraica (Herausgeber Rudolf Kittel) und Biblia Stuttgartensia (Herausgeber Karl Elliger und Wilhelm Rudolph) zu Grunde.
Kanonisierung und Vokalisierung
Nach dem Ende des antiken Staates Israel 70 n. Chr. begann eine Phase der jüdischen Restauration, die mit der Synode von Jamnia um 100 n. Chr. ihren vorläufigen Abschluss fand. Dort wurden die zum Judentum gehörenden Gruppen und Traditionen festgelegt: so auch der biblische Kanon, soweit die Zugehörigkeit einzelner Schriften zur Bibel noch umstritten war (z.B. Daniel). Hinzu kam die seit Rabbi Akiba (55 - 137 n. Chr.) vorherrschende Methode der Bibelauslegung (Exegese). Daraus ergab sich die Notwendigkeit, einen autoritativen Text der Gesamtbibel festzulegen.
Der Konsonantentext vor allem der Tora wurde um 135 n. Chr. festgelegt. Dass er dabei alter vorchristlicher, jedoch noch nicht kanonisierter Überlieferung folgte, ist durch die Funde in Qumran und den Papyrus Nash (um 170 v. Chr. entstanden) erwiesen. Doch nun begann die 1000-jährige "Masora" (philologische Arbeit) der danach genannten "Masoreten": jüdischen Schriftgelehrten in Palästina - hier besonders in Tiberias - und Babylonien, die mit dem Sammeln und Redigieren von biblischen Handschriften befasst waren. Eine ihrer Aufgaben war auch die Punktuation (Markierung) des festgelegten Konsonantentextes durch Vokalzeichen, Akzente, Satzzeichen und Verseinteilungen. Ferner mussten nach ihren strengen Vorschriften ältere, von der als gültig vereinbarten Textversion abweichende Abschriften vernichtet werden.
Die seit dem Mittelalter bekannten Bibelhandschriften beruhen allesamt auf der masoretischen Vereinheitlichung der hebräischen Bibeltexte, so dass man lange Zeit einen "Urtext" dahinter annahm. Durch Zufallsfunde in einer zugemauerten Geniza (Rumpelkammer) zum Entsorgen überholter Schriftrollen in Kairo (1850) und den Höhlen von Qumran (1947) aber weiß man heute, dass hier überwiegend die palästinensische Tradition erhalten geblieben ist.
Vor 135 n. Chr. existierten also mehrere Versionen der Hebräischen Bibel nebeneinander. Darauf verweisen auch die Septuaginta, der samaritanische Pentateuch und die innerbiblischen Paralleltexte mit ihren leichten Abweichungen, z.B. Psalm 18 und 2. Samuel 22 oder Jesaja 2, 2-4 und Micha 4, 1-3.
Literarische Bibelquellen
Die ältesten Überlieferungen des Tanachs sind vor allem in den 5 Büchern Moses - dem sogenannten "Pentateuch" (von griechisch "penta" = fünf, "teuch" = Buchrolle) - gesammelt. Sie schildern die Erschaffung der Welt und Urgeschichte der Menschheit bis zur "Erwählung", Befreiung und Einwanderung Israels in Palästina. Sie sind in Jahrhunderten aus einer Vielzahl verschiedener Stoffe, aus Sagenkränzen, Ortsätiologien, Stammesüberlieferungen und Gesetzeskorpora zusammengewachsen. Diese wurden wohl schon ab der Königszeit (um 1000 v. Chr.), besonders aber der exilischen Zeit (587 v. Chr.) literarisch zu größeren Einheiten verbunden:
- den "Erzväter"-Erzählungen (Genesis 12 - 47),
- der Geschichte vom Auszug Israels aus Ägypten, seiner Wüstenwanderung und Gesetzesoffenbarung am Sinai (Exodus),
- der Besiedlung, Eroberung und Verteidigung ("Landnahme") des verheißenen Landes (Teile von 4. Mose sowie die Bücher Josua und Richter),
- den Urgeschichten (Genesis 1-11; siehe auch: Wiege der Menschheit)
- Gesetzessammlungen (Teile von 2. Mose; 3. Mose; Teile von 4. Mose; 5. Mose).
Hinzu kamen seit der Königszeit Überlieferungen über die politische Geschichte Israels, die im und nach dem Exil zu größeren Einheiten wie dem "Deuternomischen Geschichtswerk" verbunden wurden: Dazu gehören das Buch Josua, die Bücher Samuel, Könige und Chronik.
Seit dem 9. Jahrhundert vor Chr. wurden außerdem profetische Traditionen gesammelt und später entweder in die Geschichtswerke über die Königszeit integriert (Samuel, Nathan, Elia, Elisa) oder zu eigenen profetischen Einzelbüchern zusammengestellt (von Jesaja bis Maleachi).
Seit der Regierungszeit Salomos im 8. Jahrhundert, besonders aber in exilisch-nachexilischer Zeit ab dem 6. Jahrhundert v. Chr. entstanden liturgische, poetische und weisheitliche Schriften:
- Gebets-Poesie wie die Psalmen, Spruchweisheit wie die Sprichwörter oder die Liebesgedichte des "Hohenlieds",
- reflexive Weisheitsliteratur wie die Bücher Kohelet und Hiob.
Viele der zu den "Schriften" gezählten Bücher entstanden nach der Rückkehr eines Teils der exilierten Juden 539 vor Christus (Esra, Nehemia, Ester, Rut). Seit der Makkabäerzeit (etwa 170 v. Chr.) wurde auch apokalyptische Literatur verfasst und später dem Kanon hinzugefügt (Daniel).
Die Rolle der Hebräischen Bibel im Neuen Testament
Als Jesus von Nazareth die Weltbühne betrat, bildete vor allem die Tora (der Pentateuch) schon seit gut 800 Jahren die wichtigste "Heilige Schrift" des Judentums. Dieses "Wort Gottes" war auch die Bibel Jesu, des Christus der Christen. Er bezog sich auf sie von Beginn seines Wirkens an und verstand seine Verkündigung als gültige Auslegung des in ihr offenbarten Willens Gottes (Mt. 5, 17).
Seit Jesu Tod und Auferweckung existiert für das Christentum ein "Neues Testament" (NT). Dieses wurde in Gestalt der urchristlichen Schriften, vor allem der Evangelien und der Gemeindebriefe, schriftlich fixiert. Es stellt Leben und Lehre des Juden Jesus Christus als die Erfüllung des Israelbundes dar. Untrennbar von der Hebräischen Bibel bildet es mit ihr zusammen die Heilige Schrift des Christentums.
Der Begriff "Altes Testament" kommt im NT nicht vor. Er erscheint als Sammelbezeichnung für die Schriften Israels erst im 2. Jahrhundert bei Melito von Sardes. Der Sache nach ist im NT damit aber der "Erste Bund" (Gottes mit dem Volk Israel, Hebr. 8, 7) im Gegenüber und in unauflösbarer Relation zum "Neuen Bund" (Gottes mit Israel und allen Völkern durch die Selbsthingabe Jesu Christi, Mk. 14, 24) gemeint. Das Attribut "alt" hat seine Berechtigung ausschließlich in diesem christlichen Selbstverständnis: Danach ist das Verhältnis der beiden Testamente zueinander ein unauflösbares Nacheinander, insofern der Alte dem Neuen Bund Gottes zeitlich und inhaltlich vorangeht.
Dies meint jedoch weder im NT selber noch nach späterer kirchlicher Lehre die Veraltung und Ersetzung des Israelbundes, den die Hebräische Bibel bezeugt. Mit dem Erscheinen Jesu Christi ist für Christen kein neues Wort Gottes neben das "alte" getreten. Sondern dieser "Sohn Gottes" ist das "fleischgewordene Wort Gottes" (Jh. 1, 14) und repräsentiert als solcher die Erwählung Israels zum Volk Gottes, in die von Ewigkeit her die Erwählung der Menschheit eingeschlossen ist.
Insbesondere der Tod und die Auferweckung Jesu Christi hat nach dem Neuen Testament Gottes Willen stellvertretend für alle Menschen erfüllt. Damit hat er die Israel gegebenen Offenbarungen, Bundesschlüsse und Verheißungen endgültig bestätigt, die in Israels Bibel ausgesprochene Verheißung eines "neuen Bundes" unüberbietbar bekräftigt (Hebräerbrief 8, 8 als Zitat von Jeremia 31, 31-34) und alle Völker in diesen Bund einbezogen.
Person und Werk Jesu Christi verkörpern also für die Christen den "neuen" Willen Gottes, indem sie seinen "alten" Willen, die Ersterwählung Israels, endgültig erfüllen und bekräftigen. Für die ganze urchristliche Verkündigung ist daher der durchgängige Bezug auf die Bibel Israels entscheidend. Ohne sie lässt sich die universale Bedeutung Jesu Christi nicht aussagen.
Damit hat jedoch für die Christen der eine Wille Gottes, den bereits das "Alte" Testament offenbart, einen anderen, neuen Stellenwert erhalten: Von nun an gilt dieser Wille nur noch in der Auslegung, die Jesus Christus ihm durch seine Lehre, seinen Tod und seine Auferweckung gegeben hat. Demnach sind alle Einzelgebote in dem einen Gebot Jesu Christi, nämlich dem Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe "aufgehoben" und diesem untergeordnet (Mk. 12, 30 - 31).
Die kirchliche Kanonisierung des Alten Testaments
In der Folge entwickelten sich im Christentum jedoch ganz verschiedene Zugänge und Lesarten des Tanach. Dabei spielte das Verhältnis der beiden Testamente zueinander eine oft umstrittene Rolle. Immer wieder gab es Versuche, die Hebräische Bibel als minderwertig, überholt und nicht mehr gültig abzutun. Parallel zur Entstehung der Kirche versuchte vor allem der Gnostizismus und Marcion die Lehren von der Schöpfung und von der Erlösung dualistisch einander gegenüberzustellen. Damit ging die Abtrennung und Entwertung der Bibel Israels einher.
Mit der Kanonisierung der Hebräischen Bibel hat die werdende Kirche bereits im 3. nachchristlichen Jahrhundert allen solchen Versuchen eine entscheidende Absage erteilt. Dabei wurde ein Großteil der Schriften des Tanach als "Altes Testament", das heißt als vollgültiges Gotteswort übernommen.
Damit wurde es theologisch unmöglich, die Lehre Jesu Christi von der Erwählung Israels zu trennen. Die Kirche legte damit selber eine normative Instanz für die Auslegung des Neuen Testaments fest, auf die spätere Reformanläufe in Religion und Politik sich berufen konnten.
Die christliche Abwertung des Alten Testaments und ihre Wirkungen
Dennoch hat die Abwertung des Judentums und seiner Bibel im Christentum verhängnisvolle Folgen gehabt. Denn die Kirche selbst "vergaß" in ihrer Geschichte die eindeutige Aussage des Paulus (Röm. 11, 2.18):
- "Gott hat sein Volk nicht verstoßen, das er sich zuvor erwählt hat...Nicht Du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt Dich!"
Wo die auf das Diesseits bezogenen Hoffnungen und Verheißungen Israels neuplatonisch und allegorisch umgedeutet wurden, dort eignete sich das Christentum zur neuen Herrschaftsreligion des römischen Reiches. Die seit dem 3. Jahrhundert durchgängige christliche Vereinnahmung des Alten Testaments und kirchlich-dogmatische "Enterbung" des Judentums rief in Krisenzeiten Pogrome an Juden und anderen Minderheiten hervor und rechtfertigte diese: während des ganzen europäischen Mittelalters bis weit in die Neuzeit hinein.
Mitten im 20. Jahrhundert konnten die "Deutschen Christen" im deutschen Protestantismus Fuß fassen. Sie versuchten wie Marcion erneut, alles "Jüdische" aus dem christlichen Glauben auszumerzen und diesen zu einer "Nationalreligion" umzuformen. Der jahrhundertelange kirchliche Antijudaismus bildete eine der wesentlichen Voraussetzungen für diese Irrlehre und damit auch für das singuläre Verbrechen des Holocaust.
Die Neubewertung des Alten Testaments in der christlichen Theologie
Aus dieser verheerenden Erfahrung erwuchs seit 1945 ein neuer jüdisch-christlicher Religionsdialog. Seit etwa 1960 wurde dieser verstärkt und beflügelte die Diskussion um das Alte Testament, seine Relevanz für die Exegese des Neuen Testaments und den christlichen Glauben in der christlichen Theologie.
Schon die historische Forschung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts erkannte die Eigenständigkeit der Traditionen Israels, besonders seiner Prophetie und seines Messianismus. Doch erst die unübersehbaren Wirkungen des christlichen Antijudaismus bis hin zur Schoah nötigten die Kirchen, besonders auch die neutestamentliche Wissenschaft dazu, sich mit dem möglichen Antijudaismus im Neuen Testament selber auseinanderzusetzen.
Dies zog im katholischen Bereich seit dem 2. Vatikanischen Konzil, im deutschen evangelischen Bereich besonders seit den Kirchentagen der 70-ger und frühen 80-ger Jahre eine Neubewertung des Alten Testaments und Judentums auch in der kirchlichen Dogmatik und Alltagspraxis nach sich. Der rheinländische Synodalbeschluss von 1980 zum Verhältnis von Juden und Christen war hier wegweisend.
Eine seiner zentralen Einsichten lautete: Hätte die christliche Mehrheit Europas ihre jüdischen Wurzeln wahrgenommen und den "ungekündigten Bund" Gottes mit Israel (Römerbrief 11, 2/Martin Buber) erkannt, dann hätte sie das Doppelgebot der Liebe auch gegenüber der jüdischen Minderheit befolgt und die Gesellschaften Europas Gleiches zu tun gelehrt. Dann hätte der beispiellose Völkermord am jüdischen Volk niemals stattfinden können.
Mit der Einführung neuer Begriffe versucht die neuere christliche Theologie, diesen Einsichten auch sprachlich Rechnung zu tragen. Man favorisiert heute eine Bezeichnung, die die bleibende Gültigkeit der im Alten Testament enthaltenen Schriften betont und das Missverständnis verhindert, "alt" bedeute "veraltet" und "überholt": z.B. Erstes Testament (Hebräerbrief 8, 7.13, 9, 1.15.18), Hebräische Bibel oder historisch-neutral Hebräisch-Aramäische Schriften.
Die wirksame Überwindung der christlichen Abwertung des Alten Testaments ist jedoch nur möglich, wenn zugleich das Judentum als eigenständiger lebendiger Zeuge der Hebräischen Bibel anerkannt wird. Dies begreifen gegenwärtig immer mehr Teilkirchen der EKD.
Alttestamentliche Wissenschaft
Die alttestamentliche Wissenschaft widmet sich als Teildisziplin der Theologie der philologisch-historischen Erforschung des Alten Testaments. Sie umfasst folgende Sachbereiche:
- Alttestamentliche Literaturgeschichte ("Einleitungswissenschaft")
- Exegese der alttestamentlichen Texte (Auslegung)
- politische Geschichte und Sozialgeschichte Israels
- Religionsgeschichte Israels
- Theologie(n) des Alten Testaments
- Alttestamentliche Hermeneutik (Lehre vom "Verstehen")
Als Hilfswissenschaften sind der alttestamentlichen Wissenschaft zugeordnet:
- Hebraistik
- Archäologie Palästinas
Literatur
- Walter Dietrich / Wolfgang Stegemann (Hrg.), Biblische Enzyklopädie, Bd. 1-12, Stuttgart 1996ff
- Otto Kaiser, Einleitung in das Alte Testament, Gütersloh, 5. Aufl. 1984
- Reinhard G. Kratz, Die Komposition der erzählenden Bücher des Alten Testaments. Grundwissen der Bibelkritik, Göttingen 2000 (UTB 2157)
- Christoph Levin, Das Alte Testament, Beck´sche Reihe Wissen 2160, München, 2. Aufl. 2003 (neu, kompakt, wissenschaftlich und gut lesbar)
- Hanns-Martin Lutz / Hermann Timm / Eike Christian Hirsch (Hrg.), Altes Testament. Einführungen, Texte, Kommentare R. Piper & Co. Verlag : München, 4. Aufl. 1984, ISBN 3492023177
- Martin Noth, Geschichte Israels, Göttingen 1950, 5. Aufl. 1963 (ein Klassiker der Bibelwissenschaft)
- Gerhard von Rad, Theologie des Alten Testaments, Bd.1-2, München, 8. Aufl. 1982/1984 (ebenfalls ein Klassiker der Bibelwissenschaft)
- Walter Zimmerli, Grundriß der alttestamentlichen Theologie, Stuttgart, 4. Aufl. 1982
Siehe auch
Weblinks
- WILAT (Wissenschaftliches Internet-Lexikon zum Alten Testament, herausg. von Prof. Dr. Klaus Koenen, Universität Köln)
- Informations-Stelle für Alt-Testamentliche EXegese (ISATEX), Heidelberg
- Die Bücher und Biblische Begriffe