Kinderkreuzzug
Als Kinderkreuzzug wird eine Folge von Ereignissen bezeichnet, nach denen im Frühsommer des Jahres 1212 tausende „Kinder“ aus Deutschland und aus Frankreich unter der Leitung visionärer Knaben zeitgleich zu einem Kreuzzug ins Heilige Land aufgebrochen sind. Sowohl der deutsche wie auch der französische Zug endeten an den Gestaden des Mittelmeers, wo einige der Teilnehmer in die Sklaverei geraten sein sollen.

Begrifflichkeit
Die Teilnehmer des Kinderkreuzzugs waren nicht, wie der Name impliziert, ausschließlich Kinder, sondern zu einem großen Teil Jugendliche („…multa milia puerorum a 6 annis et supra usque ad virilem etatem,…“)[1] sowie Kleriker und andere Gruppen von Erwachsenen. Es handelte sich bei ihnen überwiegend um Angehörige niederer sozialer Schichten. Eventuell beruht die Vorstellung eines Kinderkreuzzuges auf einem sprachlichen Missverständnis. Das lateinische Wort pueri muss nicht nur „Knaben“ bedeuten, sondern kann auch (vor allem junge) Menschen aus niederem Stand meinen. Diese Interpretation des Namens ist von mehreren neueren Forschungen bestätigt worden.[2][3][4][5][6] Wenn in der Folge weiterhin von Kindern die Rede ist, muss dies immer in der erweiterten Bedeutung von „puer“ verstanden werden.
Quellenlage
Die Quellenlage zu den Kinderkreuzzügen ist insofern dürftig, als kein einziger Augenzeugenbericht eines Teilnehmers erhalten geblieben ist. An die 50 zeitgenössischen Quellen, vornehmlich Einträge in Kloster-Annalen, sind zu finden. Gemäss Peter Raedts können von diesen allerdings nur die 20 als relevant betrachtet werden, die vor 1220 entstanden sind.[3][7] Die Autoren der Quellen, die zwischen 1220 und 1250 entstanden sind, können immerhin noch als Zeitgenossen betrachtete werden. Die Quellen, die nach 1250 entstanden sind, stammen jedoch vorwiegend aus zweiter oder dritter Hand.
Die Sagen- und Legendenbildung scheint schon sehr frühzeitig eingesetzt zu haben. Manche Historiker nahmen an, dass die Pastorellen-, die Flagellantenbewegung und die Kinderwallfahrten nach Mont-Saint-Michel mit dem Kinderkreuzzug in Verbindung stehen; aufgrund von anderen Entstehungsbedingungen und abweichenden Jahreszahlen gelten diese Zusammenhänge als wenig plausibel, vor allen auch weil diese Bewegungen nie die Befreiung Jerusalems zum Ziel hatten.[8] Die Sage vom Rattenfänger von Hameln gehört in den Kontext der Ostkolonisation und hat mit dem Kinderkreuzzug nichts zu tun (vgl. Interpretation der Rattenfängersage).
Deutscher Zug
Zwischen Ostern und dem Weißen Sonntag des Jahres 1212 sammelten sich in den Rheinlanden und in Niederlothringen Scharen von „pueri“, um sich auf den Weg nach Jerusalem zu begeben. Aus den Quellen ist kein äusserer Anlass ersichtlich. In einigen Quellen wird ein gewisser Nicolaus, ein Junge aus Köln, als Anführer genannt. Diesem sei ein Engel erschienen, der ihn aufgefordert habe, das heilige Grab von den Sarazenen zu befreien. Gott werde den Zug unterstützen und das Meer teilen, sodass sie wie die Israeliten trockenen Fußes in das Heilige Land gelangen würden.[9] Die Chronik von Trier berichtet, dass Nicolaus ein Kreuzzeichen in der Form eines Tau als Zeichen seiner Auserwählung auf sich getragen habe.[10]
An Hand der Einträge in verschiedenen Chroniken, kann der Zug ungefähr rekonstruiert werden. Von Köln zog die Gruppe dem Rhein entlang über Trier nach Speyer und von da durch das Elsass. Die Reise wird ziemlich erschöpfend gewesen sein. Eine Chronik aus Köln berichtet, dass bereits vor der Überquerung der Alpen viele der Teilnehmer vor Hunger und Durst gestorben seien.[11] Wo genau die Alpen überquert worden sind, ist aus den Quellen schwer ersichtlich. Die Häufung von Einträgen in bayerischen und österreichischen Chroniken lässt die Vermutung zu, dass der Zug über den Brenner in die Lombardei gelangte.[3]
Über Cremona und Piacenza kamen die Kreuzzugsteilnehner schließlich am 25. August in Genua an. Der Stadtchronist von Genua vermerkte, dass an die 7.000 Männer, Frauen und Kinder („pueros et puellas“) in die Stadt gelangt seien. Einige hätten die Stadt bereits anderntags verlassen, offensichtlich enttäuscht darüber, dass das Wunder der Meeresteilung ausgeblieben war.[12]
Nach dem „Debakel von Genua“[3] scheint sich der Zug aufgeteilt zu haben. Ein Teil zog weiter nach Marseille, ein anderer Teil zog Richtung Rom. Dort sollen sie gemäß den Annalen von Marbach Papst Innozenz III. aufgesucht haben, damit sie von dem Kreuzzugsgelübde entbunden würden.[13] Eine größere Gruppe soll versucht haben, in Pisa und Brindisi Schiffe nach Palästina zu besteigen. Die wenigen, denen dies gelang, seien schließlich als Sklaven an die Sarazenen verkauft worden.[14]
Keiner der Kreuzzugsteilnehmer scheint das Heilige Land je erreicht zu haben. Einige sind wohl in Italien geblieben, wo sie sich als Knechte und Mägde verdingten. Alle Quellen sind sich einig, dass von den tausenden, die die Alpen überquert hatten, nur wenige den Weg zurück fanden. Auf dem Heimweg wurden sie nicht selten hämisch empfangen. Der Marbacher Annalist vermerkt nicht ohne Hohn, dass diejenigen, die auf der Hinfahrt singend in Scharen gegen Süden gezogen seinen, nun kleinlaut, barfüssig, hungrig und von allen verlacht nach Hause gekommen seien.[15]
Französischer Zug
Der französische Zug, der angeblich etwa 30.000 Personen zählte, wurde von Stephan aus Cloyes geführt. Er begann in Cloyes, ungefähr 120 km südwestlich von Paris, und führte über Orléans und Lyon nach Marseille.
Angeblich wurden 5.000 der französischen Kinder von zwei Kaufleuten – Hugo Ferreus und Wilhelm de Posquere – auf sieben Schiffe gelockt. Zwei kenterten vor Sardinien. Die restlichen Kinder wurden in Nordafrika als Sklaven verkauft. Hinweise darauf finden sich einerseits in Quellen, die berichteten, dass ein Kalif in Nordafrika 400 Kinder kaufte und sie aus Respekt vor ihrer Religion gut behandelte. Ein weiterer Beleg ist eine noch heute existierende Kirche namens Chiesa dei Novelli Innocenti in Carloforte, Sardinien, vor dessen Küste sich die beiden Havarien ereignet haben sollen.
Literatur
Wissenschaftliche Literatur
- Gary Dickson: The Children's Crusade. Medieval history, modern mythistory. Basingstoke 2008. ISBN 9781403999894
- Michael Menzel: Die Kinderkreuzzüge in geistes- und sozialgeschichtlicher Sicht. In: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 55 (1999), S. 117-156.
- Franco Cardini: La crociata dei fanciulli, Florenz 1999.
- Gary Dickson: La Genese de la Croisade des Enfants (1212). In: Bibliothèque de l`Ecole des Chartes. Revue d`Érudition. 153, Nr. I, 1995, S. 53-103.
- Corinna Roeder: Der Kinderkreuzzug von 1212 in Deutschland in der Sicht der Zeitgenossen. In: Geschichte in Köln. 34, 1993, S. 5-44.
- Ulrich Gäbler: Der "Kinderkreuzzug" vom Jahre 1212. In: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte (ZSG) Nr. 28, 1978. S. 1-14. (Digitalisat)
- Peter Raedts: The Children's Crusade of 1212. In: Journal of Medieval History. 3, 1977, S. 279-324.
- G. Miccoli: La Crociata dei Fanciulli del 1212. In: Studi Medievali, 2, 1961, S. 407-443.
- George Zabriskie Gray: The Children's Crusade. An episode of the thirteenth century. Hurd and Houghton, New York 1872. (Digitalisat)
- Reinhold Röhricht: Der Kinderkreuzzug 1212. In: Historische Zeitschrift 36, 1876, S. 1-8.
- Klaus Arnold: Kinderkreuzzug. In: Lexikon des Mittelalters. Bd. 5, 1991. S. 1150–1151.
- Jonathan Riley-Smith: Kreuzzüge. In: Theologische Realenzyklopädie (TRE). Bd. 20, 1990. (S. 1-10, zum Kinderkreuzzug; S. 2, 13-15 zum allgemeinen Hintergrund große Teile des Artikels.)
Belletristik
- Thomas Ritter: Sehnsucht nach dem Paradies. Ancient-Mail-Verlag, Groß-Gerau 2003. ISBN 3-935910-06-1
- Thomas Ritter: Im Namen des Herrn - die Kreuzzüge der ungeliebten Kinder. König, Greiz/Thüringen 2005. ISBN 3-934673-07-4.
- Der weite Weg der Kinder. In: GEOlino Nr. 07, Juli 2004. ISSN 1618-8942
- Peter Berling: Das Kreuz der Kinder. Ullstein, Berlin 2008. ISBN 978-3-548-26919-1.
- Harald Parigger: Der schwarze Mönch. Schneider, München 1994. ISBN 3-505-04897-6.
- Leopold Schefer: Der Hirtenknabe Nikolas, oder der Kinderkreuzzug im Jahre 1212. 1857.
- Christian Waluszek: Philipp der Pfeifer. Deutscher Taschenbuchverlag, München 1990.
Film
- Kreuzzug in Jeans (NL/D/USA), 2007 (Spielfilm, der das Thema als Ziel einer unfreiwilligen Zeitreise aufgreift)
Weblinks
Einzelnachweise
- ↑ Chronica Regia Coloniensis continuatio IIa, ed. G. Waitz. In: MGH Scr. Rer. Germ. 18: 171-196
- ↑ Miccoli 1961
- ↑ a b c d Raedts 1977
- ↑ Roeder 199
- ↑ Dickson 1995
- ↑ Vgl. Georges Duby: Les pauvres des campagnes dans l'occident médiéval jusqu'au XIIIe siècle. In: Revue d'histoire de l'eglise de France, 1968 S. 23-32.
- ↑ Ulrich Gäbler will die Zahl der zuverlässigen Quellen sogar auf fünf beschränkt sehen. Gäbler 1978
- ↑ Vgl. Menzel 1999, S. 149f.
- ↑ Chronicon Ebersheimense, ed. L. Weiland. In: MGH SS 23:427-53.
- ↑ Gestorum Treverorum continuatio IVa, ed. G. Waitz. In. MGH SS 24:368-99.
- ↑ Chronica Regia Coloniensis continuatio IIIa, ed. G. Waitz. In: MGH Scr. Rer. Germ.18:199-256.
- ↑ Annales Ianuenses, ed. K. Pertz. In: MGH SS18:1-356.
- ↑ Annales Marbacenses, ed. H. Bloch. In: MGH Scr. Rer. Germ. 9:VII-XXI, 1-103.
- ↑ Chronicon Ebersheimense, ed. L. Weiland. In: MGH SS 23:427-53.
- ↑ zitiert bei Roeder 1993, S. 30.