Die Kunst der Fuge

Komposition von Johann Sebastian Bach
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Die Kunst der Fuge ist ein Variationenwerk von Johann Sebastian Bach (BWV 1080, um 1750 mit Vorarbeiten von 1740, Erstdruck 1751). Der Titel stammt nicht von Bach selbst.

Das Werk umfaßt vierzehn Fugen und vier Kanons. Jede der Fugen, abgesehen von der unabgeschlossenen letzten, basiert auf einem recht einfachen Grundthema in d-Moll, das in der ersten Fuge eingeführt wird:

Datei:Kunst der Fuge Grundthema.png

Mit dem Werk solle anschaulich vermittelt werden, so der erste Bach-Biograph Johann Nikolaus Forkel, "was möglicherweise über ein (einziges!) Fugenthema gemacht werden könne. Die Variationen, welche sämtlich vollständige Fugen über ein einerlei Thema (in derselben Tonart) sind, werden hier Contrapuncte genannt" (1802).

Der kunstvollen kontrapunktischen Komplexität wegen hat der Komponist jede Stimme – alle vorkommenden Fugen, Doppelfugen, Spiegelfugen usw. sind höchstens vierstimmig – auf einem einzigen Notensystem, also in Partiturform, ausgeschrieben.

Das unvollendet gebliebene Werk Bachs bietet bis heute Anlass zu vielfältigen Spekulationen. Die anhaltende Diskussion thematisiert dabei vor allem die Frage der Instrumentierung, der Anordnung sowie der Unabgeschlossenheit dieses Meisterwerkes polyphoner Kompositionskunst.

Instrumentierung

Weder im Bachschen Autograph noch im Erstdruck der "Kunst der Fuge" finden sich Angaben zur Instrumentierung des Werkes. Folglich wurde viel über die von Bach vermeintlich intendierte Instrumentalbestimmung spekuliert, starb der Komponist doch vor Abschluss der Drucklegung der Erstveröffentlichung.

Über 250 Jahre hinweg kann dabei die Tasteninstrument-These als dominant angesehen werden, nach der Bach wahrscheinlich bei diesem "Kunstbuch" an einen (Tasteninstrumenten-)"Spieler gedacht [habe], der spielt und sieht, sieht und hört" (Arnold Feil). Um einer "strengen Eintönigkeit" (Arnold Feil) auszuweichen, die sich bei einer Wiedergabe auf dem weniger klangvariablen Cembalo einstellen kann, gibt es für Aufführungen Einrichtungen für andere Instrumente. So war zum Beispiel dem Leipziger Konzert im Sommer 1927 (Dirigent: Karl Straube auf Veranlassung von Wolfgang Gräser, mit großem Orchester, Orgel und Cembalo) ein mehr als beeindruckender Erfolg beschieden; das "klingende Kunstwerk" sollte daraufhin immer wieder unter superlativer Etikettierung konzertant den Nur-Hörer für den "riesigen Fugenkosmos" motivieren.

Kontrovers diskutiert wurden die Einspielungen von Glenn Gould an Orgel (1962) und Klavier (1981). Neben den genannten existieren Bearbeitungen für Streichquartett und Blechbläserquartett. Auch mit Einrichtungen für Saxophonquartett und Gitarrenquartett ist experimentiert worden.

Von Hans-Eberhard Dentler wurden Einwände gegen die diversen Instrumentalbearbeitungen geltend gemacht. In seiner Studie zur "Kunst der Fuge" kommt er zu dem Ergebnis, dass allein folgende Besetzung dem Bachschen Autograph gerecht werden könne: Violine, Viola, Violoncello, Fagott und Kontrabass. Diese Besetzung gestatte "erstmals, jede musikalische Linie der verschiedenen Stimmen zu hören und ihre Entwicklung zu verfolgen. Sie garantiert absolute Partiturtreue und setzt Instrumente ein, die durch Bachs Kantaten und Instrumentalwerke bekannt sind. Jedes Instrument ist für seine Stimme verantwortlich und überlässt niemals wegen instrumentaler Schwierigkeiten oder aus Gründen der Unausführbarkeit einzelne Takte oder Noten anderen Instrumenten (wie dies bei Transkriptionen der Fall ist)." (Johann Sebastian Bachs "Kunst der Fuge", S. 144)

Anordnung

Auch die Anordnung der einzelnen Stücke ist heftig umstritten, und lässt sich aus den Quellen nicht verbindlich klären. Die Anordnung nach dem Berliner Autograph macht eine Interpretation des Werkes nach symetrischen Gesichtspunkten möglich, aber nicht zwingend. Bei den ersten drei Fugen wird die Umkehrung von zwei Fugen in Normalgestalt umgeben (1-3). Die beiden Doppelfugen werden von zwei Gegenfugen eingerahmt (4-7). Eine Gegenfuge an der achten Position des Werkes wäre demnach die Mittelachse des Werkes. Zwei weitere Doppelfugen werden analog zu dazu von zwei Kanons umfasst (9-12). Zwei Spiegelfugen und ein Kanon beschließen das Werk (13-15). Eine anderer Ansatz gruppiert die Einzelteile nach der Art der Fugen. Auf die einfachen Fugen folgen die Gegenfugen, Doppelfugen, Spiegelfugen, Kanons sowie eine Quadrupelfuge.

Musikalische Merkmale

Bach verwendet in der Kunst der Fuge nicht nur die verschiedenen Fugenarten (Einfache Fuge, Gegenfuge, Doppelfuge, Spiegelfuge, Kanon) sowie deren herkömmliche Verarbeitungsformen (Umkehrung, Krebs, Vergrößerung(Augmentation) und Verkleinerung(Diminution), sondern zusätzlich weitere, allgemeinere musikalische Gestaltungsmittel. So liegen den einzelnen Fugen eine oder mehrere Kompositionideen (Überbindung, Punktierung, Triolen, intensive Chromatik, Sprungfiguren mit bevorzugten Intervallen, schnelle 16-tel Bewegung, usw.) zugrunde. Auch das Fugenthema selber ist Veränderungen unterworfen (rhythmische Umgruppierungen, eingefügte bzw. weggelassene Noten), die über die oben genannten herkömmliche Verarbeitungsformen der Fuge hinausgehen. Damit erreicht Bach eine Ausdruckvielfalt, welche der Sicht des Werkes als reines Demonstrationsobkekt kontrapunktischer Kunst entschieden widerspricht.

Das Werk beginnt mit drei einfachen 4-stimmigen Fugen, bei denen das Fugenthema selbst relativ unverändert bleibt.

Contrapunctus I : Nachdem die Gegenstimme den Tonraum von d nach a in aufsteigenden Vierteln durchschritten hat, geht sie zur Achtelbewegung über, welche im Verlauf des Stückes, in verschiedenen Stimmen, ständig präsent ist. Hauptmerkmal dieser Fuge ist das Prinzip der Überbindung (schon in Takt 4 des Themas vorgegeben) und der darauf folgenden Abstoßung. Dabei wird der überbundene Ton der ersten Stimme von dem Ton der zweiten Stimme dazu bewegt sich zu einem neuen Ton fortzubewegen, der nun erneut überbunden werden kann. Durch den Einsatz von Vorhaltsdissonanzen, wie in Takt 6-7 (das gis macht das f zur Dissonanz, und zwingt es über die Sprungnote hSzur Auflösung in das e), wird dies Verfahren noch intensiviert. Diese Technik garantiert damit ein beständiges Fließen der Stimmen.

In Contrapunctus II wird das rhythmische Element gesteigert. Er ist durch einen durchgehenden punktierten Achtelfluss gekennzeichnet, der schon in Contrapunctus I (Takt 10-14, Takt 22-29, usw.) angedeutet wurde. Zusätzlich ist das Thema hier in seinem letzten Takt leicht verändert (punktiert). Durch diese Mittel bekommt die Fuge einen sehr energischen Charakter.

Mit Contrapunctus III , der mit der Umkehrung des Themas beginnt, wird der bisher dominierende diatonische Bereich verlassen, und zum ersten Mal intensiver Gebrauch vom Gestaltungsmittel der Chromatik gemacht; einem musikalischen Mittel welches zu Bachs Zeit mit den Bereichen des Leidens und des sündigen Menschen im christlichen Sinn asoziiert wurde. Die Chromatik beginnt mit dem letzten Ton des Themas, der die Tonfolge e-f-dis-d-cis-c-h-c-d-dis-e-f-g der Gegenstimme einleitet. Die chromatisch geprägte Gegenstimme tritt in Folge bei jedem Themeneinsatz als Kontrasubjekt auf. Aber auch Stellen ohne Auftreten des Themas, wie Takt 55-56, sind von der vorherrschenden Chromatik geprägt.

Contrapunctus IV mit Themeneinsatz in der Umkehrung hat dagegen einen betont gelösten, freudigen Charakter. Dies wird durch den häufig erklingenden fallenden Terzsprung wie in Takt 54-56, die Hervorhebung von Dreiklängen (Takt 23-26) sowie eine auf die Musik der Klassik vorgreifende Periodik in Vor und Nachsatz erreicht.

Mit Contrapunctus V beginnt die Gruppe der 4-stimmigen Gegenfugen, welche dadurch gekennzeichnet ist, daß der Comes als Umkehrung des Dux auftritt. Zum ersten Mal wird das Thema einer Verwandlung unterworfen. Es wird rhythmisch verändert, indem drei Halbe-Noten des Originalthemas in punktierte Viertel verwandelt werden. Vom Tonvorrat her wird es durch die Hinzufügung zweier Noten (3. und 5. Note) erweitert. Während sich Contrapunctus V in seiner Beschränkung auf zum Teil überbundene Achtelwerte eher an Contrapunctus I anlehnt, werden in Contrapunctus VI abwechselnd Achtel, punktierte Achtel, 16-tel und 32-tel eingesetzt. In Verbindung mit dem häufigen Einsatz von Verzierungen (Triller in Takt4, Mordente in Takt 20,31,49) gibt dies der Fuge den Charakter eines langsamen barocken Tanzsatzes. Auffallend ist außerdem der "verfrühte" Einsatz des Comes schon in Takt 2, bevor der Dux beendigt ist.

Contrapunctus VII beschließt dann die Gruppe der Gegenfugen. Er ist durch den Einsatz der Vergrößerung (Augmentation) und Verkleinerung (Diminution) gekennzeichnet. So bringen der 1. und 3. Themeneinsatz das Thema in gegenüber Contrapunctus V halbierten Notenwerten. Der 4. Themeneinsatz streckt es dagegen auf das Doppelte (Notenbeispiel).

Unabgeschlossenheit

Die letzte Fuge konnte von Bach nicht mehr vollendet werden. Dort, wo die Tonfolge B-A-C-H auftritt, bricht das Manuskript eigentümlicher Weise ab. In der Handschrift von Bachs Sohn Carl Philipp Emanuel Bach findet sich hier die Anmerkung: "Über dieser Fuge, wo der Nahme BACH im Contrasubject angebracht worden, ist der Verfasser gestorben." Das kann jedoch getrost als Teil der vielfältigen Mythenbildungen über den Komponisten angesehen werden.

Johann Nikolaus Forkel notiert dazu: "Die vorletzte Fuge [gemeint ist die Nummer 20] hat 3 Themata; im dritten gibt sich der Componist namentlich durch b a c h zu erkennen. Diese Fuge wurde aber durch die Augenkrankheit des Verfassers unterbrochen, und konnte, da seine Operation unglücklich ausfiel, nicht vollendet werden. Sonst soll er Willens gewesen sein, in der allerletzten Fuge 4 Themata zu nehmen, sie in allen 4 Stimmen umzukehren und sein großes Werk damit zu beschließen.

Alle die in diesem Werke vorkommenden verschiedenen Gattungen von Fugen über einerlei Hauptsatz, haben übrigens das gemeinschaftliche Verdienst, daß alle Stimmen darin gehörig singen, und keine weniger als die andere.- Zum Ersatz des Fehlenden an der letztern Fuge ist dem Werke am Schluß der 4stimmig ausgearbeitete Choral: Wenn wir in höchsten Nöten sind etc. beigefügt worden. Bach hat ihn in seiner Blindheit, wenige Tage vor seinem Ende seinem Schwiegersohn Altnikol [recte: einem seiner Freunde] in die Feder dictiert...".

Daher kommt es, dass dieser Choral (mit dem Text:Vor deinen Thron tret' ich hiermit) als Finalstück gespielt wird und so den riesigen Torso abschließt.

Literatur