Contagious Diseases Acts
Der Contagious Disease Act bezeichnet einen britischen Parlamentserlass des 19. Jahrhunderts zur Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten. Der Erlass räumte Polizeibeamten weitgehende Rechte ein, Frauen und Mädchen, die scheinbar oder tatsächlich der Prostitution nachgingen, aufzugreifen, sie zu internieren und ihnen anzuordnen, sich einer gynäkologischen Untersuchung zu unterziehen. Der Parlamentserlass wurde 1864 verabschiedet, in den Jahren 1866 und 1869 jeweils ausgeweitet und verschärft und xx wieder abgeschafft.
Britische Frauen aller Schichten wehrten sich ab 1869 in einer Kampagne gegen diesen Erlass, der Prostituierte kriminalisierte, ihre Kunden aber unbehelligt ließ. Die von 140 Frauen unterzeichnete Petition zur Abschaffung des Contagious Disease Act zählt zu den Gründungsdokumenten des modernen Feminismus. Leitfigur der Kampagne war Josephine Butler. Der Kampf gegen den Contagious Disease Act trug wesentlich dazu bei, die britischen Frauen zu politisieren und prägte die britische Frauenwahlrechtsbewegung des 19. Jahrhunderts. Er führte außerdem zu einer breiten öffentlichen Auseinandersetzung über die Ursachen der Prostitution, die Lebensbedingungen von Prostituierten sowie der vorherrschenden sexuellen Doppelmoral. Nach vorherrschender Auffassung war Prostitution ein für Männer notwendiges und daher zu tolerierendes gesellschaftliches Übel, während die Frauen, die der Prostitution nachgingen, gesellschaftlich streng geächtet wurden.

Prostitution, Geschlechterrollenverständnis und Sexualmoral in Großbritannien
Die Ursachen, die die Verabschiedung des Contagious Disease Acts herbeiführten und die Gründe, warum sich insbesondere eine hohe Anzahl von Frauen gegen diesen Erlass stellte, liegen im damaligen Umgang mit der Prostitution, im Verständnis der weiblichen und männlichen Sexualität und der Auffassung über die jeweilige Geschlechterrolle.
Prostitution in Großbritannien in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts
Entsprechend der gesellschaftlichen Konventionen waren Prostitution und die durch sie übertragenen Geschlechtskrankheiten bis 1857 kein Thema, das in Großbritannien außerhalb medizinischer Magazine in größerer Breite diskutiert wurde. Gesellschaftlich wurde dieses Thema weitgehend ignoriert.
Prostitution war jedoch weit verbreitet. Der Londoner Chief Commissioner of Police schätzte 1841, dass es allein im innerstädtischen Bereich Londons 3.325 Bordelle gäbe. In einigen Stadtteilen galt jedes zweites Haus als „Haus von zweifelhaftem Ruf“, wie man Bordelle und Stundenhotels euphemistisch umschrieb. Manche Straßenzüge galten für eine „anständige“ Frau ab den frühen Nachmittagsstunden als nicht mehr passierbar, da dort Prostituierte offen und aggressiv um Kunden warben. Das Leben der Prostituierten war wenig glamourös – nur wenige führten ein Leben, das dem der Violetta in Verdis La Traviata glich. In der Nähe der Garnison Aldershot beispielsweise lebten Prostituierte halbnackt und verdreckt in Erdlöchern, die sie selber in die Dünen gegraben hatten. Viele litten nicht nur an Geschlechtskrankheiten wie Syphilis sondern auch an Tuberkulose.
Aufgrund vielfältiger Ursachen war die Anzahl der Prostituierten im 19. Jahrhundert stark angestiegen. Vor dem Hintergrund der Industriellen Revolution hatte eine Landflucht eingesetzt, die die Anzahl der Stadtbevölkerung hochtrieb. Damit war auch der Anteil der Stadtbevölkerung angestiegen, der nicht ausreichend bezahlte Arbeit fand, um damit den Lebensunterhalt finanzieren zu können. Besonders hart betroffen davon waren Frauen, denen nur sehr wenige und dann überwiegend schlecht bezahlte Verdienstmöglichkeiten offen standen. Zur Gruppe der Gelegenheitsprostituierten zählten beispielsweise Dienstmädchen, Modistinnen, Blumenfrauen und Wäscherinnen, die sich damit ihre mageren Gehälter aufbesserten. Für viele Frauen stellte Prostitution die einzige Möglichkeit dar, ihren Lebensunterhalt zu verdienen.
Gleichzeitig hatte sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts das Heiratsalter der Männer nach oben verschoben, da sie erst ab Mitte zwanzig ausreichend Lohn verdienten, um eine Familie zu ernähren. Für manche Berufsgruppen wie beispielsweise Soldaten und Matrosen der Marine war es nahezu unmöglich, eine Ehe einzugehen. Öffentlich hielt man dies für gerechtfertigt, da man davon ausging, dass eine Ehe ihre Kampfmoral gefährde. Da die sexuelle Doppelmoral des 19. Jahrhunderts von Frauen erwartete, dass sie als Jungfrau in die Ehe gingen, von Männern aber erwartete, dass sie vor der Ehe sexuelle Erfahrungen gesammelt haben, war der Besuch einer Prostituierten ein weitgehend gesellschaftlich tolerierter Akt. Weit verbreitet war auch die Auffassung, dass eine anständige Frau einer sexuellen Erregung nicht fähig wäre. Ein rücksichtsvoller Mann sollte daher den Geschlechtsakt nur mit äußerster Rücksichtsnahme mit seiner Frau vollziehen. Auch diese Auffassung trug dazu bei, dass verheiratete Männer außereheliches Vergnügen bei Prostituierten.
Zu den wenigen gesellschaftlichen Kreisen, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Prostitution nicht ignorierten und sich vor allem der "Rettung der Prostituierten" verschrieben, zählten verschiedene religiöse Gruppen wie beispielsweise jüdische Organisationen, die Heilsarmee, Bibelkreise und katholische Ordensleute. Auch wenn ihre religiösen Ausrichtungen unterschiedlich waren, waren sie sich alle gleichermaßen der bestehenden Doppelmoral bewusst. Im Zentrum ihrer Arbeit stand daher in der Regel nicht die "Bestrafung" von Prostituierten sondern ihre "Reformierung" oder Bekehrung zu einem besseren Leben. Das Ziel dieser religiösen Gruppen war letztlich die Durchsetzung eines für Männer und Frauen gleichermaßen geltenden Moralkodex, dessen Kern eine eheliche Liebe und Treue war. Die Frauen, die diesen Kreisen angehörten und sich um Prostituierte kümmerten, setzten sich dabei bereits über gesellschaftliche Konventionen hinweg. Während es für eine Angehörige der britischen Mittel- oder Oberschicht legitim war, sich auf dem Gebiet der sozialen Wohlfahrt zu engagieren, besaßen nach dem vorherrschenden Rollenverständnis "anständige" Frauen keine Kenntnis solcher "schmutziger" und "unziemlicher" Vorkommnisse. Benimmbücher des 19. Jahrhunderts legten britischen Frauen nahe, die Seitensprünge ihrer Ehemänner zu übersehen und sie durch ein beispielhaft moralisches Leben zu reformieren.
William Acton und sein Buch über die Prostitution
Zu einer breiteren öffentlichen Diskussion über die Prostitution kam es, nachdem 1857 William Acton - einer der führenden Mediziner seiner Zeit - ein Buch über Prostitution veröffentlichte. Auch in William Actons Buch schimmert die vorherrschende Doppelmoral seiner Zeit durch:
- Die Sünde versteckt sich nicht - sie säumt unsere Straßen, bricht in unsere Parks und Theater [..] ein, bringt den Leichtsinnigen in Versuchung und verführt den Unschuldigen. Sie dringt ein in unsere Heime, zerstört eheliches Glück und elterliche Hoffnungen. Unsere Gesellschaft ist von ihr nicht nur indirekt bedroht. Wir wissen längst, dass Prostituierte […] trotz ihrer befleckten Körper und ihres verdorbenen Gewissens irgendwann zu Ehefrauen und Müttern werden. Manche unserer gesellschaftlichen Schichten sind jeglicher Moral bereits so beraubt, dass sie auf Frauen, die von der Vermietung ihres Körpers leben, nicht herabsehen, sondern sie als nahezu gleichwertig ansehen. Es ist daher offensichtlich, dass selbst wenn wir diese Frauen als Ausgestoßene und Pariahs bezeichnen, sie das Böse in alle Schichten der Gemeinschaft hineintragen. Der moralische Schaden, den sie unserer Gesellschaft zufügen, ist unermesslich. Der physische Schaden, den wir durch sie erleiden, ist fast genauso groß. (zitiert nach Phillips, S. 74)
Actons Buch wurde in vielen Kreisen gelesen - bereits 1867 wurde die zehnte Auflage seines Werkes in Druck gegeben. Es wird heute als das ausschlaggebende Werk angesehen, dass zum Contagious Disease Act führte.
Anders als die religiösen Gruppen, die sich bislang dem Thema der Prostitution widmeten, war William Acton fest davon überzeugt, dass Prostitution nicht ausrottbar sei. In seinem Buch und seinen Vorträgen vertrat er jedoch die Ansicht, dass weitreichende Maßnahmen eingeleitet werden sollten, um die "physischen Schäden" durch Prostitution einzudämmen. Unter physischen Schäden verstand er dabei die Übertragung von Geschlechtskrankheiten. Tatsächlich war die Anzahl der Erkrankungen an Geschlechtskrankheiten im Verlauf des 19. Jahrhunderts stark angestiegen. Besonders stark betroffen davon waren die Angehörigen des Militärs: 1864 war jeder dritte Krankheitsfall innerhalb der britischen Armee auf eine Geschlechtskrankheit zurückzuführen. Trotz dieser hohen Erkrankungsrate an Geschlechtskrankheiten hatte man die Zwangsuntersuchung von Soldaten auf Geschlechtskrankheiten 1859 eingestellt, da die Soldaten sehr ablehnend auf diese intime Untersuchung reagierten. Stattdessen verfolgte man die Idee, Prostituierten zwangsweise auf Geschlechtserkrankungen zu untersuchen.
Die Verabschiedung des Contagious Disease Acts
Der erste Erlass 1864
Actons Eintreten für einen Erlass, der für Prostituierte eine zwangsweise Untersuchung auf Geschlechtskrankheiten vorschrieb, traf auf weitgehende Resonanz bei seinen Berufskollegen. Es entsprach dem Zeitgeist des 19. Jahrhunderts, ein bestehendes gesellschaftliches Problem "wissenschaftlich" lösen zu wollen. Wie Acton in einem Vortrag vor der Royal Medical Society im Jahre 1860 betonte, hatten die Philanthropen und die Kirche bei der Eindämmung der Prostitution versagt. Acton vertrat außerdem die Auffassung, dass mit der Einführung einer Zwangsuntersuchung von Prostituierten auf Geschlechtskrankheiten der Staat keineswegs ein Laster gutheißen oder gar unterstützen würde, sondern letztlich mit einem Anheben der öffentlichen Hygiene auch die die nationale Moral anheben werde. Frankreich und Belgien hatten solche Regelungen bereits durchgesetzt.
Bevor es zur Verabschiedung des Contagious Disease Acts kam, wurde vom Parlament eine Kommission eingesetzt, die sich mit den Bekämpfungsmöglichkeiten von Geschlechtskrankheiten auseinandersetzte. Vor dieser Kommission wurde auch Florence Nightingale gehört, die seit ihrem heroischen und wirkungsvollen Einsatz für die Verwundeten des Krimkriegs als erfolgreiche Reformerin des öffentlichen Gesundheitswesens galt. Sie erklärte die Zwangsuntersuchungen an Prostituierten, die in Frankreich und Belgien bereits durchgeführt wurde, für ineffektiv und widerwärtig. Eine wirksame Bekämpfungsmethode sah sie in der Einrichtung von geschlossenen Krankenstationen und der Verbesserung der hygienischen Bedingungen in solchen Krankenhäusern sowie der Lebensbedingungen in Militärgarnisonen. Sie forderte außerdem, dass nicht die Ansteckung mit einer Geschlechtskrankheit bestraft werden sollte, sondern die Verheimlichung einer Ansteckung.
Letztlich setzte sich jedoch William Actons Vorschlag durch. Ohne längere parlamentarische Debatten verabschiedete das nur aus männlichen Mitgliedern bestehende britische Parlament 1864 den Contagious Disease Act. Der Erlass fand Anwendung in einigen Hafen- und Garnisonsstädten in Großbritannien und den britischen Kolonnien. Er erlaubte Polizeibeamten, Prostituierte aufzugreifen und sie zu zwingen, sich einer gynäkologischen Untersuchung zu unterziehen. Weigerte sich eine Prostituierte, diese Untersuchung an sich vornehmen zu lassen, konnte sie nach einem entsprechenden Gerichtsverfahren zu Zwangsarbeit verurteilt werden. Stellte sich bei der gynäkologischen Untersuchung heraus, dass sie an einer Geschlechtskrankheit litt, konnte sie zwangsweise in einem Arbeitshaus festgesetzt werden, bis sie für geheilt erklärt wurde.
Die Verschärfungen des Erlasses 1866 und 1869
Der Contagious Disease Act wurde innerhalb weniger Jahre signifikant erweitert. Die erste Erweiterung von 1866 zwang die Frauen und Mädchen, die aufgrund einer beeideten Aussage eines Polizeibeamtens als Prostituierte anzusehen waren, sich dieser gynäkologischen Untersuchung alle drei Monate zu unterziehen. Diese Untersuchungen, die überwiegend mit Hilfe eines Spekulums durchgeführt wurden, fanden keineswegs in der hygienischen Abgeschiedenheit eines Arztzimmers statt. Im Hafen von Davenport konnten die Dockarbeiter durch die Fenster zusehen, wie die Frauen einer hastigen und brutalen Untersuchung ihrer Vagina unterworfen wurden. Nach wie vor fand jedoch der Contagious Disease Act nur in wenigen Städten Anwendung, allerdings wurde die Anwendung des Erlasses auf eine Zehn-Meilen-Zone rund um diese Städte ausgedehnt. Die Erweiterung von 1869 dehnte die Anwendbarkeit des Erlasses auf alle Garnisonsstädte in britischem Hoheitsgebiet aus und schränkte die Rechte der Frauen und Mädchen dabei erheblich ein. Der Erlass erlaubte es, der Prostitution verdächtige Frauen und Mädchen ohne Haftbefehl oder richterliche Anweisung für fünf Tage zu internieren, bevor sie der gynäkologischen Untersuchung unterzogen wurden. Polizeibeamte in Zivil fahndeten gezielt nach Frauen, die heimlich der Prostitution nachgingen. Wie viele Frauen, die keine Prostituierte waren, sich aufgrund von Verdächtigungen dieser Zwangsuntersuchungen unterziehen mussten, ist nicht bekannt. Überliefert ist jedoch der Fall einer Frau aus dem Jahre 1875, die ihre Anstellung verlor, nachdem sie sich einer solchen Untersuchung unterwerfen musste und die daraufhin Selbstmord beging.
Die Kampagne gegen den Contagious Disease Act
Prostituierte – Opfer oder Täter?
Der erste Erlass im Jahre 1864 und seine nachfolgenden Verschärfungen 1866 und 1869 waren von der Öffentlichkeit ignoriert weitgehend worden. Dies änderte sich grundlegend, als im Herbst 1869 diskutiert wurde, den Contagious Disease Act in ganz Großbritannien anzuwenden. Erstmals wurde die britische Öffentlichkeit auf die Möglichkeiten aufmerksam, die dieser Erlass der Polizei einräumte. Hunderttausende unterzeichneten Petitionen, die die noch weitergehende Verschärfung dieses Erlasses verhinderten.
Die Auseinandersetzung mit dem Erlass machte aber zahlreiche Frauen darauf aufmerksam, dass der Erlass sich lediglich auf die Prostituierten, nicht aber auf ihre Kunden konzentrierte. Es wären doch schließlich Männer, die Frauen wie Sklaven kaufe und verkaufe, argumentierte beispielsweise Dr. Elizabeth Blackwell, eine der erste Ärztinnen, die in Großbritannien praktizierte. Männer hielten es offensichtlich für legitim, sich ein kurzfristiges körperliches Vergnügen zu erkaufen. Sie wären aber damit diejenigen, die die Ehe unterminierten.
William Acton verteidigte den von ihm initiierten Erlass mit dem Hinweis, dass er sowohl für die Gesundheit der Prostituierten als auch für das Wohl der Gemeinschaft notwendig sei. Auch aus seiner Sicht war der Erlass nicht geeignet, die Prostitution an sich zu bekämpfen. Acton räumte daher ein, dass weitergehende Reformen notwendig seien. Dazu gehörten aus seiner Sicht unter anderem die Verbesserung von Beschäftigungsmöglichkeiten für Frauen und die Verpflichtung, dass Väter für ihren außerehelichen Nachwuchs zu sorgen hätten.
Viele Frauen, die bereits im Bereich der sozialen Wohlfahrt engagiert waren, empfanden den Contagious Disease Act als Unrecht und sahen die Notwendigkeit, gegen diesen Erlass anzugehen. Schwierig war es jedoch, eine geeignete Frau zu finden, die als Sprecherin einer solchen Kampagne geeignet war. Die Beschäftigung einer "anständigen" Frau mit dem Thema der Prostitution und Sexualität galt als unpassend und obszön. Mit Erfolg würde eine Frau nur dann diese Kampagne führen können, wenn sie über jeglichen moralischen Zweifel erhaben war. Sie musste außerdem den Mut mitbringen, sich mit einem unpopulären Thema an eine Öffentlichkeit zu wenden, die sich nicht scheuen würde, sie auch persönlich anzugreifen. Im Oktober 1869 trafen knapp siebzig Frauen in Bristol zusammen, denen alle daran lag, einen Widerruf des Contagious Disease Act zu erreichen. Keine von ihnen fühlte sich jedoch in der Lage, diese schwierige Kampagne anzuführen. Daher wendete sich im Anschluss an das Treffen eine der Teilnehmerin, die spätere Frauenwahlrechtskämpferin Elisabeth Wolstenholme per Telegramm an ihre einundvierzigjährige Bekannte Josephine Butler mit der Bitte, sich der Kampagne anzunehmen.
Josephine Butler
Josephine Butler war die Ehefrau des Erziehers und anglikanischen Priesters George Butler sowie Mutter von vier Kindern. Gemeinsam mit ihrem Mann hatte sie sich seit dem Ausbruch des Amerikanischen Bürgerkriegs 1856 auf die Seite der Union gestellt und in Großbritannien sowohl für die Unterstützung dieser Kriegspartei als auch deren geplanten Abschaffung der Sklaverei geworben. Sie besaß daher bereits Erfahrungen in der Durchführung einer politischen Kampagne. Keinerlei Erfahrung dagegen besaß sie als öffentliche Rednerin.
Mit Prostitution und den Frauen und Mädchen, die ihr nachgingen, war Josephine Butler aufgrund langjähriger ehrenamtlicher Arbeit vertraut. Unter den mittellosen Prostituierten, die im Arbeitshaus einsaßen sowie denen, die in den Docks auf Kunden warteten, hatte sie für ein religiöseres Leben missioniert. Um über den Unfalltod einer ihrer Töchter hinwegzukommen, gründete sie selber ein Heim, in dem Prostituierte Aufnahme fanden. Zumindest von zwei an Tuberkulose sterbenden Prostituierten ist bekannt, dass Josephine Butler sie in ihrem eigenen Heim pflegte, bis diese an ihrer Krankheit verstarben. Aus Butlers Sicht waren Prostituierte Opfer ihrer Lebensumstände.
Josephine Butler besaß nicht nur große Vertrautheit mit den Lebensumständen von Prostituierten. Sie war außerdem eine charismatische, mutige und willensstarke Frau mit großer Ausstrahlung. Ihr Ehepartner George Butler unterstützte sie in ihrer Entscheidung, sich im Kampf gegen diesen Erlass zu engagieren, obwohl ihr Engagement sich sowohl auf seinen Ruf als auch auf seine berufliche Karriere negativ auswirken würde.
Die "Kreischende Schwesternschaft"
Am 1. Jahrestag 1870 erschien die Petition, die dazu aufforderte, den Contagious Disease Act vollständig zu widerrufen. Von den Petitionen, die im Sommer und Herbst 1869 die weitere Verschärfung des Contagious Disease Act verhinderte, unterschied sich diese in ihrer klaren und expliziten Sprache. In dem Manifest begründeten die Unterzeichnerinnen, dass der Contagious Disease Act die Reputation, Freiheit und die körperliche Unversehrtheit von Frauen der Willkür der Polizei aussetze. Es sei Unrecht, das Geschlecht unbestraft zu lassen, dessen Lüsternheit die Prostitution begründe, dafür aber Frauen zu inhaftieren, sie einer Zwangsuntersuchung zu unterziehen und wenn sie sich widersetzten, zu Zwangsarbeit zu verurteilen. Für Männer sei der Contagious Disease Act ein Mittel, ihr lasterhaftes Leben sicherer und leichter zu machen, während er Frauen nur demütige. Der Erlass würde die Anzahl der Geschlechtserkrankungen nicht verringen, denn deren Ursachen seien wenig physisch als moralisch. Zu den 140 Frauen, die diese Petition unterzeichneten, gehörte neben Josephine Butler unter anderem Florence Nightingale, die Philosophin Harriet Martineau, die Sozialreformerin Mary Carpenter und die Suffragette Lydia Becker.
Die Petition provozierte einen Skandal, da sich noch nie zuvor respektable Frauen öffentlich in derart klarer Sprache zu einem solchen Thema geäußert hatten. Die britische Zeitung "Saturday Review" karikierte die unterzeichnenden Frauen als "shrieking sisterhood", als "kreischende Schwesternschaft". Und der Verleger John Morley warnte in seiner eigentlich liberalen Zeitung "Fortnightly Review", dass die Petition all denen, die den Ausschluss von Frauen aus dem politischen Leben befürworteten, willkommener Beweis sei, dass Frauen zu einer politischen Debatte nicht in der Lage seien.
Die Ladies’ National Organisation
Der Skandal, den die Petition hervorrief, sorgte dafür, dass sich erstmals viele britische Frauen mit den weitergehenden Implikationen des Contagious Disease Acts auseinandersetzten. Die 140 Unterzeichnerinnen der Petition gründeten die Ladies’ National Organisation (LNA), die innerhalb weniger Monate in allen größeren Städten Großbritanniens Zweigniederlassungen besaß. Unterstützung fand die Organisation auch bei vielen Männern. Im Norden Großbritanniens gründete der Arzt Hoopell die Zeitung "The shield", die zum Sprachrohr des Widerstands gegen den Erlass wurde. Aus Paris schrieb der französische Autor Victor Hugo und ermutigte die Frauen, weiterhin gegen den Erlass vorzugehen.
Zu den Forderungen der LNA unter Leitung von Josephine Butler gehörte weit mehr als nur der vollständige Widerruf des Contagious Disease Acts. Mangelhafte Ausbildung und unzureichende Beschäftigungsmöglichkeiten wären eine der Ursachen, die Frauen zur Prostitution zwänge, argumentierte Butler. Die beengten Wohnverhältnisse in den Slums der britischen Städte würden außerdem dazu beitragen, dass Frauen sehr früh sexuelle Erfahrungen sammelten. Zur Bekämpfung der Prostitution gehöre daher die Verbesserung der Lebensbedingungen sowie eine Änderung der Vaterschaftsgesetze. Regelungen zur Bekämpfung der Straßenprostitution sollten auf Prostituierte wie ihre Kunden gleichermaßen Anwendung finden.
Die Taktik des LNA
Josephine Butler führte eine stark emotionale Kampagne gegen den Contagious Disease Act. Die Verwendung des Spekulums bei der Untersuchung der Prostituierten verglich sie mit einer Vergewaltigung und behauptete in öffentlichen Reden, dass sie eher sterben würde, als einem Mann zu gestatten, sie mit einem solchen Instrument zu untersuchen.
In ihren Reden und Schriften nahm sie häufig Bezug auf ihre Arbeit mit Prostituierten: Sie erschütterte ihre Zuhörer- und Leserschaft beispielsweise mit Schilderungen einer Mutter, die verzweifelt am Totenbett ihrer Tochter den Namen des angesehenen Parlamentsmitglied schrie, der als erster das junge Mädchen verführt habe oder sie konfrontierte ihr Publikum mit den trostlosen Lebensberichten von Prostituierten. Einer ihrer Zeitgenossen beklagte sich, dass Butlers Kampagne ihn schon bei der Morgenlektüre seiner Zeitung zwinge, sich mit ausgesprochen unziemlichen Themen auseinanderzusetzen und dass es für ihn wenig Möglichkeiten gäbe zu verhindern, dass sowohl seine Frau als auch seine Tochter von diesen Themen Kenntnis nehme.
Das ungewöhnliche Spektakel einer angesehenen Frau, die öffentlich bereit war, zu solchen Themen Stellung zu nehmen, zog eine große Zuhörerschaft an.
Die Kampf gegen den Contagious Disease Act und die britische Frauenwahlrechtsbewegung
Der Widerstand gegen den Erlass prägte die Zeit nach 1890, als der Kampf britischer Frauen um das Wahlrecht intensiver wurde. Emmeline Pankhurst, die spätere Leitfigur der Suffragetten, adaptierte viele der Taktiken, die Josephine Butlers erfolgreich in ihrem Widerstand gegen den Erlass eingesetzt hatte. Nach Einschätzung der Autorin Philipps, die sich in ihrem Buch "The Ascent of Women" ausführlich mit der britischen Frauenrechtsbewegung auseinandergesetzt hat, schuf diese Kampagne erst die Basis einer von vielen Frauen unterstützten Wahlrechtsbewegung:
- [In den sechzehn Jahren, bis der Erlass widerrufen wurde] ..veränderte diese Kampagne die politische Landschaft. Mit der Kampagne wurden soziale und sexuelle Konventionen hinterfragt, die nie zuvor öffentlich diskutiert wurden. Die Kampagne radikalisierte zahlreiche Frauen, härtete sie ab gegenüber öffentlichen Angriffen und Verleumdungen und schuf eine Infrastruktur des politischen Protests. (Philipps, S. 86)
Während der Zeit des Kampfes der LNA gegen den Erlass war dieser Widerstand unter den Gruppen, die sich vor allem für das Wahlrecht von Frauen einsetzten, nicht unumstritten. Vielen Befürwortern des Frauenwahlrechts galt er als zu heikel und zu umstritten und potentiell schädlich. Um dem Kampf um das Wahlrecht für Frauen nicht zu schaden, gab es durchaus Bemühungen, die Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Gruppen möglichst gering zu halten.
Literatur
- Melanie Phillips; The Ascent of Woman - A History of the Suffragette Movement and the ideas behind it, Time Warner Book Group London, 2003, ISBN 0-349-11660-1