Fiqh

islamische Rechtswissenschaft der Scharia nach Koran und Hadith
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Fiqh (arabisch فقه, ling.: „die Erkenntnis, das Verstehen, Einsicht haben in etwas“) ist die islamische Rechtswissenschaft, d. h. die Summe der Gesetze, die dem Koran und der Sunna entnommen oder aus ihnen abgeleitet werden. Oder sie beruhen, falls sie weder im Koran noch in der Sunna oder im Idschma der Gelehrten belegbar sind, auf den Ansichten der Rechtsgelehrten (Fuqahāʾ). Somit ist Fiqh die Wissenschaft über die Rechtsvorschriften (al-ahkām asch-scharʿiyya) im islamischen Rechtssystem Schari'a. [1]

Geschichte

In der präislamischen Stammeskultur wandte man sich zur Schlichtung von Rechtsstreitigkeiten an einen von allen Parteien anerkannten hakam, der für seine besondere Weisheit bekannt war. Dieser besaß keinerlei Exekutivgewalt, um ein Urteil zu vollstrecken, daher forderte er von den Kontrahenten meist vorab, dass sie einen Eid leisteten und als Sicherheit Güter aus eigenem Besitz einem neutralen Dritten übertrugen.

Nach der Hidschra Mohammeds und seiner Anhänger nach Medina übernahm Mohammed die Rolle eines solchen hakam für die Muslime. Nach seinem Selbstverständnis, wie es im Koran belegt ist, galt er für seine Anhänger als Vorbild [2]:

„Im Gesandten Gottes habt ihr doch ein schönes Beispiel...“

Sure 33, Vers 21: Übersetzung: Rudi Paret

Auch die ersten so genannten "rechtgeleiteten" Kalifen amtierten als Schiedsrichter für die muslimische Gemeinde. Erst die Umayyaden-Kalifen setzten Richter (sogenannte qadi) ein, die in ihren Entscheidungen relativ frei waren, das heißt, sie fällten ihre Urteile nach ra'y („Gutdünken“, „Meinung“), wobei sie Rekurs auf den Koran, die Tradition und örtliches Gewohnheitsrecht (`urf) nahmen.

Die ersten Rechtsschulen (Madhhab) im Islam entstanden in Kufa und Basra im Irak und in Medina bzw. Mekka, die sich voneinader nicht nur im lokalen Gewohnheitsrecht unterschieden, sondern auch in der Auslegung des überlieferten Hadithmaterials als Sunna des Propheten Mohammed.

Die Wurzeln der Rechtswissenschaft

Die islamische Rechtsordnung, die sich aus der Schari'a ergibt, basiert nicht allein auf dem Koran. Alle vier sunnitischen Rechtsschulen kennen vier „Wurzeln der Rechtswissenschaft“ usul al-fiqh / أصول الفقه / uṣūlu ʾl-fiqh, die seit der Systematisierung des islamischen Rechts - spätestens seit asch-Schafii - als Quellen der Jurisprudenz gelten.

  • Der Koran (القرآن) ist für Muslime das unmittelbare Wort Gottes und die erste Rechtsquelle, die sowohl Normen als auch bestimmte Prinzipien (maqasid) beinhaltet. Etwa 500 Verse (ca. 8 %) aus dem Koran haben juristischen Bezug.
  • Die Sunna (sunna / سنة / sunna / ‚eig. Brauch, Gewohnheit, Handlungsweise‘) ist die Summe der überlieferten Äußerungen und Handlungen des Religionsstifters Mohammed und stellt das umfassende Material der islamischen Jurisprudenz dar. Die Sunna wird in Hadithen überliefert, die schon früh schriftlich festgehalten oder mündlich überliefert wurden. Eine mit zeitlichem Abstand zum Tode Mohammeds eskalierende „Hadith-Inflation“ führte im 9. Jahrhundert zur Auswahl der so genannten „authentischen“ Hadithe in den „Sechs Büchern“ (al-kutub as-sitta / الكتب الستة), von denen zwei (Buchari und Muslim) besonderes Ansehen genießen. In der Sunna als Quelle der Jurisprudenz wird Mohammed also nicht nur als Prophet – wie im Koran mehrfach bestätigt – sondern als Gesetzgeber, als legislative und exekutive Macht dargestellt.
  • Die dritte Wurzel der Jurisprudenz ist das Prinzip des Idschma إجماع / iǧmāʿ / ‚Konsensus‘, d.h. die Übereinstimmung der Rechtsgelehrten in einer Rechtsfrage. Hierbei unterscheidet man drei Arten von Konsensus: Konsensus durch ausdrückliche Aussage idschma' al-qaul / إجماع القول / iǧmāʿu ʾl-qaul, den Konsensus durch die allgemeine Praxis idschma' al-fi'l / إجماع الفعل / iǧmāʿu ʾl-fiʿl und den Konsensus durch stillschweigende Billigung idschma' as-sukut / إجماع السكوت / iǧmāʿ ʾs-sukūt. Viele Vorschriften der Pflichtenlehre konnten weder im Koran noch in der Sunna belegt werden. Aber selbst die beiden Hauptquellen des Rechts – Koran und Sunna – hat die Rechtslehre kontrovers interpretieren können, was zwangsläufig zu Meinungsverschiedenheiten über den wahren Sinn der Offenbarung und der überlieferten Sunna führen musste. Uneingeschränkter Konsensus idschma' mutlaq / إجماع مطلق / iǧmāʿ muṭlaq herrschte unter den Gelehrten nur in grundsätzlichen Fragen der rituellen Verpflichtungen wie die Pflicht wadschib / واجب / wāǧib / ‚Pflicht‘ zum Gebet, zum Fasten u.a. Einen breiten Raum in der Jurisprudenz in Werken des usul al-fiqh nimmt der durch einen Zusatz eingeschränkte Konsenus idschma' mudaf / إجماع مضاف / iǧmāʿ muḍāf ein; man spricht vom Konsensus der Gelehrten von Mekka und Medina, von dem der „rechtgeleiteten“ Kalifen, vom idschma' „der beiden Städte“ (d. h. Kufa und Basra). Die Legitimität des idschma als Rechtsquelle beruht auf dem Grundgedanken, dass der Konsensus der Gelehrten niemals im Widerspruch zum Koran und zur Sunna stehen kann.

Es ist das Verdienst von asch-Schafi'i, das Prinzip des Konsensus als die drittwichtigste Quelle der islamischen Rechtswissenschaft in der Rechtslehre etabliert zu haben.[3]

  • Der Analogieschluss (al-qiyas / القياس / al-qiyās) ist seit asch-Schafii († 820) die vierte anerkannte Quelle des Rechts. Im Entwicklungsprozess der Jurisprudenz im 8. und frühen 9. Jahrhundert konnten nicht alle Rechtsfälle oder Teilaspekte der kultischen Handlungen anhand der drei oben genannten Quellen zufriedenstellend gelöst werden. Es wurde notwendig, vorliegende Rechtsvorschriften, die man aus den ersten drei Quellen abgeleitet hatte, durch Analogie auf neue Fälle zu übertragen. Es erlaubt die Übertragung der Ergebnisse eines Falles auf einen ähnlich gelagerten. Ein Beispiel ist das Weinverbot des Koran (Sure 5, Vers 90f.), das strenge Juristen im Analogieschluss auf alle berauschenden Mittel ausdehnen, während man im Volk, beispielsweise in der Türkei, zuweilen keinen Zusammenhang zwischen Wein und anderen Alkoholika erkennen mag; eine Position, die allerdings von keinem Rechtsgelehrten in der Türkei oder sonstwo unterstützt wird.

Daneben gibt es eine Reihe weiterer Rechtsquellen, die heute nicht mehr oder nur noch eingeschränkt verwendet werden:

  • Das Gewohnheitsrecht (urf / عرف oder āda / عادة). Vorislamische Rechtspraktiken wurden, vor allem in der islamischen Expansionsphase, in großem Umfang in die Schari'a übernommen und durch den idschma legitimiert. Das medinensische Gewohnheitsrecht spielte hier eine große Rolle, aber auch Verwaltungspraktiken und Gesetze der eroberten Gebiete.
  • Die „Entscheidung nach eigenem Gutdünken“ (ra'y / رأى) des Juristen - dort, wo weder Koran noch Sunna einen Anhaltspunkt boten - stand schon früh in der Kritik und ist heute nicht mehr statthaft. Allerdings lebt der ra'y insofern in abgeschwächter Form im qiyas fort, als es im Ermessen des Juristen liegt, welche Präzedenzfälle er als analog betrachtet.
  • Der Idschtihad (اجتهاد), die selbstständige Interpretation der Rechtsquellen, wurde im orthodoxen Islam durch den Einfluss des Konsenses immer weiter zurückgedrängt. Im Zuge der Konsolidierung der Rechtsschulen bildete sich eine Doktrin heraus, nach der das „Tor des Idschtihad“ mit der Entstehung eben dieser Rechtsschulen um das Jahr 300 nach der Hidschra geschlossen worden sei. Allerdings weisen einige Orientalisten darauf hin, dass auch in den sunnitischen Rechtsschulen der Idschtihad bis in das 16. christliche Jahrhundert hinein übliche Rechtsfindungspraxis war.[4] In jüngerer Zeit wurde auf Seiten von Reformbewegungen (z. B. der Salafiya, aber auch – allerdings mit entgegengesetzten Zielen – von liberalen, säkularen Muslimen wie Irshad Manji) die Wiedereinführung des Idschtihad gefordert bzw. seine Ausübung regelrecht in Anspruch genommen.

Rechtsschulen

Infolge dieser Ereignisse etablierten sich in der abbasidischen Frühzeit die vier, auf den unten genannten Prinzipien beruhenden sunnitischen Rechtsschulen (madhahib).

Darüber hinaus gibt es eigene Rechtsschulen der Schiiten und der Charidschiten. Die letzte in ihrer aktuellen ibaditischen Form wird auch von den vier obigen als gültige fünfte Schule anerkannt.

Die praktischen Anwendungen des islamischen Rechts nennt man furu' al-fiqh („Die Zweige des Rechts“), die auf Sammlungen von Fällen und Entscheidungen beruhen. Jeder Rechtsgelehrte ('alim) kann in Zweifelsfällen Rechtsgutachten, eine so genannte fatwa, erstellen. Zur Entscheidungsfindung betreibt er dabei idschtihad („Anstrengung“), das heißt, er versucht in der Anfangszeit durch selbstständige Interpretation der Rechtsquellen und anhand der zulässigen Methoden herauszufinden, wie ein bisher noch nie dagewesener Fall zu entscheiden sei. Derjenige, der die Fatwa beantragt hat, ist dann an sie gebunden; das islamische Recht schließt jedoch den Fall nicht aus, dass zwei Rechtsgelehrte zu unterschiedlichen oder auch völlig gegensätzlichen Entscheidungen gelangen.

Mit dem Todesurteil des iranischen Revolutionsführers Ayatollah Khomeini gegen den Schriftsteller Salman Rushdie ist das Wort Fatwa im Abendland in Verruf geraten. Obwohl sich auch zahlreiche moderne Fatwas mit Fragen der Politik auseinandersetzen, enthält die Mehrzahl praktische Handlungsanweisungen für den Alltag der Muslime. Fatwas beantworten beispielsweise knifflige Fragen wie „Wann darf ich in Zonen, wo die Sonne nicht untergeht, im Ramadan das Fasten brechen?“ und nehmen Stellung zu Problemen der Sexualität („Ist Cunnilingus erlaubt?“) oder der Abtreibung.

Immer gab es die Möglichkeit, durch „Rechtskniffe“ bestimmte Vorschriften zu umgehen, wie man das auch in der jüdischen Halacha schon lange praktiziert. So kann beispielsweise das Zinsverbot umgangen werden, indem derjenige, der Kapital bei einer Bank einzahlt, keine Zinsen bekommt, sondern Anteile erwirbt und dann sozusagen Dividenden bekommt, also Teile am gemeinsam erwirtschafteten Gewinn, was erlaubt ist. So entstand ein eigenes islamisches Bankensystem, das auf diesem Wege nicht gegen die Scharî'a verstößt.

Tore des Idschtihad

Irgendwann im elften oder zwölften Jahrhundert christlicher Zeitrechnung beziehungsweise im vierten oder fünften Jahrhundert islamischer Zeitrechnung erklärten immer mehr islamische Rechtsgelehrte die „Tore des Idschtihad“ für geschlossen, was dann auch zum allgemeinen Konsens wurde und unangefochten bis ins 19. Jahrhundert so blieb. Grund für die „Schließung der Tore des Idschtihad“ (انسداد باب الاجتهاد, insidad bab al-Idschtihad) war die Tatsache, dass eigentlich jeder gewöhnliche Muslim prinzipiell eine Fatwa ausstellen kann, was in der Praxis zu ständiger Unsicherheit über Rechtsfragen führen kann, da es im sunnitischen Islam nicht so etwas wie einen fest abgegrenzten Klerus gibt, der das alleinige Recht zur Ausstellung einer Fatwa hat, sondern nur die relativ unklar abgegrenzte Gruppe der Rechtsgelehrten (Ulama). Einige Gelehrte der damaligen Zeit (Al-Ghazali, Al-Amidi) kämpften, vielleicht in weiser Voraussicht, vehement gegen diese Erstarrung, unterlagen aber letztendlich doch. Seitdem gab und gibt es immer wieder Versuche Einzelner oder bestimmter Gruppen, die „Tore des Idschtihad“ wieder zu öffnen, oder sie wurden sogar tatsächlich von einigen in der Praxis geöffnet, was aber weder der fundamentalistische noch der konservative Islam bisher anerkannt haben.

In allerneuester Zeit, vor allem seit sich die westliche Welt intensiver mit dem Islam und der Scharî'a befasst, wird sogar behauptet, die „Tore des Idschtihad“ seien nie geschlossen gewesen, es sei ein Mythos, um den Islam als rückständig zu diffamieren. Studiert man ältere Schriften, so wird das „Schließen der Tore des Idschtihad“ zwar oft kontrovers diskutiert und oft eine Wiedereröffnung vorgeschlagen oder gar praktiziert, das Faktum, dass die „Tore des Idschtihad“ aber mindestens 600 wenn nicht gar 800 Jahre geschlossen waren, wird in diesen Schriften jedoch nie bestritten.

Schiitische Sicht

Alles oben Gesagte gilt eigentlich nur für den sunnitischen Islam. Der schiitische Islam kennt einen Klerus (Ayatollahs und andere) und hat auch nie die „Tore des Idschtihad“ prinzipiell geschlossen. Deshalb ist eine Fatwa von Ayatollah Khomeini gewichtiger als die eines nicht in ein hierarchische System eingebundenen sunnitischen Mufti, gerade weil jener vom Staat eingesetzt und entlohnt wird. Daher hatte die Fatwa von Ayatollah Khomeinei, in der er zur Tötung von Salman Rushdie aufrief, auch eine so große Wirkung, obwohl sie eigentlich nicht für Sunniten gilt.

Zum sich davon teilweise unterscheidenden schiitischen Recht, das nicht die oben beschriebene Erstarrungsphase kannte, siehe: Dschafariten.

Zu den Charidschiten – beziehungsweise den aus ihnen hervorgegangenen andersgearteten Ibaditen mit ihren eigenen Rechtstraditionen – siehe unter dem gleichnamigen Artikel: Ibaditen.

Bedeutende Rechtsgelehrte

Einzelnachweise

  1. al-mausūʿa al-fiqhiyya. 1. Auflage. Kuwait 1995. Bd. 32, S. 193.
  2. al-mausūʿa al-fiqhiyya. 1. Auflage. Kuwait 1995. Bd. 32, S. 189.
  3. Miklos Muranyi: Fiqh. S. 306-307. In: Helmut Gätje: Grundriß der Arabischen Philologie. Bd. II. Literaturwissenschaft. Wiesbaden 1987
  4. Malise Ruthven: Der Islam. Eine kurze Einführung. Stuttgart 2000, S. 116

Literatur

  • G. Bergsträsser: Grundzüge des islamischen Rechts. Berlin 1935
  • J. Schacht: The Origines of Muhammadan Jurisprudence. Oxford 1950
  • A. A. Fyzee: Outlines of Muhammadan Law. London 1955
  • J. Schacht: An Introduction to Islamic Law. Oxford 1964
  • O. Spies, E. Pritsch: Klassisches islamisches Recht. In: Handbuch der Orientalistik. 1. Abt., Erg.Bd. 3: Orientalisches Recht. Leiden/Köln 1964, S. 237-343
  • Yasin Dutton: The Origins of Islamic Law. The Qur'an, the Muwatta' and Madinan 'Amal 2. Auflage. Curzon, Richmond 2002, ISBN 0-7007-1669-6