Die Wissenschaftstheorie ist ein Bereich der Philosophie, der sich mit der Wissenschaft und ihrer Form der Erkenntnisgewinnung beschäftigt. Wesentlich bei der näheren Bestimmung einer Wissenschaft ist die Frage nach ihrem Gegenstand, dem Materialobjekt, sowie nach ihrer methodischen Vorgangsweise, dem Formalobjekt.
Kernfragen
- Welche Charakteristika weist wissenschaftliche Erkenntnis auf (z.B. Vorhersage von expermimentellen Ergebnissen)?
- Was zeichnet wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn aus (Methodologie)?
- Gibt es wissenschaftlichen Fortschritt?
- Welchen erkenntnistheoretischen Status haben wissenschaftliche Theorien und die von ihnen postulierten Entitäten?
Wissenschaftstheorien
(in ungeordneter Reihenfolge)
Die in den Wissenschaften vermutlich populärste Position ist die des Kritischen Rationalismus, die von Karl Popper entwickelt und insbesondere von Imre Lakatos ausgebaut wurde. Dem Falsifikationismus zufolge ist das Ziel der Wissenschaft nicht die Verifikation (wie der naive Realist behaupten würde), sondern die Falsifikation von Hypothesen durch Experimente bzw. Beobachtungen. Hypothesen und Theorien gelten solange als wahr, bis sie widerlegt werden. Imre Lakatos verwarf die Auffassung des "naiven" Falsifikationismus, nach der Theorien ganz aufgegeben werden müssen, wenn sie falsifiziert, d. h. von experimentellen oder empirischen Resultaten widerlegt werden. Vielmehr werden bei Falsifikationen in der Regel immer bewusste oder auch unbewusste Grundüberzeugungen, welche den Kern eines sogenannten Forschungsprogrammes bilden, beibehalten, und nur die über diesen Kern hinausgehenden Zusatzanahmen werden modifiziert. Die Grundüberzeugungen, welche den Kern eines Forschungsprogramms ausmachen, können nach Lakatos erst aufgeben werden, wenn ein besseres, alternatives Forschungsprogramm vorhanden sei.
Hauptvertreter: Hilary Putnam, Richard Boyd, Ernan McMullin, Stathis Psillos
Der Wissenschaftliche Realismus lässt sich auf zwei Hauptaussagen bringen:
- Die Begriffe einer wissenschaftliche Theorie referieren auf reale Entitäten.
- Die Geschichte der Wissenschaften ist als eine Annäherung an die Wahrheit zu verstehen.
Hauptvertreter: Paul Feyerabend, Thomas S. Kuhn
Zentral für Thomas Kuhn ist der Inkommensurabilitätsbegriff. Wissenschaftliche Paradigmen sind inkommensurabel, also unvergleichbar; von Wahrheit kann man deswegen immer nur unter Bezugnahme auf ein bestimmtes Paradigma sprechen.
Paul Feyerabend rief mit seinem Anything goes! die Anarchie in der Wissenschaft wider den Methodenzwang aus (so die deutsche Übersetzung seines Werkes Anything goes!).
Sowohl Thomas Kuhn, als auch Paul Feyerabend waren der Meinung, Beobachtungen seien grundsätzlich "Theorie-beladen" ('theory-laden').
Hauptvertreter: Bas van Fraassen
Vertreter des Konstruktiven Empirismus sind agnostisch gegenüber theoretischen Begriffen einer Theorie (Atom, Gen o.ä.). Alles woran ein Konstruktiver Empirist glaubt, sind Beobachtungen, die sich mit dem bloßen Auge (mitunter unter Zuhilfenahme von Instrumenten) bewerkstelligen lassen. Der Empirismus schickt sich an, das Ziel der Wissenschaft zu erklären. Dieses ist nach Meinung der konstruktiven Empiristen empirische Adäquatheit.
Hauptvertreter: Henri Poincaré, Ernst Mach
Ernst Mach war der Meinung, dass Theorien nur eine Art Mnemotechnik sind, die Beobachtungen einfacher und weniger umständlich zugängig machen.
Hauptvertreter: John Worrall
Dem Strukturellen Realismus zufolge ist Wissenschaft nicht in der Lage den Inhalt der Realität zu erkennen. Wissenschaft beschreibt vielmehr die Struktur der Realität. Den Beweis, den Worrall in seinem aufsehenerregenden paper "Structural Realism" vorlegt, basiert auf der Kontinuität von mathematischen Gleichungen, die Fresnel durch Theoretisierungen über den Licht-tragenden Äther gewann, hin zu den Maxwellschen Gleichungen, die die Eigenschaften von elektromagnetischen Feldern beschreiben. Der Äther wurde verworfen, aber die Gleichungen sind noch heute von Gültigkeit.
Hauptvertreter: Ian Hacking, Nancy Cartwright
Der "Entitätsrealist" glaubt nicht an die von der Theorie postulierten Entitäten, sondern nur an solche, die beim Experimentieren eine Rolle spielen. Eine Entität ist real, wenn durch deren Manipulierung neue Phänomene produziert werden können.
Hauptvertreter: Bruno Latour, Karin Knorr-Cetina
Sozialkonstruktivisten behaupten, dass auch scheinbar objektive naturwissenschaftliche Tatsachen tatsächlich das Ergebnis von Prozessen der sozialen Konstruktion, und abhängig von der sozialen Situation des Labors, der Forschungseinrichtung etc. sind.
Weitere Theorien
Theorie und Evidenz
- Die Duhem-Quine-These besagt, dass eine Theorie immer als Ganzes und nicht bloß einzelne Aussagen der Theorie bestätigt bzw. falsifiziert wird.
- Norwood Russel Hanson und Thomas Kuhn waren der Ansicht, Beobachtungen seien grundsätzlich "Theorie-beladen" ('theory-laden'). Fakten sind in diesem Sinne niemals 'nackt'.
- Thomas Kuhn war der Meinung, dass Theorien, die um die Paradigmavorherrschaft streiten, nicht aufgrund von Evidenz ausgewählt werden können. (siehe Unterdeterminierung)
- Francis Bacon prägte den Begriff des Experimentum Crucis, das ein-eindeutig über die Wahrheit der einen oder der anderen Hypothese entscheidet. Diese Idee wird in der heutigen Wissenschaftstheorie angezweifelt.
Erklärungsmodelle
Das bekannteste Modell für wissenschaftliche Erklärungen ist das sog. Deduktiv-nomologische Erklärungsmodell von Carl Gustav Hempel.
Eine weitere, aktuell diskutierte, Erklärungsart ist die sog. Inferenz zur besten Erklärung, kurz IBE (oder auch Abduktion).
context of discovery und context of justification
Der Neopositivist Hans Reichenbach führte diese Unterscheidung 1938 ein. Reichenbach zufolge braucht der Wissenschaftsphilosoph bei der rationalen Rekonstruktion und der Erklärung von Wissenschaft singuläre und subjektive Einflüsse, denen ein Forscher ausgesetzt ist, nicht zu berücksichtigen. Alles, worauf es ankommt, ist, wie der Wissenschaftler seine Behauptungen - normalerweise in der Form von mathematischen Gleichungen und mittels Logik - rechtfertigt.
Diese Unterscheidung läuft in letzter Konsequenz auf einen Ausschluss wissenschaftsgeschichtlicher Geschehnisse von wissenschaftsphilosophischen Theoretisierens hinaus und wurde von Thomas Kuhn in seinem Buch The Structure of Scientific Revolutions angefechtet, das als erfolgreiche Synthese der beiden "Kontexte" angesehen werden kann.
Zwei Sichtweisen in Bezug auf Theorie und Modell
In der Wissenschaftstheorie sind zwei Vorstellungen von Modellen geläufig:
- Syntaktische Sicht bzw. logiko-linguistische Sicht (assoziiert mit Alfred Tarski und Rudolf Carnap)
- Theorien sind axiomatisch-deduktive Systeme bestehend aus Symbolen und Regeln. Modelle haben lediglich pädagogische Funktion.
- Semantische Sicht bzw. modell-theoretische Sicht (assoziiert mit Patrick Suppes)
- Theorien werden als Mengen von Modellen definiert. Modelle sind grundsätzlich nicht-linguistische Entitäten und werden als Realisierungen von Theorien gemäß von Modellen in der Mathematischen Logik verstanden.
Modellkonstruktion und Analogien
Modelle werden oft durch einen Analogieschluss mit anderen Systemen konstruiert. Mary Hesse unterscheidet zwischen positiven, negativen und neutralen Analogien. Aspekte zwischen Modell und System sind ähnlich (positiv), verschieden (negativ), oder nicht determinierbar (neutral). Neutrale Analogien motivieren weitere Untersuchungen der Eigenschaften des realen Systems, das durch das Modell repräsentiert werden soll.
Geschichte der Wissenschaftstheorie
Die erste Wissenschaftstheorie liefert Aristoteles mit seiner Schrift Analytica Posteriora. Er unterteilte die Wissenschaft in drei Bereiche:
- Die theoretische Wissenschaft betrachtet das, was unabhängig vom Menschen ist und keinen äußeren Zweck außer der Erkenntnis selbst besitzt. In sie fällt vor allem die Physik und die Metaphysik.
- Die praktische Wissenschaft thematisiert das, was im Bereich der menschlichen Handlungen liegt, was aber nichts außer der Handlung selbst hervorbringt. Hierein fällt vor allem Aristoteles' Ethik und die Politik.
- Die poietische Wissenschaft untersucht das, was im Bereich der menschlichen Tätigkeiten liegt und hierbei ein Objekt hervorbringt.
Literatur
Einführungswerke
- Alan F. Chalmers: Wege der Wissenschaft. Einführung in die Wissenschaftstheorie, 5. Auflage, Berlin u.a. 2001
- Giere, R., Explaining Science. A cognitive approach., Chicago : University of Chicago Press, 1988.
- Nagel, Ernest, The Structure of Science, New York: Brace & World, 1961.
- Wilhelm K. Essler, Joachim Labude, Stefanie Ucsnay: Theorie und Erfahrung. Eine Einführung in die Wissenschaftstheorie. Alber, Freiburg 2000. ISBN 3-495-47972-4
- Seiffert, Helmut; Radnitzky, Gerard (Hrsg.) (1992): Handlexikon zur Wissenschaftstheorie. 2. unv. Aufl. (Orig. 1989), Berlin: dtv, ISBN 3-423-04586-8
Standardwerke der Primärliteratur
- Paul Feyerabend: Wider den Methodenzwang ISBN 3518281976
- Thomas S. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen ISBN 3-518-27625-5
- Karl R. Popper: Logik der Forschung ISBN 3161462343
- Carl Gustav Hempel, Philosophy of natural science, Englewood Cliffs, N.J. : Prentice-Hall, [1966].
- Percy Bridgman, The nature of physical theory, New York : Dover, 1936.
- Mary Hesse, Models and analogies in science, Notre Dame, Indiana : University of Notre Dame Press, 1966.
- Suppe, Frederick, The structure of scientific theories, London : University of Illinois Press, 1974.
- Pierre Duhem, La theórie physique: son objet, sa structure. Riviere,1914.
- Imre LakatosThe Methodology of Scientific Research Programmes: Philosophical Papers Volume 1., Cambridge University Press, Cambridge 1977.
- Stathis Psillos, Scientific Realism. How Science tracks truth, London : Routledge, 1999.