Die Kafka-Konferenz von 1963, eine internationale Tagung des tschechoslowakischen Schriftstellerverbandes, ging später in die Geschichte ein als ein der wichtigen Impulse des Demokratisierungsprozesses, der zum Prager Frühling von 1968 führte. Die Tagung auf Schloss Liblice beschäftigte sich mit der Wirkung des damals im Ostblock noch weitgehend verbotenen Schriftstellers Franz Kafka und mit dem Phänomen der Entfremdung.

Verlauf der Konferenz
Das Werk Franz Kafkas mit seinen alptraumhaften hierarchisch-bürokratischen Machtsystemen war in den vom Stalinismus beherrschten Staaten Osteuropas nach 1945 zunächst lange Zeit verfemt, während es in Westeuropa und den USA rasch hohe Geltung gewann. In der Sowjetunion und der DDR behauptete sich diese offizielle Ablehnung am längsten. Kafka galt als bürgerlich, dekadent und pessimistisch und dazu unausgesprochen wohl auch als politisch gefährlich, wegen der Ähnlichkleit der von ihm beschriebenen Strukturen zu jenen des Realsozialismus.
Die international besetzte Konferenz auf Schloss Liblice brachte hier einen Wandel und hatte tiefgreifende politische Auswirkungen. Initiator der Konferenz war der Prager Germanistikprofessor und Kafka-Experte Eduard Goldstücker, später Präsident des tschechoslowakischen Schriftstellerverbandes. Goldstücker bat 18 tschechoslowakische und neun ausländische Teilnehmer um Referate. Sowjetische Germanisten waren nicht geladen. Es ging um die Themenschwerpunkte einer Aufwertung von Kafkas Werk aus marxistisch-leninistischer Sicht und um die Einbindung Kafkas ins deutsch-jüdische Prag und die tschechische Kulturtradition.
Ein wesentlicher Diskussionspunkt war die Frage der durch Kafka thematisierten Entfremdung. Die sechs DDR-Teilnehmer, darunter Werner Mittenzwei und Anna Seghers, sahen das Phänomen der Entfremdung historisch auf die bürgerliche Gesellschaft beschränkt. Mittenzwei, Paul Reimann, und der Kafka-Experte Klaus Hermsdorf betonten, dass Kafka die Kapitulation und die unüberwindbare Entfremdung des Menschen verkörpere, und somit „nichts mehr zur Entwicklung des Sozialismus beitragen“ könne. Eduard Goldstücker stellte dem gegenüber fest, dass die in Kafkas Werken beschriebene Entfremdung nicht auf kapitalistische Gesellschaften beschränkt sei, sondern „in Zeiten des Übergangs zum Sozialismus“ noch viel intensiver sein könne. [1] Undogmatisch äußerten sich auch Roger Garaudy und der österreichische Schriftstellers Ernst Fischer. Kafkas Aktualität resultiere aus der realen Alltagserfahrung einer entfremdeten Gesellschaft. Die Wirklichkeit durch Ideologie zu ersetzen und Kafka mit seiner „Darstellung der Widersprüche des Lebens“ zu negieren sei unmarxistisch. Goldstücker meinte, Kafka führe seine Leser zwar bis an den Rand des Nihilismus, öffne aber gleichzeitig ein „Fensterchen der Hoffnung“. Ernst Fischer prägte den Satz: „Kafka bedeutet den Kampf gegen Dogmatismus und Bürokratismus und gleichzeitig den Kampf für soziale Demokratie, Initiative und Verantwortung“.[1] Auch die Dekadenzfrage wurde ausführlich erörtert.
Die Kafka-Konferenz von Liblice hatte bedeutende Auswirkungen auf die intellektuellen Debatten in der CSSR, der DDR und der Sowjetunion. Sie wurde zum Auftakt einer kurzen Periode des geistigen und gesellschaftlichen Aufbruchs, die im August 1968 mit dem Einmarsch der Truppen der Warschauer-Pakt-Staaten in die Tschechoslowakei ihr Ende fand.
Verweise
Literatur
- Vladimir V. Kusin: The Intellectual Origins of the Prague Spring: The Development of Reformist Ideas in Czechoslovakia 1956-1967, Cambridge University Press, 2002
Konferenzberichte
- Franz Kafka aus Prager Sicht, 1966 Voltaire Verlag, 1966 redigiert von Eduard Goldstücker, František Kautmann, Paul Reimann und Leoš Houska (Kurzfassung aus dem Tschechischen, Academia Verlag, Prag, 1965)
- Tance kolem Kafky [Tänze um Kafka], Erinnerungen und Dokumente von Alexej Kusák, ISBN 80-7304-038-7
Einzelnachweise
- ↑ a b Susanne Götze, Ein Fensterchen Hoffnung. Kafka Rezeptionen im Umfeld des Prager Frühlings, online: linksnet.de, abgerufen 19.07.2009